Kapitel 22


Die Tage verstrichen und Sinas Reitfertigkeiten besserten sich zusehends. Romanu ließ sie weiterhin mit seinem Hengst üben, doch auch Taran stellte ihr sein Tier zur Verfügung. Selbst nutzte er auf Ausritten die Stute des Verstorbenen. Niemand auf der Burg hatte den Toten gekannt und da er an seiner Kleidung kein Abzeichen trug, konnte man ihn keinem Herrscher zuordnen.

Sina zweifelte noch immer, ob sie Hermanus von dem berichten sollte, was sie auf der Lichtung beobachtet hatte. Einerseits hatte der ältere Vampir sie darum gebeten, ihm Auffälligkeiten zu melden, andererseits fühlte sie sich gegenüber Taran verpflichtet, zu schweigen. Ihr Stillschweigen ein Verrat, doch Reden ebenso. Eine Zwickmühle, aus der es kein Entkommen gab.

Sie drehte sich im Sattel um, umklammerte fest das Leder. Es war der dritte Ausritt, bei dem sie allein auf einem Pferderücken saß. Auf dem Wallach, der früher Taran als Reittier gedient hatte. Der Vampir war zu Fuß zu seiner Ausbildung angereist und hatte das Tier vom Stallmeister zugeteilt bekommen. Ein auf einander eingespieltes Gespann. Nicht mehr, seitdem sie die Stute mitgenommen hatten. Sie reagierte auf die unscheinbarsten Anweisungen, doch nur bei Taran. Die anderen Männer maßen dem wenig Bedeutung zu, denn viele von ihnen kamen selbst mit ihnen unbekannten Pferden in kürzester Zeit zurecht.

Sina knabberte an ihrer Lippe. Lag es an seiner Gabe, die er geschickt einsetzte? Sie wollte es glauben, doch die Erinnerung an sein Verhalten auf der Lichtung ließ sie nicht los. Die verstohlenen Blicke, mit denen er sich zu vergewissern schien, dass keiner ihn beobachtete. Das schnelle Einstecken der Nachricht, die er immer bei sich trug, damit niemand sie entdeckte. Sina hatte sie zwischen seinen Habseligkeiten gesucht. In einem Moment, als sie sich völlig allein in der Unterkunft aufhielt. Ohne Erfolg.

Sie betrachtete ihn aufmerksam. Er war nachdenklicher seit dem Leichenfund. Wie auch jetzt. Den Blick auf die Pferdeohren gerichtet, schien er nichts um sich herum wahrzunehmen.

„Sina." Romanu drängte seinen Hengst näher an ihre Seite. Ruckartig drehte sie sich wieder nach vorne. Unsicher wandte sie sich ihm zu. Wenn er verärgert war, dass sie einem anderen Mann Aufmerksamkeit schenkte, zeigte er es nicht. Seine Eifersucht und sein teils dominantes Auftreten waren Hermanus ein Dorn im Auge. Erst vor wenigen Tagen hatte der Ältere ihn zur Seite genommen und ihn darauf hingewiesen, dass sie der gesamten Gruppe unterstand und nicht das Eigentum von Romanu war. Seitdem verhielt er sich gemäßigter ihr gegenüber, schirmte sie nicht mehr von jedem ab, der sich ihr näherte. Was sie erleichtert zur Kenntnis nehmen sollte, verunsicherte sie zutiefst. Sein bestimmendes Verhalten hatte ihr Sicherheit vor Entdeckung gegeben.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Wäldchen, das vor ihnen lag. Sattes Grün, Heimat für Vögel und Wildtiere. Sie streckte sich, lauschte dem Plätschern eines Gewässers. Ein friedlicher Ort, der auch Raubtiere beherbergen konnte. Ein Areal, das sie zu erkunden bereit war. Wenn Hermanus es erlaubte. Sie schielte zum älteren Vampir, der sein Pferd zu einer Stelle am Waldrand trieb. Die Stämme gefällter Bäume lagen dort im Quadrat um eine mit Steinen befestigte Feuerstelle.

„Hier lagern wir", rief er ihnen beim Absitzen zu. Die Männer stiegen ebenfalls ab, befreiten ihre Pferde von den Sätteln.

