Kapitel 26
Die Tage nach dem Überfall blieb Hermanus auf der Burg. Ständig wurde er zu Besprechungen beim König gerufen, damit er ihm von den Fortschritten der Auszubildenden berichtete, oder um zusammen mit anderen Amtsträgern die bevorstehende Feier zu planen. Jedes Detail wurde zigmal besprochen, nichts durfte dem Zufall überlassen werden. Doch immerhin erhielt er so Zugang zu den Listen mit den eingeladenen Gästen. Oder derer, die ihr Kommen angekündigt hatten. Dieses Wissen teilte er schließlich mit Sina und Fabiu bei einem letzten Ausritt am Tag vor dem Fest.
„Für Romanu und Taran hat sich niemand angemeldet", fing er an. Sina nickte. Es bestätigte ihr Gefühl, dass es sich bei beiden um Prinzen oder zumindest um Adelssöhne aus hohen Familien handelte, die ihre Kinder normalerweise nicht in ein fremdes Land schickten. Kämen sie zur Feier, könnte es einen Aufruhr geben. Der Vorwurf von Spionage wäre noch das kleinere Übel.
„Zu Razvan kommen allerdings fünf Personen. Alles Männer." Seine Miene verfinsterte sich dabei. Sina zog die Nase kraus. Das war ungewöhnlich, wenn sie den Erzählungen der Vampire Glauben schenken wollte. Es hörte sich nicht so an, als ob die Gäste alles Familienmitglieder von ihm waren.
„Also müssen wir wachsam sein", stellte Fabiu nüchtern fest. Seine Haltung hatte sich in den vergangenen Tagen geändert. Anstelle des sanften Heilers benahm er sich wie ein erfahrener Soldat. Oder wie ein Krieger ihres Volkes. Taran und Romanu hatten sich ebenfalls verändert. Nur hatte es bei ihnen schon eher eingesetzt. Ersterer war selten noch der Witzbold, als den sie ihn kennengelernt hatte, während Zweiterer nicht mehr so klammerte und jeden verscheuchte, der in ihre Nähe kam. Wobei Letzteres auf ausführliche Gespräche mit Hermanus zurückzuführen war.
„Romanu und Taran werden vermutlich dicht beieinanderbleiben." Seit dem ersten Training, bei dem Sina sich verstecken sollte, traten die Vampire fast ausschließlich im Doppelpack an. Einer hielt dem anderen den Rücken frei. Zwei Brüder, durch ein Geheimnis miteinander verbunden. Es nahm beiden Männern eine Last von den Schultern und schmiedete ein Bündnis für die Zeiten, die ihnen bevorstanden. Ihre Freundschaft würde nie enden, davon war Sina überzeugt.
„Was ist mit mir? An wen soll ich mich halten?", wandte sie sich nun an Hermanus. Sich an ihn zu klammern wie ein Tierkind an seine Mutter, wäre in einem Saal voller adliger Vampire unpassend, wenn nicht sogar verwunderlich. Damit zog sie nur die Aufmerksamkeit, derer sie entgehen wollte, auf sich. Sie seufzte. In einigen Tagen würden sie zu dritt die Burg verlassen, ihr hoffentlich für immer den Rücken zukehren.
„Ich würde dich zwar gern an meiner oder an Fabius Seite wissen, doch bei Taran und Romanu wärst du besser aufgehoben." Hermanus strich sich übers Kinn, den Blick in die Ferne gerichtet. „Sie werden ohne Anweisung auf dich aufpassen. Erst recht, da keine Gäste für sie erwartet werden."
„Soll ich Razvan im Auge behalten, Vater?" Fabiu kratzte sich am Nacken. „Die planen etwas. Das gefällt mir nicht."
„Ohne Beweise können wir nichts machen. Wenn, dann haben sie es auf Taran abgesehen, oder," er warf Sina einen beunruhigten Blick zu, „auf dich."
„Vielleicht auf uns beide." Sie knabberte an ihrer Lippe. „Die Angreifer haben damals versucht, ihn lebendig in die Hände zu bekommen. Das tut man nur, wenn man den Gefangenen als Druckmittel benutzen will."
„Und der andere Fremde wusste, was du bist. Vater, kann Sina nicht in der Unterkunft oder bei Garak in der Küche bleiben, bis die Feier vorbei ist?"
Hermanus schüttelte abweisend den Kopf. „Der König erwartet, dass sie anwesend ist. Er will wissen, was aus dem Mädchen geworden ist, das versucht hat zu fliehen, doch freiwillig beim Wachtrupp bleibt. Obwohl sie dort unzählige Möglichkeiten zur Flucht hatte."
