Kapitel 35


Romanu starrte angewidert den Palast an, dem sie sich näherten. In dieser Abscheulichkeit sollten sie einen Monat ausharren? Mit diesen protzigen vergoldeten Dächern auf den lächerlichen Türmchen, die einzig zur Zierde erbaut worden waren und keinen erkennbaren Nutzen hatten? Eine Verschwendung von Material und Arbeitskraft. Er schnaubte irritiert. Vier Wochen würde er es sich nicht anmerken lassen dürfen, wie sehr er diesen Ort und die Bewohner verachtete. Er seufzte. Bei Sina im Wald zu bleiben, wäre die angenehmere Alternative gewesen. Er schloss die Augen, holte sich noch einmal den Augenblick ins Gedächtnis, als er Abschied von ihr nahm. Beide hatten sie den Moment hinausgezögert, eng aneinandergeschmiegt dagestanden. Bis sie sich schließlich seufzend von ihm gelöst hatte und hinter der ersten Reihe Bäume verschwunden war. Wie sollte er die nächsten Wochen ohne Sina an seiner Seite aushalten?

Sein Blick schwenkte auf einen kleinen Trupp berittener Männer. Der Kleidung nach Vampire, die gen Südwesten ritten. Weg von der architektonischen Monstrosität, die sich Herrschaftssitz nannte. Romanu zügelte seinen Hengst, schaute sehnsüchtig der Garde hinterher. Ob Sinas Dorf in der Richtung lag? Versteckt in den Wäldern? Vorläufig würde er es mit Sicherheit nicht erfahren. Es juckte ihm in den Fingern, seinem Hengst die Fersen in die Seiten zu pressen und dem Wachtrupp zu folgen. Frei von den Zwängen, denen er sich als Prinz zu unterwerfen hatte. Doch dann enttäuschte er seine Eltern, allen voran seine Mutter, die auf ein gepflegtes Erscheinungsbild und höfliches Auftreten einen hohen Stellenwert legte. Er konnte es ja nachvollziehen. Ein kluger Herrscher zeigte sich in Gesellschaft nur von seiner besten Seite. Impulsives Handeln wurde argwöhnisch betrachtet. Dennoch wäre er jetzt lieber bei Sina. Was hatte sie nur so Wichtiges zu erledigen? Dass sie niemals das Kind zurücklassen würde, war ihm bewusst. Doch warum hatte sie es nicht einfach geholt, während er auf ihre Rückkehr wartete? So wie er es ihr vorgeschlagen hatte.

Er schaute zu, wie die Reiter in der Ferne immer kleiner wurden, seufzte dann leise und trieb seinen Hengst hinter der Kutsche her, die unaufhaltsam auf den Palast des Mannes zuratterte, der Sina hatte versklaven wollen. Ein tiefes, grollendes Knurren vibrierte in seinem Innern und drohte auszubrechen wie ein nach Blut dürstendes Raubtier, das seiner Freiheit beraubt worden war und seinen Wärtern zürnte. Den Mann wollte er sehen, der es wagte, sich an jungen Mädchen zu vergehen. Menschen waren ihm manchmal zuwider. So wie Vertreter seiner Spezies, wenn sie Unschuldige quälten und sich an deren Furcht labten. Wie Cyrus, dem er bei den Feierlichkeiten begegnen würde.

Romanus Laune sank noch weiter ab, wenn das überhaupt möglich war. Er lenkte den Blick auf die Ohren seines Hengstes, die aufmerksam nach vorn gerichtet waren. Das Tier drehte sie hin und her, schien etwas zu lauschen. Voller Neugierde, keine Anspannung. Jemand Bekanntes? Romanu richtete sich im Sattel auf, konzentrierte sich auf die Stimmen, die der Wind zu ihnen herüberwehte. Unverkennbar. Er trieb sein Pferd an der Kutsche vorbei und galoppierte auf den Hof des Palastes zu. Dort zügelte er es und sprang ab. Erwartungsvoll sah er sich um. Wo war er?

Ein älterer Vampir löste sich aus einer Gruppe junger Männer, mit denen er zuvor etwas diskutiert hatte. Gardesoldaten eines Königs, den Romanu verabscheute. Doch seinen ehemaligen Ausbilder begrüßte er freudig. „Hermanus, es tut gut, dich wohlbehalten wiederzusehen." Ein Teil der Anspannung fiel von ihm ab. Zumindest ein bekanntes Gesicht, wenn er dem Trubel der nächsten Wochen zwischenzeitlich entkommen wollte.

„Die Freude ist ganz meinerseits." Der Vampir heftete erwartungsvoll den Blick auf die Kutsche, die gerade anhielt. Als nur Romanus Eltern ausstiegen, wandte er sich ihm wieder zu. Ein Schatten lag kurz auf seinem Gesicht. „Wo ist Sina?"