Sina glitt vom Pferderücken und schaute sich stirnrunzelnd um. „Müssen wir nicht die Gegend durchstreifen?"

„Nein, für heute habe ich ein anderes Training geplant." Verschmitzt lächelte er sie an. Die Haare auf ihren Armen stellten sich auf, ihr Nacken kribbelte. Was hatte Hermanus vor?

„Spurenlesen, die Verfolgung einer geflohenen Person aufnehmen." Fabiu ließ sich breit grinsend auf einem Baumstamm nieder. Die Blicke der Männer richteten sich erwartungsvoll auf sie. Erwarteten die Vampire von ihr, dass sie zum Schein die Flucht ergriff?

„Hermanus?" Sie traute sich nicht, ihm die Frage zu stellen, die ihr auf dem Herzen brannte. Er bot ihr keine Möglichkeit, dem Leben in Gefangenschaft erfolgreich zu entkommen. Dies war nur ein Training, um die Sinne seiner Schützlinge zu schärfen.

„Ja Sina, du wirst gleich in den Wald aufbrechen dürfen. Wenn die Sonne zwei handbreit am Himmel geklettert ist, werden sie die Verfolgung aufnehmen." Er wandte sie zu Romanu und Taran um. „Ihr beide werdet euch nicht an der Hatz beteiligen, sondern hier bei den Pferden warten."

„Wieso darf Romanu nicht mitmachen?", mischte Berok sich ein. „Er würde Sina ohne Mühe aufspüren."

„Genau das ist der Grund, warum er hier abwarten soll", erklärte Hermanus in einem bedachten Tonfall. „Gelingt es uns nicht, sie einzufangen, werden wir hierher zurückkehren. Dann dürfen Romanu und Taran ihr Glück versuchen."

„Das wird nicht notwendig sein", tönte Razvan großspurig. „Ein Kind kann uns nicht entkommen. Wir haben sie einmal gefasst, das wird uns ohne Umstände ein weiteres Mal gelingen."

Sina ballte die Fäuste. Was bildete sich dieser überhebliche Kerl ein? Hermanus wünschte sich eine herausfordernde Jagd für seine Auszubildenden? Die würde sie ihnen liefern. Niemand verspottete ungestraft eine Vedma. Erst recht nicht so ein Spitzzahn wie Razvan. Sie knirschte mit den Zähnen, so fest presste sie sie aufeinander. Das Blut schoss kochend heiß durch ihre Adern, Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn.

„Entspann dich, Sina." Romanu drückte ihr sanft mit beiden Händen auf die Schultern. Die leichte Berührung half ihr, sich zu erden. Seine Nähe schenkte ihr die Kraft, sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Das Plätschern von Wasser legte nahe, dass ein Gewässer nicht weit entfernt von ihnen floss. Dort würde sie anfangen, sich dann tiefer in den Wald vorarbeiten.

„Ich bin bereit", rief sie den Vampiren kämpferisch zu. „Aber glaubt nicht, dass ich es euch leicht mache."

„Dann ab mit dir, Mädchen, lauf." Hermanus nickte ihr aufmunternd zu, setzte sich neben seinen Sohn. Sie warf einen letzten Blick in die Runde, bemerkte, dass Romanu mit sich kämpfte. Ihm gefiel es nicht, sie aus den Augen zu lassen, las sie an seiner Miene ab. Nicht, nachdem er sie mehrfach fast verloren hatte. Sie wandte sich ab, rannte los. Jetzt war nicht der geeignete Augenblick, um über dieses störrische Band nachzudenken, das sie beide miteinander verband.

Ihre Füße berührten kaum den Boden, der Wind zerrte an ihren Haaren. Sie wich nach rechts vom Pfad ab, sprang geschmeidig über ein niedriges Gestrüpp. Hose und Stiefel ermöglichten ihr einen Bewegungsspielraum, den sie von ihrer üblichen Kleidung nicht kannte. Wie oft hatte sie nicht ihr Kleid gerafft, wenn sie durch den Wald von ihrem Dorf rannte? Unzählige Male. Spitze Steine und Holzsplitter hatten sich in ihre Fußsohlen gebohrt, wenn sie barfuß unterwegs war. Doch jetzt steckten sie in Stiefeln, die wie angegossen saßen.

