Kapitel 20
Zwei Tage später war es so weit. Sie saß vor Romanu im Sattel. Hermanus hatte sich von ihren frisch erworbenen Reitkünsten wenig beeindruckt gezeigt. Insgeheim gab sie dem älteren Vampir recht. Lesenlernen fiel ihr weitaus leichter, als sich auf einem Pferderücken zu halten. Dabei war der Hengst ihr gegenüber lammfromm. Möglicherweise, weil sie ihm seit dem ersten Unterricht Kräuter und Obststücke zusteckte.
Sie reckte sich. Die Arme hoch in der Luft, streckte sie ihren Rücken, der vom Reitunterricht schmerzte. Genau wie ihre Beine, die sie teils panisch um den Pferdeleib gepresst hatte, um nicht abzurutschen. Sie trug es Marek noch immer nach, dass er darauf bestanden hatte, dass sie ohne Sattel übte. Für einen direkteren Kontakt zum Tier. Ihr Hinterteil dankte es ihr nicht. Es brannte und kribbelte, als ob sie sich in einen Ameisenhaufen gesetzt hatte und die Waldameisen sie mit vereinter Kraft loswerden wollten. Wie damals, als sie nicht aufgepasst und von den älteren Jungen in einen Haufen hineingeschubst worden war.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum wir sie mitnehmen", murrte Razvan. „Auf der Burg könnte sie unsere Unterkunft reinigen und in der Küche helfen, das Essen für uns vorzubereiten."
Romanu schlang seinen Arm, mit dem er sie seit dem Aufbruch hielt, fester um ihren Körper. Ein leises Knurren drang aus seiner Brust, vibrierte an ihrem Rücken nach. Seit er sich gegen Cyrus gestellt und ihm die Stirn geboten hatte, wirkte er unnachgiebiger und dominanter. Sina biss sich auf die Lippe. Sie konnte nur hoffen, dass der junge Vampir nicht zu sehr über die Stränge schlug und notfalls seine Herkunft preisgab. Ein fremder Prinz, der sich unbemerkt eingeschlichen hatte, würde dem König nicht gefallen. Ein Krieg zwischen den Königreichen drohte, wenn er sich nicht beherrschte.
Sie strich mit den Fingerspitzen über seinen Handrücken und spürte, wie der Mann hinter ihr sich entspannte. Kurz schloss sie die Augen, genoss seine Nähe, obwohl ihr bewusst war, dass sie für ihn nichts weiter als ein Kind war, das seinen Schutz benötigte. Ihr Brustkorb zog sich einmal mehr schmerzhaft zusammen. Eine Zukunft mit Romanu war ihr nicht vergönnt. Er würde eine Adelige heiraten, um sein Reich zu führen. Als Vedma hatte sie dort nichts verloren. Nein, sie würde in ihr Dorf zurückkehren, sowie Hermanus ihr die Freiheit schenkte. Wenn sie Glück hatte, suchte der Schlächter sich eine andere Gemahlin. Mit einem Jäger oder Krieger verheiratet zu sein, wäre das geringere Übel.
„Sina begleitet uns, weil ich ihre Fähigkeiten in euer Training einbauen werde. Sie wird probeweise flüchten und ihr werdet sie aufspüren müssen." Hermanus klang ausgesprochen zufrieden. Er drehte sich auf seinem Pferd um und schaute zu ihr.
„Ist das nicht zu gefährlich? Was, wenn sie wirklich die Flucht ergreift?", ließ Razvan sich wieder vernehmen.
„Dann habt Ihr alle versagt und werdet nicht als Wachen dem König dienen können", erwiderte der Ältere trocken. Vereinzeltes Kichern erklang.
„Romanu wird unsere Kleine schon wieder einfangen, wenn der Rest von uns versagt." Taran warf Sina einen amüsierten Blick zu. Sie senkte das Kinn auf die Brust. Ihre nach vorne fallenden Haare versteckten ihre Wangen, die verräterisch brannten. Wieso schwärmte sie ausgerechnet für einen Spitzzahn? Erfuhren die Dorfältesten davon, würde sie auf ewig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Es gab keine gemeinsame Zukunft für sie und Romanu. Sie seufzte leise.
Der Vampir hinter ihr kitzelte sie an der Taille, bevor er sich an Hermanus wandte. „Ich halte es für keine gute Idee, Sina für das Training einzusetzen. Die Gefahr, dass ihr etwas zustößt, ist zu groß."
Der Anführer schüttelte bedächtig den Kopf. „Du unterschätzt sie. Hast du vergessen, wie sie uns in der Schlucht fast entkam?"
„Sie hätte es geschafft, wenn Razvan nicht sein Beil nach ihr geworfen hätte", ließ sich Fabiu säuerlich vernehmen. Der Heiler hasste den grobschlächtigen Vampir mit den schlechten Manieren abgrundtief und zeigte es in den letzten Tagen vermehrt offen. Ein deutlicheres Zeichen für ihren Status in der Gruppe gab es kaum. Die Männer bewiesen ihr, dass sie ein Teil von ihnen war, und stellten sich zusammen gegen Störenfriede.