„Ich habe sie damals freigelassen, so wie man es mir aufgetragen hatte." Sein Inneres zog sich bei der Erinnerung krampfhaft zusammen. Obwohl er es nach wie vor für die richtige Entscheidung hielt, ihr die Freiheit zu schenken, hatte er sie schmerzhaft vermisst und durch sein passives Verhalten sie einer unsäglichen Gefahr ausgeliefert. So wie jetzt auch wieder. Er lernte nie dazu! Missmutig starrte er auf den Boden. Er könnte sich ohrfeigen, doch das brachte ihn auch nicht schneller zu ihr.

„Du hast sie freigelassen." Hermanus ließ sich jedes Wort einzeln auf der Zunge zergehen. Andächtig nickte er. „Das hatte ich nicht erwartet. Ihr hingt sehr aneinander. Ich erinnere mich daran, wie du selbst mich angeknurrt hast, wenn ich ihr deiner Meinung nach zu nahe kam. Oder daran, wie gern du Cyrus und seinen Vater für ihr Verhalten in der Luft zerreißen wolltest."

„Wie kommt es, dass du noch immer für den alten Bastard arbeitest?", lenkte Romanu sich von dem Aufruhr, der wie ein Orkan in seinem Innern tobte, ab. Es wäre eine Leichtigkeit, in den Sattel zu springen, und sich auf die Suche nach Sina zu begeben. Nur würde seine Mutter ihm das nie verzeihen. Sie hatte dieser Feier seit zwei Jahren entgegengefiebert. Stolz, ihren Sohn endlich der Öffentlichkeit vorstellen zu können. Der Thronfolger, der wie sein Vater gütig das Reich am Meer regieren würde. Wenn es nach Romanu ging, konnte die Übertragung der Regierungsgeschäfte noch einige Jahre warten.

„Nach den Feierlichkeiten steht es Fabiu und mir frei, dorthin zu ziehen, wohin wir wollen. Endlich", fügte Hermanus nach einer kurzen Pause hinzu. Erleichterung schwang in seinen Worten mit.

Romanu ahnte, wie anstrengend die Monate auf der Burg für die zwei Männer gewesen waren. Der König und sein Sohn waren nie mit etwas zufrieden. „Es würde mich freuen, wenn ihr euch dazu entscheiden würdet, an meinem Hof zu dienen", beeilte er sich zu sagen. Gute Freunde im Dienst seiner Familie waren ein Gewinn für sein Land, für ihn. „Meine Gefährtin würde sich sicherlich ebenfalls darüber freuen." Er sah sich um. „Wo ist Fabiu eigentlich?"

„Auf Patrouille. König Ragnar bat darum, eine Gruppe Vampire auszuschicken, damit sie einige Widerständler in den Wäldern aufspüren. Wie es scheint, plant eine geringe Anzahl seiner Untertanen, ihn zu stürzen. Eine Furcht, die mein Fürst nachvollziehen kann."

„Könnte daran liegen, dass er seine Untertanen wie Dreck behandelt", murmelte Romanu. Der Hass auf die Männer, die es genossen, Menschen zu quälen, loderte erneut auf.

„Welchen von den zweien meinst du? Sind ja beide nicht gerade für ihren fürsorglichen Umgang mit Untergebenen bekannt." Hermanus verengte die Augen. „Du erwähntest gerade deine Gefährtin. Hast du sie nicht mitgebracht?"

„Sina hat noch etwas zu erledigen." Romanu schmunzelte, als er den verwirrten Blick seines ehemaligen Ausbilders bemerkte. „Sie kam zu mir, als wir lagerten. Hat sich abends ins Lager geschlichen und ist meinem Vater in die Arme gelaufen. Er hat ihr den Weg zu meinem Zelt gewiesen. Leider habe ich es nicht geschafft, sie davon zu überzeugen, mit mir zu kommen. Auf der Rückreise werden wir einander wiedersehen und kommt sie mit mir."

„Ich verstehe." Ein Lächeln huschte über das Gesicht des älteren Vampirs. „Ich werde mich euch gern nach den Feierlichkeiten anschließen und mein Sohn ebenfalls."

„Das freut mich zu hören." Romanu warf einen Blick über die Schulter, dann auf seinen Hengst, der mit dem Vorderhuf scharrte. „Kannst du dich bitte um ihn kümmern? Meine Eltern erwarten mich."

„Dachte mir schon, dass du seine Versorgung keinem Fremden überlassen würdest." Hermanus nahm ihm die Zügel ab und führte das Pferd zu den Stallungen.

Zumindest im Moment eine Sorge weniger. Seufzend wandte Romanu sich ab und lief zur Kutsche, vor der seine Eltern auf ihn warteten. Sein Vater mit dem üblichen stoischen Gesichtsausdruck, während seine Mutter mit einer missbilligend hochgezogenen Braue neben ihm stand. „Danke, dass ihr auf mich gewartet habt. Ich wollte nur meinen Ausbilder begrüßen. Er wird sich uns anschließen, wenn der Monat um ist. Sein Sohn ebenfalls." Voller Genugtuung bemerkte er das Feixen des Königs.