Sie folgte dem Plätschern, bis sie ein breites Bachbett erreichte. Schnell zog sie ihre Schuhe aus. Schnürstiefel, die sie an ihren Schnüren zusammenband und über ihre Schulter warf. Die Hosenbeine krempelte sie hoch. Kurz zischte sie wie eine Schlange zwischen aufeinandergepressten Zähnen hindurch, als sie ins Wasser watete. Es umspülte eisig ihre vom Laufen aufgeheizten Füße. Sorgfältig betrachtete sie das Bachbett. Dort, wo die Strömung am stärksten war, würden ihre Spuren rasch verwischen. Fast schon schade, dass es nur eine Übung war.

So leise wie möglich eilte sie im Bach vorwärts. Hermanus gab ihr zwar einen Vorsprung, doch die Spitzzähne waren zu Fuß schneller unterwegs als sie. Vor allem, wenn sie dem Bachlauf nur folgten, nicht wie sie ihn nutzten. Wollte sie entkommen und sich von ihnen verstecken, benötigte sie ein Gelände, auf dem sie keine Spuren hinterließ. Bevorzugt Felsen, doch selbst dort blieben Abdrücke zurück, wenn sich Sand auf ihnen sammelte.

Aufmerksam lief sie vorwärts, hielt nach Möglichkeiten Ausschau, die ihr die Flucht erleichterten. Sie bemerkte, wie ihr Herz vor Aufregung heftiger pochte. Nur eine Übung, erinnerte sie sich. Keine wirkliche Hatz auf Leben und Tod. Und doch fühlte es sich fast so an. Wieder einmal rannte sie vor Spitzzähnen davon, stetig darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen. Stoßartiger holte sie Atem. Ihre Oberschenkel und Füße kribbelten. Die einen vom Widerstand, den das Wasser bot, die anderen von der Kälte. Sehnsüchtig sah sie sich nach etwas um, das ihr das Vorankommen erleichterte.

Hinter einer Biegung entdeckte sie Felsbrocken, die um Ufer lagen. Bäume standen dort dicht an dicht. Keine biegsamen Birken, sondern Kastanien und Eichen. Deren Äste hingen über den Felsen, die zu weit auseinanderlagen, um von einem zum anderen zu springen. Doch mit den Laubbäumen war es ihr möglich, trockenen Fußes weiterzukommen. Zielstrebig lief sie darauf zu. An ihre Ohren drang ein fernes Rauschen wie von einem größeren Gewässer. Gab es hier irgendwo einen Fluss? Sie reckte den Kopf, um besser sehen zu können, doch der Wald war auf der Seite, von der das Geräusch kam, zu dicht. Sie seufzte. Wenn es ein Flusslauf war, lag er aller Wahrscheinlichkeit eh in einiger Entfernung zu ihrem Standort. Bekam sie von Hermanus genug Vorsprung? Fragend richtete sie den Blick zum Himmel. Weit war die Sonne noch nicht gewandert.

Sina erreichte den ersten Felsen und kletterte an seiner von den Sonnenstrahlen aufgeheizten Seite hoch. Immer darauf bedacht, ihn möglichst nicht mit ihren nassen Füßen zu berühren. Wenn die Abdrücke nicht rechtzeitig trockneten, käme man ihr zu schnell auf die Schliche. Ihr Magen verkrampfte kurz. Wieso gönnte Hermanus ihr keinen größeren Vorsprung? Einen, der es ihr ermöglichte, in ihre Heimat zurückzukehren? Hatte der Vampir es einkalkuliert, dass sie erneut an Flucht denken würde? Sie presste die Lippen aufeinander. Die Zeitspanne reichte nur, um ein Versteck zu suchen. Nicht aber, um den Spitzzähnen endgültig zu entkommen. Nur eine Übung.

Murrend zog sie die Stiefel an, schätzte die Entfernung zum ersten Ast ab. Sie spannte ihre Beinmuskeln, stieß sich kraftvoll von der harten Oberfläche ab. Ihre Hände griffen das Holz problemlos. Den restlichen Schwung des Sprunges ausnutzend schwang sie zweimal vor und zurück. Dann ließ sie los und landete mühelos auf dem zweiten Felsbrocken. Das Spiel wiederholte sich einige Male. Ihre Muskeln brannten von der Anstrengung, doch gleichzeitig flutete sie Gewissheit, dass sie den Vampiren entkommen konnte, wenn sich ihr eines Tages die richtige Gelegenheit dazu bot. Sie brauchte nur abzuwarten und brav Hermanus' Anweisungen zu folgen.

