Kapitel 33


König Veli musterte seinen Sohn nachdenklich. Statt sich auf die Festlichkeiten in Ragnars Reich, die einige Wochen andauern würden, zu freuen, wirkte Romanu gedanklich abwesend. Wie immer, wenn jemand erwähnte, dass es für den jungen Vampir an der Zeit war, sich eine Gemahlin auszusuchen. Sein Herz gehörte bereits einer Person. Dem Mädchen, das er während seiner Ausbildung kennengelernt und ihr nach erfolgreichem Abschluss derselben die Freiheit geschenkt hatte. Und es bis zum heutigen Tage zutiefst bereute. Sie musste etwas ganz Besonderes sein, wenn sein Sohn sie dermaßen vermisste.

Seelenverwandtschaft gab es bei Vampiren selten, doch das, was die zwei jungen Wesen miteinander verband, hörte sich in seinen Ohren verdächtig danach an. Er beobachtete weiter, wie Romanu versuchte, seiner Mutter zu entkommen. Veli schmunzelte. Seine Gemahlin, Oksana, meinte es nicht böse, doch verstand er, weshalb seinem Sohn das Thema gegen den Strich ging. Er suchte keine Partnerin. Keine würde es mit dem Mädchen aufnehmen können. Dennoch ließ sich die Teilnahme an den Festlichkeiten nicht vermeiden. Einer alten Tradition gehorchend würde er dort Romanu zum ersten Mal den anderen Herrschern als seinen Sohn und Thronfolger vorstellen.

„Und wenn du dort doch eine hübsche Vampirin siehst, die dir gefällt? Was soll sie denn von dir denken, wenn du keine angemessene Kleidung trägst?", schimpfte Oksana. In der linken Hand hielt sie das typische Outfit eines verwöhnten Prinzen hoch: Rüschenhemd, weiße Hose, rote Weste. Das in der rechten sah kein Stück besser aus, nur dass die Farben andere waren. Veli unterdrückte ein Kichern, tarnte es klugerweise als Hüsteln. Seine Gemahlin war wundervoll. Eine liebevolle Gefährtin und Mutter. Nur ihr Beharren auf gewisse Bräuche stieß weder bei ihm noch bei ihrem gemeinsamen Sohn auf Gegenliebe.

„Die Gardeuniform ist angemessen, Mutter. Wenn ihr mich schon unbedingt mit einer Frau vermählen wollt, die ich nicht liebe, soll sie zumindest gleich wissen, wer vor ihr steht. Kein törichter Prinz, der es nicht gewöhnt ist, mit anzupacken. Ich habe in der Ausbildung genug gelernt, um unsere Garde anzuführen. Dann kann ich auch die Uniform tragen." Romanu wandte sich ab und ließ die Königin stehen. Diese warf ihrem Ehemann einen hilfesuchenden Blick zu. Veli zuckte nur mit den Schultern. Das konnte sie schön selbst mit ihm ausdiskutieren. Sein Sohn würde sich nie für eine Vampirin entscheiden. Was auch immer das Band zwischen ihm und dem Mädchen ausgelöst hatte, es war zu stark. Eine andere Gefährtin würde ihn nur unglücklich machen.

Der König ließ den Raum hinter sich und folgte Romanu nach draußen. Wie üblich zog es seinen Sohn in den Stall, wo er seinen Hengst striegelte. „Deine Mutter meint es nicht böse."

„Ich weiß. Ich kann Sina einfach nicht vergessen." Der Prinz seufzte und fuhr seinem Pferd mit der Hand durch die Mähne. Gedankenverloren entwirrte er die Strähnen.

„Sina also." Veli strich sich über seinen Bart. „Du hast mir nie zuvor ihren Namen verraten."

„Ich wollte sie schützen. Ich dachte, wenn du ihren Namen kennst ..." Er brach ab, seine Miene verschlossen. In seinen Augen glitzerte es verräterisch.

„Du dachtest, ich würde sie suchen lassen, weil du dich mit ihr verbunden fühlst. Ist es nicht so, mein Sohn?" Der König erhielt nur ein Seufzen zur Antwort. „Ich erwarte nicht von dir, dass du dir auf der Feier eine Gefährtin suchst, mein Sohn." Veli lehnte sich an die Holzwand, die die Box von der nächsten trennte.

„Was erwartest du dann von mir, Vater?" Romanu wandte sich von seinem Hengst ab, sah den König unverwandt an. Unsicherheit schimmerte in seinen Augen. Für einen Moment war er wieder der kleine Junge, der sich vor den Vedma fürchtete. Der sich unter dem Bett oder in einem Schrank versteckte, damit ihn die Schrecken seiner Träume nicht aufspürten. Das sensible Kind, das einige Jahre später immer wieder im Stall auf den Heuboden kletterte, um sich davon zu überzeugen, dass es den Welpen der Stallkatzen an nichts fehlte. Das noch etwas später ein schwächliches Fohlen mit der Flasche aufzog, weil die Mutterstute zu wenig Milch produzierte, sowohl die Katzen als das Pferd waren ihm treu ergeben. Würde es auch so bei dem Mädchen sein?

