Kapitel 30
„Geh jetzt." Romanu stellte einen Fuß auf den Grenzstein, der sein Reich von dem Land trennte, in dem Sina lebte. Die endlose Graslandschaft, auf der sie standen, wurde zur rechten Seite von naturbelassenen Wäldern eingegrenzt. Kein Mensch wagte es, dort Bäume zu fällen, und den Vampiren war es zu weit von ihren Städten entfernt. Es wimmelte zwischen den Stämmen und unter dem Gestrüpp nur vor Leben. Rascheln kleiner Tiere, die durch das Unterholz huschten. Das Fiepen einer Maus, auf dem Weg zu ihrem Versteck. Vielfältiges Gezwitscher unterschiedlicher Vögel, die von einem Zweig zum nächsten hüpften. Die Anspannung der vergangenen Tage fiel von ihm ab. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich wirklich frei, ohne das Gefühl zu haben, ständig die Umgebung im Auge behalten zu müssen. So wie er es seit dem Gespräch mit Taran getan hatte. Seitdem er wusste, dass der Freund in Gefahr war.
Romanu atmete tief ein, ließ den Blick über das Gelände vor ihnen schweifen. Geradeaus, einige Meilen hinter der Landesgrenze, erhob sich eine Hügelkette. Weiter im Osten führte ein breiter Weg hindurch, doch hier waren die Hügel an den meisten Stellen so dicht bewachsen, dass man weder mit einer Kutsche noch beritten hinüberkam. Zu Fuß würde Sina keine Schwierigkeiten haben, sich abseits der Wege bis zu ihrem Dorf durchzuschlagen. Diese Einöde garantierte ihr, dass sie nicht erneut den Wachen von König Ragnar in die Hände fiel. Die Männer hielten sich von diesem Gebiet fern. Zu mühsam war es ihnen, die Grenze zu bewachen, und ihr Herrscher verließ sich beim Grenzschutz auf die Vampirkönige, deren Reiche an sein Land grenzten.
Der Gedanke an den Menschenkönig brachte sein Blut zum Kochen. Dieser Mann war kein Stück besser als Cyrus oder dessen Vater. Keinerlei Ehrgefühl besitzend, nutzten sie ihre Untertanen aus. Macht und Reichtum verdarben den Charakter so manches Herrschers. Das war in vergangenen Zeiten so und würde sich auch in Zukunft nie ändern. Umso wichtiger war es, dass er Sina nicht seinen eigenen Willen aufzwang.
Fasziniert beobachtete er, wie Sina sich auf den Aufbruch vorbereitete. Den Kopf hoch erhoben, schien sie wie ein witterndes Reh alle Gerüche der Umgebung in sich aufzunehmen und die möglicherweise lauernden Gefahren abzuschätzen. Mit allen Sinnen greifend, taxierend. Hier gehörte sie her. In die ungezähmte Natur, nicht hinter die dicken Mauern einer Burg oder eines Palastes. Er traf heute die richtige Entscheidung. Lächelnd breitete er die Arme aus. „Eine letzte Umarmung?"
Sie riss sich aus ihrer Starre los und kuschelte sich an ihn. „Ich werde dich vermissen", murmelte sie, den Kopf an seine Brust gedrückt.
„Ich werde dich auch vermissen, Kleines." Ein letztes Mal erlaubte er es sich, das Mädchen festzuhalten, als ob nichts sie jemals voneinander trennen könnte. Dann ließ er sie los. „Es ist Zeit."
„Ich weiß." Sie beugte sich vor, drückte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich umdrehte und auf die Hügel zu rannte. Die sanfte Berührung hinterließ ein schwaches Kribbeln. Wehmütig schaute er Sina hinterher, wie sie den Abstand zwischen ihnen stetig vergrößerte, bis es schließlich sein Herz zerriss. Gequält schrie er auf, seinen Schmerz hinaus in die Welt.
Ein Vogelschwarm stieg aus dem nahen Wald. Aufgeregt suchten die Tiere das Weite. Aufgescheucht durch ihn, seine Verzweiflung. Er ächzte, schwankte wie eine Ähre im Wind. Innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, ihr hinterherzueilen, und der mahnenden Vernunft. Wie Sturzbäche liefen Tränen über sein Gesicht. Schwere Tropfen fielen zu Boden, als ein Schluchzen ihn schüttelte. Kraftlos ließ er sich ins Gras sinken, verfolgte mit Blicken weiterhin, wie Sina sich von ihm entfernte. Bis sie endlich seinem Blickfeld entschwand. Er legte sich auf den Rücken, starrte mit tränenverhangenen Augen zum Himmel. Strahlendes Blau. Keine Wolke am Firmament und doch kam es ihm so vor, als ob ein Sturm aufzog, der ihn vernichten wollte.
