Kapitel 24
Sina knabberte auf ihrer Unterlippe. Ihr Blick huschte zwischen den zwei Vampiren, die sie auf dem Ausritt begleiteten, hin und her. Fabiu trug auf seinem Rücken einen Köcher mit Pfeilen und über seiner Schulter einen Bogen. Es juckte ihr in den Fingern, mal wieder auf ein Ziel zu schießen. Nicht auf ein Tier, das verstand sich von selbst.
Doch die Bogensehne unter den Fingerspitzen zu spüren, die angespannten Muskeln in Armen und Schulter, kurz bevor man den Pfeil fliegen ließ, das vermisste sie. Bogenschießen forderte viel von Körper und Geist. Den Fokus einzig auf das Ziel gerichtet, konnte sie den Druck, den ihr Vater und die Dorfgemeinschaft auf sie ausübten, für einen Moment vergessen.
„Sina." Die dunkle Stimme von Hermanus ließ sie hochschrecken. Sie wandte sich ihm zu, stellte mit Erschrecken fest, wie er sie eindringlich musterte. „Sei ehrlich, Sina. Hattest du dir bei unserer Übung erhofft, dass niemand dich findet und du fliehen kannst?"
Betreten senkte sie das Kinn auf die Brust. Die Hoffnung, die sie in der Höhle gespürt hatte, war in dem Augenblick verflogen, als Romanu sie bei ihrem Namen rief. Einerseits Enttäuschung, andererseits Erleichterung waren als Folge der Entdeckung durch ihren Körper geströmt.
„Antworte mir bitte, Sina." Es schwang kein tadelnder Unterton mit, so wie sie es von zu Hause kannte. Eher schien es, dass er sich nur von ihr wünschte, dass sie ehrlich war.
„Ich dachte, dass mich niemand dort findet. Mit dem Moos, das dort wächst, und dem frischen Wasser, hätte ich dort eine Woche oder zehn Tage ausharren können", gab sie leise zu. Sie zog den Kopf ein, machte sich auf dem Pferderücken kleiner, als sie war.
„Und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen, weil du eine erneute Flucht in Betracht gezogen hast." Hermanus nickte. „Dieses Wissen reicht mir. Dir ist bewusst, dass ich dich verfolgt und zurückgebracht hätte, oder? Jetzt, wo du mir unterstehst, kann ich es nicht erlauben, dass du davonläufst."
„Das verstehe ich." Ihre Stimme brach. Sie wandte sich ab und starrte auf die weite Graslandschaft, die vor ihnen lag. Die Gräser bogen sich in der leichten Brise.
Der Vampir drängte sein Pferd neben ihres. „Sina, ich nehme es dir nicht übel. Ich verstehe, dass du Angst hast. Schon allein wegen deiner Herkunft. Du hast das Gefühl, dass du ständig vor uns auf der Hut sein musst. Doch du musst auch verstehen, dass ich dir jetzt deine Freiheit nicht schenken darf."
„Werde ich je wieder frei sein?" Sie hob den Blick. Tränen brannten in ihren Augen.
„Das wirst du, Kleines. Fabiu und ich werden weiterziehen, wenn Romanu und die anderen Jungen ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Da der König dich mir zugesprochen hat, kann ich dich dann gefahrlos mitnehmen. Wir werden dich bis zur Landesgrenze begleiten, das verspreche ich dir."
„Wir werden bestimmt nicht zulassen, dass du uns vor Angst eingehst", fügte Fabiu lächelnd hinzu. „Außerdem," er wies mit dem Daumen auf den Köcher, den er trug, „außerdem werden wir dir ermöglichen, dass du ein wenig trainierst. Damit du dich wehren kannst, wenn dich wieder ein Sklavenhändler belästigt."
„Mit einem Messer oder Pfeil und Bogen hätte ich ihn mühelos getötet", murrte Sina. Der Ärger über sein abscheuliches Verhalten stieg erneut hoch. Sie hatte ihm den Tod gewünscht, nur leiden hatte sie ihn nicht sehen wollen. Das hätte sie auf eine Stufe mit ihm und gewöhnlichen Spitzzähnen gestellt. Oder mit dem Schlächter, dessen Gefährtin sie werden sollte.
„Das glaube ich gern. Nur dann hätte der König dich mit Sicherheit zur Sklavin ernannt." Hermanus lachte leise. „Ich habe nicht grundlos das Geräusch verursacht, das dich zum Fliehen gebracht hat."
„Du hast mich da schon beschützt", murmelte sie fassungslos. „Wusstest du da schon, dass ich eine Vedma bin?"
„Ich hatte es geahnt. Dein Verhalten passte nicht zu einem gewöhnlichen Menschenmädchen. Du bist weitaus entschlossener, kennst dich viel besser in der Natur aus."
„Warum hilfst du mir?" Handelte er völlig selbstlos oder bezweckte er doch etwas mit seiner Freundlichkeit? Letzteres konnte sie sich schwer bei dem liebenswerten Vampir vorstellen. Oft genug vergaß sie in seiner Gegenwart, dass er ein Spitzzahn war.