„Sag ihm doch, es liegt an meinem Charme." Fabiu zog Sina zu sich und kitzelte sie, bis sie nach ihm schlug.
„Lass das", knurrte sie und trat schnell einige Schritte von ihm weg.
„Vom Knurren her klingst du mittlerweile wie eine Vampirin. Romanu hat einen schlechten Einfluss auf dich."
„Oder einen besonders guten. Immerhin haben wir es ihm zu verdanken, dass sie nicht mehr geflohen ist." Hermanus strich ihr liebevoll über den Kopf. „Egal, wie gern ich mir einbilden würde, dass du es aus Respekt mir gegenüber nicht mehr versucht hast, weiß ich doch, dass es nur seinetwegen war."
Sie spürte, wie das Blut ihr in die Wangen schoss. „Ich bin ihm zu jung. Selbst wenn er mein wahres Alter kennen würde, wäre ich zu jung."
„Zwei Jahre lässt sich besser warten als vier", erwiderte Fabiu gelassen. Sein Vater warf ihm einen scharfen Blick zu. Ohne Worte schienen sie miteinander zu kommunizieren. Stille kehrte ein und verschwand erst wieder, als sie zur Burg zurückkehrten. Etwas lag in der Luft. Ein drohendes Unheil, das sich noch bedeckt hielt, doch schon bald unzählige Greifarme in alle Richtungen ausstrecken würde.
*****
Verwundert ließ sie am nächsten Tag den Blick über die Gäste im Thronsaal gleiten. Vampirfrauen, denen die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand, dass sie ihre Sprösslinge wohlbehalten in die Arme schließen konnten. Väter, die ihren Söhnen zufrieden auf die Schultern klopften und jedem, der sich in ihre Nähe wagte, erzählten, wie besonders ihre Jungen doch von klein an schon waren. Nicht viel anders als wie Heimkehrer in ihrem Dorf begrüßt wurden.
Sie verkniff sich ein Schmunzeln. Hermanus hatte ihr eingeschärft, wie wichtig es war, eine neutrale Miene zu wahren. Damit sie nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, wie sie es ohnehin schon tat. Er hatte darauf bestanden, dass sie ihre übliche Kleidung trug: eine dunkle weich fallende Hose, ein helles Hemd und ihre Stiefel. Als Zeichen, dass sie zu der Gruppe Auszubildender gehörte. Absolventen. Freunde. Bald würden sie die Burg verlassen, in alle Winde verstreut leben. Ihr wurde schwer ums Herz. Die meisten der jungen Vampire mochte sie mittlerweile. Einige würden ihr sogar fehlen. Sie unterdrückte ein Seufzen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Spitzzahn, den sie niemals vermissen würde.
Razvan.
Seine Körperhaltung wirkte auf sie angespannt. Lauernd, zum Angriff bereit. Oder bildete sie es sich nur ein, weil sie ihn für einen Verräter hielt? Die Männer, die für ihn zur Abschlussfeier gekommen waren, jagten ihr allesamt einen eisigen Schauer über den Rücken. Groß und breit gebaut erinnerten sie Sina an die Angreifer aus dem Wald.
Taran berührte sie sacht am Handgelenk. Er neigte leicht den Kopf, zeigte ihr auf die Art, dass sie nicht allein war und keine Gefahr bestand. Eine Unterhaltung war ihnen nicht möglich. Zu viele neugierige Lauscher, deren ausgezeichnetes Gehör alles aufschnappen würde. Romanu rückte von der anderen Seite näher an sie heran. Gleich darauf erfuhr Sina dafür den Grund. Berok lief auf sie zu. Zusammen mit seinem Vater, den der König unterwürfig begrüßt hatte. Instinktiv fasste sie Romanus Hand. Niemand Geringeres als das Oberhaupt aller Vampire stand vor ihnen. Gleichzeitig mit ihren beiden Beschützern ließ sie sich auf die Knie nieder und senkte den Blick.
„Erstaunlich", hörte sie ihn sagen. „Eine Freie, die aus Respekt handelt? Ungewöhnlich. Erhebt euch. Auch das Mädchen", fügte er hinzu als sie zögerte. „Warum bist du nicht bei deiner Familie, Kind", sprach er sie in einem ruhigen Tonfall an. Er erweckte nicht den Eindruck, dass sie ihn fürchten musste, wenn sie sich anständig benahm.
„König Ragnar hatte mich versklaven wollen. Bei meiner Flucht vor seinen Häschern bin ich in dieses Land gekommen. Der Fürst wollte mich nicht ziehen lassen, weil ich seiner Ansicht nach zu jung bin, um allein auf die Reise zu gehen."