„Wie du siehst, Liebste, kennt unser Sohn die Prioritäten, die ein Herrscher zu setzen hat. Ein schnödes Fest ist nichts im Vergleich zu zwei guten Angestellten." Sein Vater zwinkerte ihm verschmitzt zu. Romanu unterdrückte ein Grinsen. So ließ sich der Monat womöglich doch aushalten.

Kurze Zeit später stellte er fest, wie sehr er sich getäuscht hatte. Cyrus, die miese Ratte, hatte sich an seine Seite gesellt, und erklärte ihm hochtrabend den Palast. Zwischendurch ließ er immer wieder mit einfließen, zu welch einer braven Vampirin seine Schwester sich entwickelt hatte. Romanu verkniff sich jeglichen Kommentar dazu.

„Du langweilst ihn, Bruder." Marina trat hinter einer Säule hervor, als die beiden Männer um eine Ecke bogen. „Er war damals schon nicht an mir interessiert." Sie zuckte mit den Achseln. Romanu musterte sie einen Moment, verzog dabei keine Miene. Die Vampirin war hübsch, daran bestand kein Zweifel. Doch für ihn gab es nur Sina.

„Du könntest dich auch ein wenig mehr anstrengen, Schwester", zischte Cyrus wie eine Giftschlange. „Weder Berok noch Taran konntest du von dir überzeugen. Was ist dein Nutzen, wenn du es nicht einmal schaffst, einen angesehenen Ehemann zu finden?" Er drehte sich um und verschwand. Romanu schaute ihm stirnrunzelnd hinterher.

„Er wird immer unausstehlicher", murmelte Marina. „Hoffentlich finde ich in diesem Jahr bei den Feierlichkeiten einen Gemahl, damit ich die Burg bald verlassen darf." Ihre Miene verfinsterte sich. „Ich wäre ja schon mit einem einfachen Edelmann zufrieden. Hauptsache, ich brauche Cyrus nicht mehr zu sehen." Sie atmete tief durch. „Entschuldige bitte, Romanu, ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belästigen. Richte Sina bitte meine Grüße aus."

Bevor er eine passende Antwort fand, eilte sie davon. Er schloss die Augen, massierte seine Schläfen. Ein leichtes Pochen hatte sich dort ausgebreitet und griff nun weiter auf seinen Kopf über. Behutsam dehnte er die angespannten Muskelstränge in seinem Nacken. Probleme standen ihnen ins Haus. Die Feierlichkeiten würden nicht so friedlich verlaufen wie in den vergangenen Jahren. Davon war er überzeugt. Er konnte den Ärger förmlich riechen. „Wieso bin ich nicht Fabiu gefolgt. Das wäre abwechslungsreicher und entspannter als hier erzwungene Höflichkeiten auszutauschen", brummte er. Das Geräusch von schweren Stiefeln auf Stein ließen ihn herumfahren.

„Jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren." Taran breitete die Arme aus und zog Romanu in eine Umarmung. „Hermanus meinte, wir müssten dich möglicherweise vor Cyrus retten."

„Hat er versucht, dir eine Ehe mit Marina schmackhaft zu machen?" Berok schüttelte sich. „Sie mag zwar seit damals dazugelernt haben – hübsch anzusehen ist sie ebenfalls – aber ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mit Cyrus durch eine Ehe verwandt zu sein."

„Er ist noch größenwahnsinniger als damals", sinnierte Romanu bevor er sich aus der Umarmung freikämpfte. „Hattet ihr noch eine Chance, mit Fabiu zu sprechen? Wieso schickt König Ragnar nicht seine eigenen Truppen, um die Widerständler zur Strecke zu bringen? Das ist doch nicht unser Problem."

„Er macht es sich gerne einfach, meinte mein Vater." Berok schaute sich misstrauisch um, bevor er weitersprach. „Entweder übertreibt er, was die Bedrohung angeht, oder da stimmt etwas nicht. Ich halte es für gewagt, eine solche kleine Gruppe, die sich im Gelände nicht auskennt, loszuschicken."

„Ist niemand von seinen Leuten dabei?" Romanu runzelte die Stirn. Das war in der Tat ungewöhnlich.

„Er bestand darauf, dass nur ein paar Vampire ausreiten. Fabiu wollte nicht, doch Cyrus fand es eine hervorragende Idee, ihn mitzuschicken, weil er ein Heiler ist. An sich ja kein schlechter Plan, aber ..." Taran kratzte sich am Nacken. „Mir gefällt die Sache nicht."

„Wir könnten der Patrouille folgen", schlug Romanu vor.

„Das sollten wir tun, wenn sie nicht in ein paar Tagen zurück sind", stimmte Berok zu. Die drei Männer sahen einander an. Keiner von ihnen vertraute der Sache oder glaubte an ein friedliches Fest. Die Zeichen standen auf Sturm.

*****

Tja, was hat es mit der Patrouille auf sich?

Und ist Cyrus nicht wieder herzallerliebst? Den möchte man doch einfach nur knuddeln.

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