Erschrocken hielt sie inne. Die Erkenntnis traf sie unvorbereitet. Ein Training für beide Seiten. Es war nicht nur für die jungen Männer gedacht. Ihre Stimmung hellte sich sogleich auf. Der ältere Vampir half ihr auf diese Art, sich auf eine Flucht vorzubereiten, falls er ihr nicht die Freiheit schenken konnte. Ob er sie mit der Zeit auch im Zweikampf und mit Waffen trainieren ließ?

Der Wind zupfte an ihrer Kleidung, kühlte den Schweiß auf ihrer Haut. Die Blätter raschelten über ihr und in der Ferne rauschte ein Fluss. Sie spitzte die Ohren. Auch ein Tosen drang zu ihr. War es das, was sie vermutete?

Eilig verdoppelte sie ihre Anstrengungen, bis sie den allerletzten Felsbrocken erreichte. Ab hier würde sie laufen müssen. Sie wandte sich dem Wald zu. Ein Ast, der ihr einen Sprung zwischen die Bäume ermöglichte, ragte in greifbarer Höhe vor ihr. Ein letztes Spannen der Muskeln, die konzentrierte Landung auf beiden Füßen. Fast entglitt ihr ein Siegesschrei. Gerade noch rechtzeitig hielt sie sich zurück und warf einen Blick auf die Strecke, die sie zurückgelegt hatte. Dann stürmte sie vorwärts, auf das Tosen zu.

Der Weg fiel nach einiger Zeit ab, verengte sich, bis er völlig verschwand. Eine Felskante, auf der sie entlangwanderte, dem tosenden Wasser entgegen, das sie nach einer weiteren Biegung entdeckte. Der Fluss stürzte über eine Kante in die Tiefe. Es dröhnte und donnerte bedrohlich. Sie warf einen Blick über den Rand. Eine Höhe von etwa zehn Männern galt es zu überbrücken.

Sina schaute erneut hoch zum Himmel. Die Sonne war zwei handbreit weitergewandert. Die Vampire nahmen die Verfolgung auf. Kurzentschlossen kletterte sie nach unten. Wassertropfen hüllten sie ein wie in einem Nebel und durchnässten ihre Kleidung. An einigen Stellen war das Gestein glitschig. Zweimal rutschte ihr Fuß auf der Suche nach Halt ab. Ihr Herz pochte wild, doch der Wasserfall übertönte alle Geräusche. Hier hörte sie niemand.

Auf etwa halber Strecke entdeckte sie etwas. Einen dunklen Spalt, der wie der versteckte Eingang auf neugierige Besucher wartete. Über einen weiteren Felsen gelangte sie hinter das herabstürzende Wasser, das sie vor suchenden Blicken abschirmte. Sie ließ sich auf den kühlen Höhlenboden gleiten und nahm einige tiefe Atemzüge, um zur Ruhe zu finden. Hier entdeckte sie niemand. Vor allem nicht der hochnäsige Razvan.

Als die Zeit verging, ohne dass einer der Vampire die Höhle betrat, keimte Hoffnung in ihr auf. Ein erst sacht flackernder Funken, der stetig an Kraft gewann. Was, wenn niemand sie entdeckte? Wie lange musste sie hier ausharren, bis sie gefahrlos weiterwandern konnte? Wasser stand ihr genügend zur Verfügung, sodass sie nicht verdurstete. Suchend schaute sie sich um. Am Höhleneingang, gleich hinter dem Wasserfall, wuchs Moos an den Wänden. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie konnte hier notfalls zehn Tage oder länger ausharren, bis die Männer die Suche nach ihr aufgaben. Wusste Hermanus von diesem Versteck? Hatte er das Training doch nur angesetzt, um ihr die Flucht zu ermöglichen?

*****

Tja, weshalb hat Hermanus das Training angesetzt? Was bezweckt er damit?

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