„Sie hat es überlebt. Ich verstehe nicht, was an diesem Mädchen so besonders ist." Razvan zuckte mit den Schultern. „Hat die kleine Hexe euch allen den Verstand geraubt? Sie ist nur ein unnützer Mensch, der ständig aufbegehrt, statt sich zu unterwerfen."
„Könnte damit zusammenhängen, dass ein Sklavenhändler sie missbrauchen und versklaven wollte", erwiderte Taran trocken.
„Nicht zu vergessen, dass König Ragnar dasselbe mit ihr vorhatte", fügte Fabiu hinzu. „Deswegen ist sie ja erst in unser Land geflüchtet."
„Sie wird eh nicht versuchen, wirklich zu fliehen. Dazu gibt Romanu ihr gar keine Gelegenheit." Dokan, ein eher ruhiger Zeitgenosse, dessen Vater als adeliger Berater auf der Burg diente, drehte sich im Sattel zu ihr um und betrachtete sie schmunzelnd.
„Für ein dreizehnjähriges Mädchen ist es zu gefährlich, allein durch die Wälder zu irren. Natürlich passe ich auf sie auf, wie ich es für eine Schwester tun würde", brummte Romanu.
Schwester. Das Wort versetzte ihr einen Stich ins Herz. Verbissen blinzelte sie die Tränen weg, die ihr in die Augen zu steigen drohten, und presste die Lippen fest aufeinander. Er sah in ihr nur ein Kind, noch dazu eine Art Familienmitglied. Für ihre Sicherheit praktisch, dennoch schmerzte es. Sie verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf die Natur, die sie schmerzlich vermisst hatte. Sattes Grün, unterbrochen von bunten Farbtupfern. Blumen, die ihre Köpfe der Sonne entgegenstreckten. So wie die Pflanzen benötigten auch die Vedma die wärmenden Sonnenstrahlen zum Überleben. Ganz anders die Spitzzähne, die ihre Pferde antrieben, um den schattigen Wald zu erreichen. Einzig Romanu ließ seinen Hengst gemütlich dahintrotten, streckte sich hinter Sina, um mehr Sonnenlicht aufzufangen. Sie runzelte die Stirn. Wieso unterschied er sich so von den anderen Vampiren? Sie hatte die Anziehung, die er auf sie ausübte, stetig auf seine beschützende Art geschoben. Auf die Sicherheit, die er ihr zu bieten bereit war, wenn ihn niemand daran hinderte. Doch es steckte mehr dahinter. Nur was? War es überhaupt wichtig, wenn er sie nur als kleine Schwester sah?
„Wann bekommt Sina eigentlich ein Pferd zur Verfügung gestellt, damit sie selbständig reiten kann?" Taran hatte sich zurückfallen lassen und zwinkerte ihr nun zu. Misstrauisch betrachtete sie ihn. Inwiefern waren ihre Gedanken vor ihm sicher? Zu oft reagierte er auf eine Art, die nahelegte, dass er wusste, woran sie dachte.
Sie wandte den Blick ab, konzentrierte sich auf das lebhafte Spiel der Pferdeohren. Romanus Hengst achtete wie sein Besitzer auf ihre Umgebung. Mit einem Mal hob er witternd den Kopf und stieß ein Wiehern aus. Unterbrach damit Hermanus, der gerade zur Beantwortung von Tarans Frage ansetzte.
„Wenn sie sattelfester ist, werde ich unseren Stallmeister fragen, ob er ihr ein geeignetes Tier zur Verfügung stellen kann." Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er das Pferd, das aufgeregt mit dem Schweif schlug. „Dein Rappe scheint uns etwas mitteilen zu wollen."
„Der riecht nur eine rossige Stute." Romanu tätschelte seinem Hengst beruhigend den Hals. Das Tier wieherte erneut. Aus der Ferne erklang eine leise Antwort.
„Dann wollen wir mal sehen, wer sich in unserem Gebiet aufhält." Hermanus gab den Männern ein Zeichen, auf ihren Pferden zu bleiben, als einige Anzeichen machten, abzusteigen. „Wir nähern uns normal, aber haltet die Augen offen. Romanu, du beschützt Sina."
„Das werde ich, mit meinem Leben." Der Vampir presste sie wieder enger an seine Brust. Sein Atem strich über ihre Haare. Sina empfand seine Nähe gleichzeitig beruhigend und beunruhigend. Ihr Herz pochte wild, sehnte sich nach süßen Worten, die Romanu ihr ins Ohr flüsterte. Doch der Altersunterschied würde es nie zulassen. Noch dazu vermochte sie es nicht einzuschätzen, wie er reagierte, falls er jemals erfuhr, dass sie eine Vedma war. Vielleicht verwandelte er sich doch in solch ein gieriges Monster, vor dem die Dorfältesten warnten.
Hermanus überließ Romanu die Führung. Dessen Hengst streckte immer wieder den Kopf in die Luft und flehmte. Nur mit Mühe ließ er sich zügeln. Sina vermutete, dass die Männer nicht angaloppierten, um denjenigen, der sich tiefer im Wald aufhielt, nicht zu verscheuchen. Das zöge eine Hetzjagd nach sich, bei der man nur zu leicht in einen Hinterhalt geriet.
