Kapitel 4
Hermanus zeigte auf eine Ansammlung von Bäumen. Die Blicke seiner Schützlinge folgten seiner Geste. Seit eine Grenzwache von dem Mädchen berichtet hatte, verfolgte er es mit der Gruppe Neuanwärter, die ihm unterstellt waren. Einer entflohenen Sklavin nachzustellen, die aus einem benachbarten Reich stammte, brachte Vorteile mit sich. Sie kannte sich einerseits nicht im Gelände aus, andererseits hatte sie keine Vorstellung davon, wer ihre Gegner waren. Das verschaffte ihm genügend Zeit, seinen Schülern etwas beizubringen, bevor er die junge Frau einfing.
„Ich höre ihren Herzschlag", wisperte einer, Romanu.
Hermanus nickte ihm aufmunternd zu. Der Mann stammte aus einem anderen Land, war von seinem König zum Fürsten dieses Herrschaftsgebiets geschickt worden, um seine Ausbildung zu erweitern. Keine unübliche Praxis zwischen befreundeten Herrschern. „Was nimmst du noch wahr?"
„Sie scheint erschöpft zu sein und dennoch auf der Hut." Romanu zog die Stirn kraus. „Ihr Puls ist schwach und gleichzeitig unregelmäßig. Als ob sie fürchtet, entdeckt zu werden. Sollten wir sie nicht lieber fangen, damit sie sich nicht verletzt?"
„Nein. Sie hat bisher gezeigt, dass sie umsichtig ist. Vielleicht überrascht sie euch noch mit ihrem weiteren Verhalten." Er überlegte einen Moment. „Wir sollten ihr allerdings zeigen, dass sie verfolgt wird. Macht Geräusche, treibt sie Richtung Schlucht. Ich möchte sehen, wie sie versucht, der misslichen Lage zu entkommen."
Am Ende würden sie das Mädchen zu ihrem Fürsten bringen. Wer einmal in Unfreiheit gelebt hatte und dieser entfloh, galt als vogelfrei. Eine gängige Praxis vieler Herrscher war es, die geflohenen und gestellten Sklaven für ihre Flucht auszupeitschen. Sein König war da keine Ausnahme. Es gab viele Wege, die Leibeigenen zum Gehorsam zu zwingen. Die Peitsche war nur ein Mittel. Bei Frauen reichte es oft, sie einzusperren, sie ihrer sozialen Kontakte zu berauben. Wer klug war, gehorchte und diente, ohne Probleme zu verursachen. Sie fügten sich, ohne eine Flucht in Betracht zu ziehen. Diese Sklavin dagegen würde Scherereien bringen.
Kurz zuckten seine Mundwinkel. Das Mädchen hatte eine letzte Chance, ihnen zu entkommen. Aus der Schlucht gab es einen Weg hinaus, wenn man leicht und flink war. Seine Schützlinge wussten nichts davon. Sie erwarteten, die Beute in eine Falle zu jagen, aus der es kein Entrinnen gab. Doch schaffte die Kleine es, hinaufzuklettern, waren ihre Verfolger dazu gezwungen, einen Umweg zu gehen. Das verschaffte ihr Zeit, gab ihr eine Möglichkeit, sich vor ihnen zu verbergen oder ihnen sogar zu entkommen. Sie war nicht dumm, bewegte sich für einen Menschen viel zu sicher durch ihr unbekanntes Gelände. Eine Ahnung beschlich ihn. Seine innere Stimme wisperte ihm zu, was das Mädchen in Wirklichkeit war. Erwies sich sein Bauchgefühl als richtig, war es besser für die Kleine, ihnen und anderen ihrer Art zu entrinnen. Doch das lag einzig an ihrem Können und Wissen, nicht in seiner Hand.
Der Vampir sah zu, wie einige seiner Schützlinge dichter an das Versteck der entflohenen Sklavin heranschlichen. Er bemerkte ebenfalls, wie Romanu sich dabei verspannte und seinen Begleitern einen finsteren Blick zuwarf, als er sich unbeobachtet fühlte. Der junge Mann war Menschen gegenüber freundlicher aufgeschlossen. Ob es an seinem Charakter oder der Haltung seines Fürsten lag, wusste Hermanus nicht. Doch einer Sache war er sich schmerzlich bewusst. Fingen sie das Mädchen ein, würde er es ständig im Auge behalten müssen und nicht jedem erlauben, sich der Kleinen zu nähern. Wenn seine Vermutung stimmte, war es besser, sie von allem abzuschirmen. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. Die Situation, in der er sich befand, gefiel ihm nicht im Geringsten.