„Gegen König Ragnar habe ich keine Befehlsgewalt." Er strick sich über sein Kinn. „Wie alt bist du, Mädchen?"
Schnell rechnete sie im Kopf nach. Fast ein Jahr hatte sie auf der Burg verbracht. Ihr Geburtstag lag in den Frühlingsmonaten, wenn die Sonne alles nach dem Winter zum Leben erweckte. „Ich bin vierzehn." Aber nur, wenn sie weiterhin zwei Jahre von ihrem wahren Alter abzog.
„In der Tat zu jung, doch man kann dir einige Wächter zur Seite stellen, die dich zumindest bis zu deiner Landesgrenze begleiten."
„Herr?" Hermanus, der alles beobachtet hatte, gesellte sich zu ihnen und verneigte sich tief vor dem Vampir. „Erlaubt meinem Sohn und mir, Sina in ihre Heimat zu bringen. Wir wollten in wenigen Tagen aufbrechen, damit sie zu ihrer Familie heimkehren kann."
„Eine ausgezeichnete Idee." Er wandte sich ab. In dem Moment brach bei der Tür ein Tumult aus. Sina hörte Marina um Hilfe schreien. Ihr Blick huschte zu der Stelle, wo Razvan mit einem seiner Gäste sprach. Sie spürte einen Luftzug. Romanu und Taran stürmten aus dem Thronsaal, rannten demjenigen hinterher, der die Prinzessin zu entführen versuchte. Razvan und sein Begleiter huschten ihnen wie Schatten hinterher. Sina presste die Hand auf die Tasche, in der ihr Messer versteckt war, und verließ ebenfalls den Raum. Sie verfiel in einen schnellen Lauf, ihre Schritte hallten im langen Korridor wider. Hinter der Biegung sah sie den Umhang eines der Männer verschwinden. Flatternd, der letzte Zipfel. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen. Zuweilen kam sie an Dienern oder Sklaven vorbei, die sich in die Nischen drückten. Ansonsten blieben die Gänge leer. Keine Vampire, die hinterhereilten.
Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht in den Magen. Eine Falle. Die Fremden würden ihren Freunden in den Rücken fallen. Marinas Entführung war nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver. Sie unterdrückte einen Fluch. Wo blieben nur die Wachen der königlichen Familie? Nahmen sie an, dass die zwei Absolventen alles im Griff hatten? Nein, sie glaubten, dass Razvan und sein Begleiter ebenfalls der Prinzessin zu Hilfe kamen. Ein ausgeklügelter Schachzug. Man schickte einen Mann vor, um die Beute in eine Sackgasse zu locken und versperrte den Rückweg. Razvans andere Gäste hielten vermutlich im Hof die Pferde bereit. Glaubten sie wirklich, entkommen zu können? Wartete niemand am Tor, um die Zugbrücke hochzuziehen? Oder hatten sie das nicht bedacht?
Sie rannte um eine Ecke und hielt abrupt an. Sie hatte sich in den Fremden getäuscht. Alle fünf Gäste griffen Taran und Romanu an. Razvan beobachtete es, wie es schien, seelenruhig aus einigen Schritt Entfernung. Marina dagegen kauerte am Ende des Ganges schluchzend an der Wand, die Hände vors Gesicht geschlagen. Das Aufeinanderknallen von Waffen übertönte sie fast. Ihre Freunde wehrten sich verzweifelt gegen die Überzahl an Gegnern.
Sina riss das Messer aus ihrer Tasche und schleuderte es auf einen der Angreifer, der ihr den Rücken zuwandte. Dieser sackte in die Knie und kippte lautlos zur Seite. Razvan fuhr erschrocken zu ihr herum. Seine Augen weiteten sich. Er zog seinen Dolch, war im nächsten Augenblick bei ihr und packte sie fest. Das Herz schlug hart in ihrer Brust, als er ihr die Klinge an die Kehle setzte. „Wusste ich es doch, dass du Romanu folgen würdest, kleine Vedma. Du bist doch eine, nicht wahr?" Quälend langsam zog er seine Reißzähne über ihren Hals, lachte über ihr Zittern. „Keine Sorge, ich tue dir nichts. Wir brauchen dich noch."
Das durfte nicht geschehen! Sina ahnte, was ihr blühte, wenn sie ihm nicht entkam. „Ich bin keine Vedma", log sie, ihre Stimme bebte unkontrolliert.
„Oh doch, das bist du. Und mit dir werden wir unseren Herrschaftsanspruch festigen."
*****
Ups, das war wohl ein Ablenkungsmanöver.
Mal abgesehen von dieser Entwicklung. Was haltet ihr denn von Beroks Vater?
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