„Das erzähle ich dir, wenn wir den Rastplatz erreichen. Aus dem Grund reiten wir aus. Du sollst die Wahrheit erfahren." Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hilft dir das, deine Fluchtpläne zu vergessen und stattdessen geduldig abzuwarten."
„Das wäre nett. Immerhin habe ich so vorläufig eine kleine Schwester, um die ich mich kümmern kann." Fabiu stieß sie sanft gegen den Arm. „Und ich finde, dass meine Schwester im Zweikampf trainiert werden sollte."
Wieder einer, der sie als Familienmitglied sah. Sie unterdrückte ein Schnauben. Wenigstens tat es nicht weh, so wie bei Romanu. Und irgendwie stimmte es. Sein Vater behandelte und schützte sie wie sein eigenes Kind.
„Das ist eine gute Idee. Nur solltest du mit Sina vorsichtiger umgehen als mit deinen Freunden. Als Vedma ist sie zwar wendiger und stärker als ein Menschenmädchen, dennoch uns körperlich unterlegen. Ich möchte nicht, dass sie verletzt wird."
„Dann reißt Romanu mir eh den Kopf ab. Dass er so lange warten musste, bis er Sina suchen durfte, hat ihm gar nicht gefallen." Fabiu grinste schief. „Aber zumindest scheint er sich gut mit Taran unterhalten zu haben."
„Taran kannte den Toten." Vielleicht war jetzt nicht der geeignetste Moment, um darüber zu sprechen, doch sie musste es loswerden. „Ich glaube, das war ein guter Freund von ihm."
„Das erklärt, weshalb er momentan so in sich gekehrt ist. Behalte ihn bitte weiter im Auge", trug Hermanus ihr auf.
„Du lässt Sina spionieren?" Fabiu stieß laut seinen Atem aus. „Das ist zu gefährlich."
„Ich bitte sie nur, still und heimlich zu beobachten. Nicht, dass sie jemanden auf sein Verhalten anspricht", erwiderte der Ältere seelenruhig. „Möchtest du mir noch etwas berichten?", wandte er sich erneut an sie.
„Razvan wird mir unheimlicher. Er betrachtet mich viel zu oft, seitdem er mitbekommen hat, dass ich schnell lerne und aufmerksamer bin als normale Menschen."
„Das ist nicht gut." Hermanus strich sich über das Kinn. „Aber wir hatten eh schon beschlossen, dich nie mit ihm allein zu lassen. Ich frage mich nur, was er plant. Den König können wir nicht damit behelligen. Razvan wurde ihm von einem befreundeten Adeligen empfohlen. Nun gut, lassen wir das für heute." Er wies auf den Rastplatz, den sie wenige Tage zuvor aufgesucht hatten, als die Männer sie suchen sollten. Gemächlich trieben sie ihre Pferde darauf zu und stiegen ab.
„Setz dich doch bitte." Hermanus zeigte auf einen der Baumstämme und wartete, bis Sina Platz genommen hatte, bevor er sich ebenfalls hinsetzte.
Fabiu warf einen nachdenklichen Blick auf den nahen Waldrand. „Ich schaue mich mal besser um, damit wir keine ungebetenen Gäste bekommen." Er huschte zur ersten Reihe Bäume und verschmolz mit den Schatten.
„Er ist ein kluger Junge." Hermanus seufzte leise. „Seine Mutter wäre sehr stolz auf ihn."
„Was ist mit ihr?" Sina war seine melancholische Miene nicht entgangen. Seine sonst von Stolz und Kraft geprägte Körperhaltung war in sich zusammengesunken. Hermanus wirkte wie ein gebrochener Mann, der das Liebste auf der Welt verloren hatte. „Sie ist tot, oder?" Deswegen hingen die zwei Vampire so aneinander. Weil ihnen jemand fehlte. Sina unterdrückte den Drang, ihn in die Arme zu schließen. Er war nicht Romanu und selbst an ihn sollte sie sich nicht zu oft kuscheln.
Hermanus holte tief Luft, wischte sich einmal über das Gesicht. „Sie starb bei seiner Geburt. Fast hätte ich an dem Tag meinen Sohn ebenfalls verloren, doch wir erhielten Hilfe." Er hielt kurz inne und schaute in die Richtung, in die Fabiu verschwunden war. „Ich fange besser ganz am Anfang an. Aber erst wirst du ein wenig üben." Er reichte ihr sein Messer. „Stell dich hin und werfe es auf den Baumstamm. Siehst du die Kerbe? Versuche sie zu treffen."
Sina stand auf und trat einige Schritte zurück. Die Augen zu Schlitzen gezogen visierte sie den Stamm an. Sie atmete bewusst und tief ein, als sie die Hand nach oben brachte. Vorfreude breitete sich in ihrem Körper aus. Die Muskeln in Schulter und Arm waren angespannt. Ausatmend schleuderte sie das Messer auf das Holz, ihr Ziel nie aus den Augen lassend. Es blieb stecken, federte nur ein wenig nach.
Hermanus hockte sich davor, zog es dann mit Leichtigkeit heraus. „Bemerkenswert. Du hast genau die Einkerbung getroffen."