Ein Stück Holz knackte. Hermanus sah zu Romano, der einen zerbrochenen Zweig achtlos auf den Boden warf. Ein anderer seiner Schützlinge strich über die Blätter eines Busches, sodass es unnatürlich laut raschelte. Dem Mädchen sollte nun bewusst sein, dass es nicht mehr allein in diesem Teil des Waldes war. Der Vampir duckte sich hinter einen Baum. Seine Begleiter verschwanden ebenfalls in den Schatten, damit die Kleine nicht sofort erkannte, wer ihr folgte, sondern rein von den Geräuschen zur Schlucht getrieben wurde.
Ihr Herzschlag, der zuvor schon unregelmäßig war, stolperte aus dem Takt. Das Mädchen sprang aus ihrem Versteck auf. Doch statt sofort loszustürmen, schien es auf weitere Laute zu warten. Romanu stampfte mit der Hacke seines Stiefels auf eine Baumwurzel. Dumpf hallte es zwischen den Bäumen wider.
Gleich darauf vernahm Hermanus das sachte Aufsetzen nackter Füße auf dem Waldboden. Er verzog mürrisch das Gesicht. Ohne Schuhe war die Verletzungsgefahr in der Schlucht hoch. Die Kleine würde sich die Fußsohlen an den scharfen Steinen aufreißen oder sich einen Knöchel brechen. Doch abblasen konnte er die Verfolgung nicht mehr. Seine Schüler hielten sich an die Regeln ihres Herrschers. Eine Sklavin entkommen zu lassen, ohne jeglichen Versuch sie zu fangen, würde sie alle in Probleme bringen. Erfuhr sein Oberhaupt, dass er absichtlich versagt hatte, wäre eine Degradierung das kleinste Übel. Widerwillig gab er seinen Schützlingen das Zeichen, dem Mädchen zu folgen.
An Bäumen und Sträuchern vorbei, immer wieder Deckung suchend, mit den Schatten verschmelzend folgten sie der Kleinen, die behände über Stock und Stein sprang. Wie ein Reh vor dem Wolfsrudel flüchtete, lief sie vor ihnen weg. Doch genau wie das Wild nicht den Wolfszähnen entkam, würde sie ihnen nicht entrinnen. Die Auszubildenden brannten viel zu sehr darauf, sie einzufangen.
Hermanus ließ seinen Blick über die jungen Männer schweifen. Romanu achtete darauf, dem Mädchen am nächsten zu sein. Dicht gefolgt von Fabiu und Razvan. Er runzelte die Stirn. Vor allem Letzterer bereitete ihm Sorge. Eher grobschlächtig, dazu der Auffassung, dass Menschen nur durch schwere körperliche Strafen dazu bereit waren, Vampiren treu zu dienen, gehörte er nicht zu den Männern, denen die Kleine in die Hände fallen sollte.
Das Mädchen. Am Vortag hatte sie sich bei ihrer Flucht am Fuß verletzt und ihn danach bis zum Abend im frischen Wasser eines Baches gekühlt, damit die Schwellung abklang. Eine einfache Verstauchung, dennoch hatte es ihn überrascht, dass sie am Morgen weitergezogen war. Ohne zu humpeln. Ein weiteres Anzeichen, dass sie kein gewöhnlicher Mensch war. Die Heilungskräfte ihres Körpers kamen denen eines Vampires gleich. Seine Schützlinge hatten dieser Tatsache keine Beachtung geschenkt. Zu wenig beschäftigten sie sich mit anderen Spezies, um die feinen Unterschiede zu kennen. Einzig Fabiu hatte ihm einen wissenden Blick zugeworfen, doch dieser würde nichts verraten. Im Gegenteil, er würde die Kleine beschützen, wenn sie es nicht schaffte, ihnen zu entkommen.
Hermanus grinste breit. Der Sklavenhändler hatte nicht erfreut reagiert, als er gefesselt aufgewacht war. Sämtliche Schuld hatte er auf das Mädchen geschoben. Gesagt, dass sie ihn bestohlen hatte. Seine Lügen hatten ihm nicht geholfen. Längst war er auf dem Weg zum König, der über ihn urteilen würde. Für versuchte Vergewaltigung eines halben Kindes gab es nur eine Strafe. Der Mann würde nie mehr in Freiheit wandeln.