Veli kratzte sich am Nacken. Ein Gedanke nahm langsam Form an. „Ich erwarte von dir, dass du Sina suchst, wenn wir zu König Ragnar reisen. Du erwähntest, dass du sie bei jedem Fluchtversuch entdeckt hast. Dann wirst du sie auch jetzt aufspüren."

„Nein Vater, das kannst du nicht von mir verlangen!" Romano sah ihn voller Panik an. Seine Unterlippe zitterte. „Alles, aber zwinge mich nicht dazu."

„Du willst sie nicht suchen, obwohl du dich nach ihr sehnst", stellte der König in ruhigem Tonfall fest. Er beobachtete wie sein Sohn nach Fassung rang und schnell über seine Lippen benetzte. Es führte Veli abermals vor Augen, wie wichtig dem jungen Vampir das Mädchen war. Ein weiterer Beweis für seine Theorie.

„Sie soll ihr Leben in Freiheit genießen. Ich vermisse sie, ja." Romanu schüttelte den Kopf. Bedauernd, wie es schien. „Aber ich würde sie niemals zwingen, an meiner Seite zu leben. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, Vater. Ich würde gerne heute noch einmal ausreiten, bevor wir uns morgen auf die Reise machen." Er führte seinen Hengst in die Stallgasse und sattelte das Tier, das ihn vertrauensvoll mit dem Maul anstieß. Das schwächliche Fohlen war zu einem prächtigen Pferd herangewachsen. Traf das ebenso auf das Menschenkind zu?

Veli schaute dem Paar nachdenklich hinterher, als sie wenig später vom Hof trabten. Sie mussten das Mädchen unbedingt aufspüren. Das Wohlbefinden seines Sohnes hing davon ab.

*****

Wenige Tage später überquerte die Kutsche, in der der König und seine Gemahlin saßen, die Grenze zum Nachbarreich. Das Meer und die salzige Brise lagen weit hinter ihnen. Sie wurden abgelöst von der würzigen Luft der Nadelwälder, die zu beiden Seiten der unbefestigten Straße wuchsen. Veli ertappte sich dabei, seinen Sohn, der neben der königlichen Kutsche her ritt, zu beneiden. Noch genoss Romanu Freiheiten, die ihm selbst verwehrt waren. Zu reiten galt für einen Herrscher nicht adäquat. Außerdem war die Gefahr, bei einem Angriff verletzt zu werden, auf dem Pferderücken größer als hinter den hölzernen Kutschwänden. Dennoch genoss er es, seinen Jungen dabei zuzusehen, wie er die Garde anführte. Der Hauptmann hatte wegen persönlicher Gründe nicht an der Reise teilnehmen können und würde stattdessen Velis Stellvertreter unterstützen.

„Ich kann nicht glauben, dass du seinem Dickkopf wieder nachgegeben hast." Oksana verschränkte die Arme vor ihrer üppigen Brust. Ein Anblick, der sein Blut in Wallung brachte. Als langlebige Spezies hatten sie mit einem zweiten Kind gewartet, bis Romanu erwachsen war. Auch, damit ihm ein jüngerer Bruder nicht den Thron streitig machte, wie es zuweilen bei anderen Königshäusern passierte. Doch jetzt hätte er genügend Zeit, um sich um ein kleines Kind zu kümmern. Bevorzugt ein Mädchen, das er nach Strich und Faden verwöhnte, während sein Sohn einen Teil der Regierungsgeschäfte übernahm. Eine überaus verlockende Idee. Ein Räuspern lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf seine Gemahlin. „Hörst du mir überhaupt zu?"

„Ich dachte gerade daran, wie wir ab jetzt unsere Nächte verbringen können, Liebste." Er fasste ihre Hand und malte mit dem Daumen Kreise auf ihren Handrücken. „Wozu Romanu jetzt unter Druck setzen, wenn wir selbst für weiteren Nachwuchs sorgen können."

„Du alter Halunke." Oksana seufzte. „Meinst du, ich setze unseren Jungen zu sehr unter Druck? Ich möchte doch nur, dass er wieder glücklich ist."

„Er kann das Mädchen nicht vergessen, dem er die Freiheit geschenkt hat. Sie stammt aus König Ragnars Land. Ich glaube," er tippte sich ans Kinn, „nein, ich bin überzeugt davon, dass wir sie durch einen glücklichen Zufall treffen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nur unser Sohn sie vermisst und sie ihn nicht."