„Darauf werden wir von klein an trainiert", erwiderte sie achselzuckend. „Messerwerfen bietet weder für eine Jägerin noch für eine Kriegerin eine Herausforderung."
„Du wurdest wie eine von denen erzogen, obwohl deine Begabung eine andere ist." Er reichte ihr erneut das Messer, doch stoppte ihren Arm, als sie abermals zum Wurf ansetzte. „Steck es weg. Ich vertraue darauf, dass du niemanden damit angreifst. Nutze es nur zur Verteidigung."
„Danke, Hermanus." Sie strich über den verzierten Messergriff. „Woher weißt du so viel über die Vedma?"
„Setz dich, dann werde ich dir alles erzählen. Vor vielen Jahren lebte ich auf einer Burg in einem anderen Königreich und verliebte mich in eine junge Vampirin, die Tochter eines Adeligen. Einer der Prinzen hatte ebenfalls ein Auge auf sie geworfen, doch sie entschied sich für mich. Zuerst lebten wir dort friedlich. Sie wurde schnell schwanger. Doch zum Ende ihrer Schwangerschaft hin – ihr Vater starb bei einem Überfall – jagte der König uns auf Anraten seines Sohnes vom Hofe. Da wir zu Fuß reisten, kamen wir nur langsam vorwärts. Die Anstrengung nahm ihr immer mehr die Kraft, sodass wir beschlossen, beim ersten Menschendorf hinter der Landesgrenze zu bleiben, und die Geburt abzuwarten. Noch am selben Abend bekam sie Wehen. Fabiu erblickte in einer Vollmondnacht das Licht, doch seine Mutter starb, kaum dass sein erster Schrei verhallt war." Eine Träne rann über das Gesicht des Vampirs. Still wischte er sie weg, wartete einen Moment, bis er fortfuhr. „Eine Frau, deren Kind einige Wochen älter war, säugte ihn. Sonst hätte ich ihn ebenfalls verloren. Sie half mir, bis er alt genug für feste Nahrung war. Zu Anfang wunderte ich mich darüber, dass sie sich mir zeitgleich misstrauischer zeigte als die anderen Menschen. Bis Fabiu beim Spielen schwer verletzt wurde. Sie handelte instinktiv, gab ihm etwas von ihrem Blut. Doch es wirkte viel besser als Menschenblut."
„Sie ist eine Vedma", keuchte Sina.
„War." Hermanus ballte die Fäuste. „Eines Tages war ich mit Fabiu im Wald. Er war etwa vier Jahre alt und ich wollte ihn ein wenig trainieren lassen. Reiter des Königs, in dessen Reich wir zu dem Zeitpunkt lebten, tauchten im Dorf auf und fielen über einige Frauen her, um ihr Blut zu trinken. Die Männer verteidigten ihre Ehefrauen. Sie wurden getötet, die Häuser niedergebrannt. Die Vedma und einige andere Frauen wurden verschleppt. Ich folgte ihnen zu Fuß mit Fabiu, so schnell ich konnte, weil mir bewusst war, was unserer Retterin bevorstand. Doch ich kam zu spät. Sie hatte sich bereits selbst getötet, um ihrem Los zu entgehen."
Sinas Augen füllten sich mit Tränen. Obwohl der Verlust nicht der ihrige war, spürte sie den Schmerz des Vampirs, den er selbst nach Jahren noch mit sich herumtrug. Sie stand auf, setzte sich neben ihn und schlang einen Arm um ihn.
„Schon in Ordnung, Sina." Er tätschelte ihr die Hand. „Es fällt mir einfach schwer, darüber zu sprechen. Mein Versagen ärgert mich noch immer. Deswegen ist es mir so wichtig, dass du dich ruhig verhältst. Damit ich dich später in Sicherheit bringen kann." Er schaute hoch zum Himmel. „Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Wir verließen das Reich und ich suchte mir Arbeit bei einem anderen Herrscher. Einige Jahre blieb ich dort, bis ich hierherkam. Fabiu ließ ich bei Freunden zurück, wo er einen gleichaltrigen Freund hatte. Erst zur Ausbildung folgte er mir."
„Voneinander getrennt zu sein, ist euch nicht leichtgefallen, oder?" Sina knabberte an ihrer Lippe. Wie Fabiu hatte sie nur noch ihren Vater und sie vermisste ihn trotz der Strenge, mit der er sie erzogen hatte.
„Nein. Ich habe es gehasst, obwohl ich wusste, dass er in Sicherheit war. Man sollte nicht von seiner Familie getrennt sein. Du wirst die Deinen bald wiedersehen. Das verspreche ich dir."
Sina erwiderte sein Lächeln und lehnte sich vertrauensvoll an den Älteren. Sie nahm sich fest vor, keinen weiteren Fluchtversuch zu starten, sondern geduldig abzuwarten. Er und die jungen Vampire würden nicht zulassen, dass ihr jemand etwas tat.
*****
Was haltet Ihr denn davon, was Hermanus erzählt hat? Erklärt es ausreichend sein fürsorgliches Verhalten Sina gegenüber? Habt Ihr so etwas erwartet?
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