Am Rande einer Lichtung hielten sie die Pferde an. Vor ihnen graste die Stute, die bei ihrer Ankunft neugierig zu ihnen blickte. Taran atmete scharf ein. Dann fiel Sina der Grund dafür auf. Im Gras lag eine regungslose Gestalt.
Sie glitten aus den Sätteln, schlichen näher heran. Aus dem Rücken des Mannes ragte ein Pfeil. Mehrere Vampire zogen ihre Waffen, sahen sich misstrauisch um. Fabiu zog den Pfeil heraus und begutachtete die Spitze. „Mit Silber geschmiedet."
„Um sicherzugehen, dass unser Freund hier den Angriff nicht überlebt." Hermanus schüttelte den Kopf. „Ausschwärmen und nach Spuren suchen. Romanu bleibt mit Sina hier."
„Wäre es nicht klüger, wenn ich bei ihnen bleibe?" Taran band sein Pferd an einen Baum.
„Einverstanden." Der ältere Vampir nickte, schloss sich dann seinen Schülern an.
„Nun beruhige dich endlich." Romanu stellte sich dem Hengst in den Weg. Das Tier tänzelte aufgeregt und versuchte, die Aufmerksamkeit der Stute zu wecken, auf die Taran zulief. Sie begrüßte den Mann, indem sie ihre Nüstern an seinem Arm rieb und leise schnaubte.
Sina runzelte die Stirn. Noch mehr, als Taran sich bei dem Toten hinkniete, ihn auf den Rücken rollte und die Westentaschen durchsuchte. Er zog etwas heraus, das wie ein kleiner zusammengefalteter Zettel aussah, und steckte es weg. Dann schloss er dem Fremden die Augen. Den Kopf hielt er gesenkt. Murmelnd bewegte er seine Lippen, doch seine Worte drangen nicht bis zu ihr. Sie warf einen schnellen Blick auf Romanu. Dieser kämpfte noch immer um die Kontrolle über seinen Hengst und schien nichts von dem seltsamen Benehmen seines Freundes mitzubekommen.
Mit hängenden Schultern richtete Taran sich wieder auf. Der Tod des Fremden ging ihm nahe, mutmaßte Sina. Sie schaute sich noch einmal nach Romanu um, lief dann auf leisen Sohlen zu dem zweiten Vampir. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Er seufzte, schenkte ihr ein melancholisches Lächeln. Auf den fragenden Blick zum Verstorbenen hin nickte er nur. Ein Freund von ihm, zumindest ein Bekannter. Jemand, der ihm etwas übermitteln sollte? Dann hatte der Täter schlampig agiert, indem er ihm den Brief nicht abnahm.
Der Angriff auf Taran, von dem die Männer ihr erzählt hatten, kam ihr in den Sinn. Zuerst hatte sie angenommen, dass es Romanu gegolten hatte. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher klang es. Sie musterte ihn von der Seite, als er den Toten auf den Rücken der Stute legte. Am Vorabend hatte er ihr ein Gedicht vorgetragen, das er auswendig kannte. Seine sanfte Art war der von Romanu nicht unähnlich. Doch unterschieden sich die Männer in einer Sache. Ihr Beschützer war dominanter, ließ in manchen Momenten durchschimmern, dass er von Adel war. Das fehlte Taran. Sie sollte Hermanus fragen, was ihm über seine Herkunft bekannt war.
Ein Rascheln im Gebüsch ließ sie zusammenzucken. Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Kehrten die Übeltäter jetzt zurück? Taran schob sich vor sie, eine Hand am Schwertgriff.
„Wenigstens einer von euch passt auf Sina auf." Fabiu trat schmunzelnd auf die Lichtung und streckte sich. „Gib acht, Romanu, oder Taran macht dir Sina noch streitig", zog er den Freund auf.
Dieser knurrte so ungehalten, dass Sina zu ihm lief und ihn sanft am Arm berührte. Augenblicklich beruhigte er sich. Er legte seine Hand über ihre. Verwirrt bemerkte sie, wie er das Band zwischen ihnen stärkte. Sie riss erschreckt die Augen weit auf. Das durfte nicht passieren! Nie hatte einer der Dorfältesten auch nur im Ansatz erwähnt, dass Spitzzähne dazu in der Lage waren. Romanu selbst betrachtete sie ebenfalls verwirrt, als ob er nicht begriff, was gerade passierte. Sie verharrten regungslos, bis sie die Stimme von Hermanus vernahmen. „Wir brechen auf und reiten zurück. Der oder die Täter haben einen zu großen Vorsprung. Vielleicht kennt auf der Burg jemand den Toten."
Sinas Blick huschte zu Taran, der beharrlich schwieg. Er würde nie freiwillig erzählen, woher er den Verstorbenen kannte. Höchstens unter Folter. Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauer über den Rücken. Niemals würde sie ihn dem König und seinen Schergen ausliefern. Sein Geheimnis war bei ihr sicher.
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