Nach einer Weile stand er auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Sehnsüchtig schaute er zur Hügelkette und hoffte, dort einen letzten flüchtigen Blick auf Sina zu erhaschen, doch egal wie sehr er sich anstrengte, das Mädchen blieb verschwunden. Sein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Sie war weg, für immer verloren. Nie wieder würde er sie in seinen Armen halten, sie an sich drücken und ihrer melodischen Stimme lauschen. Warum schmerzte es nur so sehr, die richtige Entscheidung getroffen zu haben? Nur, weil er sich an manchen Tagen eingebildet hatte, sie würde ihm etwas über ihr Zuhause verschweigen? Vermutlich nur, damit sie nicht verriet, wo ihr Dorf lag.
Er wandte sich ab, lief zu den zwei Pferden, die friedlich grasten. Es wurde Zeit, dass er sich losriss und die Sache auf sich beruhen ließ. Ändern konnte er jetzt eh nichts mehr. Besser, er kehrte nach Hause heim und berichtete seinem Vater vom Königshaus, damit niemals ein Bündnis zustande kam. Er saß auf, trieb seinen Hengst von der Grenze weg, die ihn von seinem Mädchen trennte.
Noch ist es nicht zu spät, ihrer Spur zu folgen, flüsterte ihm eine hinterhältige Stimme zu. Vehement schüttelte er den Kopf, ließ sein Pferd in den gestreckten Galopp übergehen. Immer weiter gen Süden ritt er. Dem Gebiet entgegen, wo sich bunte Wiesen und lauschige Wälder abwechselten, bis man die Gebäude der Handelsstadt am Meer erblickte. Weiß getünchte Häuser, rote Ziegeldächer und farbenfrohe Fensterläden, ordentlich aneinandergereiht. Die Straßen breit und sauber. Der Duft der Blumen, die vielfältig die Balkone schmückten, mischte sich mit der salzigen Luft, die eine stetig wehende sanfte Brise aus der Bucht hineintrug. Ein wenig abseits lag der Palast. Die Burg im Landesinneren, die seine Familie einst bewohnt hatte, vor langer Zeit aufgegeben, um der Welt zu demonstrieren, dass ein Zusammenleben von Mensch und Vampir möglich war. Der friedliche Ort, zu dem er Sina gern geführt hätte.
Doch nicht dort hätte er sie gefragt, ob er sie wandeln durfte, damit sie für immer an seiner Seite blieb. Auf der anderen Seite der Stadt, am Leuchtturm, der auf einer Klippe über das Meer ragte und den Schiffen den Weg wies. Seine Großeltern hatten zusammen den Grundstein für den Turm gelegt, das Fundament für eine aufstrebende Herrschaft. So blühend wie die Gärten des Palastes, die sein Großvater für seine Großmutter hatte anlegen lassen.
„Sina würde es dort lieben", murmelte er. Eine einzelne Träne rollte über seine Wange. Der Wind trieb sie weg zur Seite, in seine Haare. Er seufzte, richtete den Blick auf den Horizont. Noch zwei Tage, dann würde er die Sonnenstrahlen auf den Wellen glitzern sehen und das beruhigende Rauschen hören, das ihm in seiner Kindheit jeden Abend ein Schlaflied gesungen hatte. Wie es ihr wohl erging, wenn sie zu Hause ankam? Würde ihre Familie ein großes Fest für sie veranstalten, wenn sie nach einem Jahr Abwesenheit heimkehrte? Hatten die Menschen womöglich längst die Hoffnung aufgegeben, sie wiederzusehen?
Er atmete tief durch. Alles nur Spekulationen, die ihn nicht weiterbrachten, die ihn nur weiter quälten. Er zügelte seinen Hengst, klopfte dem Pferd den verschwitzten Hals. Wie lange hatte er seinen treuen Gefährten zum Äußersten getrieben? Romanu sprang ab, führte das Tier am Zügel. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die Stute, auf der Sina geritten war, bei der Grenze zurückgelassen hatte. Zu viele Gedanken, die ihn ablenkten. Es wurde Zeit, dass er wieder die Kontrolle über sein Leben zurückgewann. Zu lange hatte er sich davon treiben lassen, dass das Mädchen ihn brauchte. Sie war frei, kehrte zu ihren Leuten heim, so wie er zu seiner Familie heimkehrte.