Der Boden unter seinen Stiefeln knirschte. Sie hatten den Wald hinter sich gelassen. Im Ödland vor der Schlucht gab es kaum noch Plätze, an denen man in Deckung gehen konnte. Nur wenige verdorrte Bäume und einzelne Felsen standen und lagen auf dem Gelände verstreut.
Ein spitzer Schrei zerriss die Stille. Das Mädchen hatte ihre Verfolger bemerkt und verdoppelte ihre Anstrengungen. Sie hielt geradewegs auf den Eingang der Talenge zu, getrieben von den jungen Vampiren, die ein Ausbrechen nach rechts oder links verhinderten. Sie huschte an den schroffen Felswänden vorbei ins Innere der Schlucht. Die Männer folgten ihr hinein, wohl wissend, dass es kein Entkommen gab. Am Ende warteten nur steinige Wände, an denen man nicht hinaufklettern konnte. Das hielt die Kleine nicht davon ab, auf den einzigen verdorrten Baum, der noch nicht unter dem Einfluss von Wind und Wetter zusammengebrochen war, zuzustürmen. Sie sprang über Felsbrocken und zersplitterte Baumstumpen. Einmal verlor sie den Halt, ruderte wild mit den Armen, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, und lief langsamer weiter. Ein kaum merkbares Humpeln, das man leicht übersah, schlich sich in ihren Bewegungsablauf.
Hermanus richtete an der Stelle, wo sie fast gestürzt war, den Blick auf den Boden. Blut, das der sandige Untergrund gierig aufsog. Weitere blutige Spuren, die den Männern den Weg gewiesen hätten, wäre ihnen die Sicht auf die Fliehende versperrt. Der Vampir seufzte. Jetzt hatte sich die Kleine doch verletzt. Er verfluchte innerlich seine Idee, sie bis hierher zu treiben. Es war töricht von ihm gewesen, darauf zu hoffen, dass sie ihnen entging. Er gab seinen Schützlingen das Zeichen zum Halten. Das Mädchen in den Tod zu hetzen missfiel ihm. Er sah zu, wie sie auf den einzigen Baum zuhielt, der am Rand der Felswand hinauf ragte. Die Blätter vor vielen Jahren abgeworfen, um einer Dürreperiode zu trotzen, hielt das Holz stand. An seinem Fuße angekommen, sah sie nach oben.
Der Mann stellte sich schmunzelnd ihren kalkulierenden Blick vor. Sie war schmächtig genug, dass die ausgetrockneten Äste ihr Gewicht trugen. Würde sie es wagen? Das ausgemergelte Holzgerippe bot die einzige Möglichkeit, ihren Verfolgern zu entkommen. Sie schien zu derselben Schlussfolgerung zu kommen, denn sie fing an, mit Bedacht hinaufzuklettern. Instinktiv oder mit kühlem Kalkül, wählte sie den Weg in die Freiheit und fegte seine letzten Zweifel über ihre Herkunft hinfort.
Sehr gut, Kleines. Nur noch ein Stück weiter, dann bist du frei. Vorsicht, der würde nachgeben. Wenn seine Gedanken sie doch nur leiten könnten! So blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr atemlos zuzusehen. Von seinen Begleitern rührte sich ebenfalls niemand. Alle beobachteten stumm ihren Fluchtversuch.
„Da schafft es keiner von uns hinauf. Der Baum würde niemals das Gewicht von einem von uns tragen." Einer seiner Schützlinge schüttelte enttäuscht den Kopf.
„Ganz schön gelenkig, die Kleine." Ein weiterer Neuanwärter musterte das Mädchen, wie es sich von Ast zu Ast hangelte.
Hermanus stellte zufrieden fest, dass sie gewandt genug war, um ihnen zu entkommen. Erleichterung machte sich in seiner Brust breit. Die junge Frau gehörte nicht in die Gefangenschaft seiner Zunft. Ein Leben in Unterdrückung, gezeichnet von einem niemals endenden Leid.
„Gleich ist sie oben", wisperte Romanu voller Bewunderung.
„Nicht, wenn ich es verhindern kann." Razvan zog seine Axt aus dem Gürtel und warf sie auf den Baum und das Mädchen zu. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Angespannte Stille, bis mehrere Dinge gleichzeitig passierten.
*****
Da sind sie dann, die Spitzzähne. Was ist euer erster Eindruck?
Wird sie es schaffen, den Männern zu entkommen? Was wird eurer Meinung nach als nächstes passieren?
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