„Sina, nicht wahr?" Auf Velis Nicken hin fuhr sie fort. „Ich würde zu gern das Mädchen kennenlernen, das es geschafft hat, meinem Jungen so den Kopf zu verdrehen. Sie muss etwas ganz Besonderes sein."

„Davon gehe ich ebenfalls aus." Er lehnte sich zurück, hielt weiterhin die Hand seiner Gemahlin fest. „Wir werden sehen, ob das Schicksal die beiden wieder zusammenführt. Ansonsten hätte ich nichts dagegen, ein wenig nachzuhelfen."

„Wir wissen doch gar nicht, wo sie lebt." Oksana lehnte sich an seine Seite.

Veli atmete ihren betörenden Geruch ein. Sie gehörte zu ihm, so wie das Mädchen zu seinem Sohn gehörte.

Am Abend lagerten sie auf einer kleinen Lichtung im Wald. Der König vergewisserte sich bei Einbruch der Dunkelheit persönlich davon, dass die Wachposten auf ihren Plätzen standen. Romanu hatte sich, nachdem er den Aufbau des Lagers überwacht und die Wachen eingeteilt hatte, bereits in sein Zelt zurückgezogen und hatte sich schlafengelegt.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen Schatten, der zum Nachtlager seines Sohnes huschte. Ein fremder Herzschlag pochte vor Aufregung schnell. Angst nahm der König keine wahr. Veli gab einem Wachposten ein Zeichen, sich dem Eindringling zu nähern. Selbst nutzte er die sich ausbreitende Dunkelheit, um sich ebenfalls heranzuschleichen. Bevor die Person das Zelt betreten konnte, packte er sie am Arm. Eine junge Frau, der der Schreck über ihre Entdeckung ins Gesicht geschrieben stand. Er musterte sie kurz. Ein hübsches Mädchen, das gehorsam den Blick senkte, statt ihn angsterfüllt anzustarren.

Er führte sie ein wenig von dem Zelt weg und wies erwartungsvoll auf einen kleinen Holztisch. Ohne zu zögern kam sie seiner stummen Aufforderung nach und legte zwei Messer auf die Tischplatte. „Du bist Sina", sprach er seine Gedanken mit gedämpfter Stimme aus. Die junge Frau nickte, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr Herzschlag verriet, dass das Wissen um ihre Identität sie beruhigte. „Du willst zu meinem Sohn."

„Wenn ich darf." Ihre Stimme wie das sanfte Glucksen eines Baches. Das sollte das Mädchen sein, dass mehrfach versucht hatte, von der Burg zu fliehen und jedes Mal durch Romanu wieder eingefangen wurde? Sie wirkte erwachsener, als die Erzählungen ihn hatten annehmen lassen. Doch vielleicht lag es auch an dem, was sie nach der Trennung von seinem Sohn erlebt hatte.

„Du darfst zu ihm, wenn du versprichst, ihm nichts Böses zu wollen." Eine reine Formalität, denn sie erweckte nicht den Anschein, auf sein Blut aus zu sein.

„Ich würde ihm nie etwas antun", erwiderte sie entrüstet. Sie hob den Blick, hielt seinem ohne Mühe stand. Die Bestätigung seiner Annahme.

Zufrieden lächelte er. Wie er erwartet hatte. „Dann geh zu ihm." Er ließ sie los und schaute ihr hinterher, wie sie leichtfüßig zum Zelteingang lief und ins Zeltinnere schlüpfte. Der König nahm eines der Messer, die das Mädchen auf den Tisch gelegt hatte, in die Hand. Die Klinge eines Vampirs. Im Schein einer Laterne, die einer der Wachposten ihm gebracht hatte. Ein Name war eingraviert. Razvan. Der Verräter, der den Neffen eines befreundeten Herrschers mit einigen Spießgesellen hatte entführen wollen. Der Vampir, den das Mädchen getötet hatte, bevor es sich um seinen Sohn kümmerte, um ihm das Leben zu retten.

Beruhigt legte er die Waffe wieder hin. Es würde ein Leichtes werden, die junge Frau davon zu überzeugen, mit ihnen zu kommen. Sie liebte Romanu genauso, wie er sie liebte. Seelengefährten, die sich nach einander verzehrten obwohl sie unterschiedlichen Spezies angehörten. Eine Vedma, die sich freiwillig an einen Vampir band. Es wurde Zeit, dass er seinem Sohn mehr über seine Herkunft verriet. Er hatte es lange genug für sich behalten.

*****

Was ist denn Euer erster Eindruck von Romanus Vater?

Nur was meint er damit, dass er Romanu mehr über seine Herkunft verraten muss?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top