Romanu führte seinen Hengst weiter über die Wiese und kontrollierte immer wieder seine bebenden Flanken. „Tut mir leid, mein Freund. Ich hätte dich nicht so hetzen dürfen." Bald atmete das Tier ruhiger. Dennoch lief der Vampir mit ihm noch ein Stück, bis er das Glucksen eines Baches vernahm. „Na komm, mein Guter. Hier verbringen wir die Nacht." Er sattelte das Pferd ab. Mit einem Büschel Gras rieb er über den Pferderücken, bevor er dem Hengst einen liebevollen Klaps auf die Kruppe gab. „Such dir die schmackhaftesten Halme heraus. Ich werde ebenfalls etwas essen."
Amüsiert über sein Selbstgespräch schüttelte der milde lächelnd den Kopf. Es war ungewohnt, keinen Gesprächspartner mehr zu haben. Im Palast würde sich das schnell ändern. Vielleicht gab sein Vater ihm nun die Möglichkeit, mehr darüber zu lernen, wie man ein Reich führte. Immerhin hatte er die Ausbildung mit Auszeichnung bestanden und es geschafft, dass seine Tarnung nicht aufflog. „Und ich habe das Wohlergehen eines Mädchens über meinen eigenen Wunsch gestellt", fügte er murmelnd hinzu, bevor er sich etwas Trockenfleisch aus der Satteltasche nahm. Nachdenklich kaute er auf dem faserigen Stück herum. Der Abschied von Sina, die Emotionen, die durch seinen Körper gerauscht waren, hatten ihn durstig gemacht. Nur hatte er nicht daran gedacht, sich etwas Blut mitzunehmen. Doch woher bekam er nun welches?
Andächtig lauschte er den Geräuschen. Ein leichtes Kratzen auf Baumrinde, wo ein Eichhörnchen einen Stamm hinab lief. Er zog eine Grimasse. Einerseits war die Menge Blut, die so ein Tierchen hatte, zu gering, andererseits würde Sina ihn dafür mit Nichtbeachtung strafen, wenn sie es erfuhr. Sie liebte die putzigen kleinen Wesen mit ihren Knopfaugen.
Einige Schritte entfernt traute sich ein Kaninchen aus seinem Bau. Romanu beobachtete, wie es die zuckende Nase in den Wind hielt. Langsam, hastige Bewegungen vermeidend, zog er sein Messer aus der Scheide und fasste es an der Spitze. Er wiegte es kurz hin und her, dann warf er es. Mit einem schrillen Schrei kippte das Tier auf die Seite. Seine Pfoten zuckten noch einen Moment, dann lag es still. Romanu stand auf, packte das noch warme Geschöpf. Durstig bohrte er seine Zähne hinein, trank schnell das Blut, bevor es verderben konnte. Kein Vergleich zu Menschenblut, doch es stillte sein Verlangen. Er atmete entspannt aus und sah sich nach Feuerholz um. Es wäre eine Schande, das Fleisch verkommen zu lassen.
Kurze Zeit später brutzelte das gehäutete Kaninchen über dem Feuer. Er genoss den Geruch, das Aroma, den das Kaninchenfleisch verströmte. In den vergangenen Tagen hatte er auf Frischfleisch verzichtet, Sina zuliebe. Er schmunzelte. Das Mädchen hatte es geschafft, ihm so einige Zugeständnisse abzuringen. Kompromisse, an die er früher keinen Gedanken verschwendet hätte. Ob er sie jemals wiedersehen würde?
Nach dem Essen lehnte er sich an einen Baum und schloss die Augen. Sein Hengst döste nicht weit entfernt von ihm im Stehen, wie es für Fluchttiere üblich war. Auch Sina hatte oft gegen ihren Fluchtinstinkt angekämpft. Wie die Pflanzenfresser im Wald war sie immer auf der Hut gewesen, bis sie gelernt hatte, einigen Vampiren zu vertrauen. Wieso eigentlich? Sie stammte aus einem Land, das von einem Menschen regiert wurde. Seinesgleichen war dort nicht erwünscht. Eine uralte Absprache, an die sich alle hielten. Was hatte dann ihre Furcht ausgelöst? Einzig die Geschichten, die die Leute ihren Kindern zur Abschreckung erzählten? So wie er die Vedma gefürchtet hatte? Er seufzte tief. Sollte er Sina jemals wiedersehen, würde er sie danach fragen und keine Ausrede mehr gelten lassen.
*****
Bevor Ihr auf die Idee kommt, Romanu zu verprügeln: er hat es wirklich nur gut gemeint und leidet wie ein getretener Hund.
Was meint ihr. Werden sie einander wiedersehen? Wenn ja, unter welchen Umständen?
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