Kapitel 14
„Wen haben wir denn da? Wie ich sehe, kannst du wieder auf deinen Füßen stehen."
Sina gab sich alle Mühe, bei den Worten nicht zusammenzuzucken. Der lauernde Blick des Prinzen jagte ihr abwechselnd eisige und heiße Schauer über den Rücken. Wieso nur hatte sie darauf bestanden, selbst Kräuter pflücken zu gehen, statt in der Küche abzuwarten? Warum war Hermanus mit den Auszubildenden unterwegs und hatte dieses Mal sogar Taran mitgenommen? Ohne die Anwesenheit der jungen Männer war sie der Willkür der Burgbewohner hilflos ausgesetzt. Wieso hatte sie nicht auf Garak gehört, der sie von ihrem Vorhaben hatte abbringen wollen, und dann schließlich kopfschüttelnd eingewilligt hatte?
„Nun, wer hat dir erlaubt, deine Arbeit zu verlassen?" Cyrus trat hinter sie, beugte sich zu ihrem Hals. „Dein Blut riecht noch immer köstlich. Zu gern würde ich von dir kosten." Wie zum Beweis leckte er über ihre Haut, genau an der Stelle, wo sie ihren Puls verzweifelt schlagen fühlte. Wenn der Vampir sie jetzt biss, war sie verloren. „So eine brave kleine Sklavin, die bald mir gehören wird."
„Sina? Wo bleibst du mit den Kräutern?" Garak stapfte mit zusammengebauschten Augenbrauen auf sie zu. Der Küchenmeister schien verärgert zu sein.
Hatte sie so lange an der frischen Luft getrödelt und die wärmenden Sonnenstrahlen genossen? Beschämt schaute sie auf das Körbchen, das sie mit den unterschiedlichen Küchenkräutern gefüllt hatte. „Es tut mir leid, Herr, es wird nicht wieder vorkommen." Sie bückte sich, um es aufzuheben.
„Natürlich wird es nicht wieder vorkommen." Garak packte sie am Arm und zerrte sie von dem Prinzen weg. Kaum hatte er die Tür hinter ihnen geschlossen, ließ er sie los und betrachtete er sie kritisch. „Hat er dir etwas getan, Kind? Ich habe die Gier nach Blut in seinen Augen gesehen. Dabei ist es verboten, von euch jungen Dingern zu trinken." Der Vampir seufzte. „Cyrus wird es nie lernen. Genauso verdorben wie seine jüngere Schwester."
„Er hat mir aufgelauert." Ihre anfängliche Angst wandelte sich in Wut. Sie verstärkte den Griff ihrer Hand um den Henkel des Weidenkorbs, der unter ihren Fingern ächzte und knirschte.
„Du solltest dich von ihm fernhalten." Garak strich sich übers Kinn. „Aufgrund deines jungen Alters und weil du neu bist, sieht er dich als geeignetes Opfer für seine Spielchen. Er genießt es, Ängste bei den Menschen zu schüren. Ihre Furcht bereitet ihm Vergnügen."
„Warum unternimmt der König nichts dagegen?", fragte sie, obwohl sie die Antwort ahnte. Weil es seine Kinder waren, denen er fast alles durchgehen ließ.
„Er hat sich in seiner Jugend nicht anders verhalten. Wie schon sein Vater vor ihm." Der Küchenmeister schüttelte den Kopf. Mit einer Miene, die Sina nicht deuten konnte. „Halte dich von der Königsfamilie und anderen hohen Adeligen fern. In meiner Küche bist du vor ihnen sicher." Er verstummte für einen Augenblick, starrte die gegenüberliegende Wand so intensiv an, als ob er durch sie hindurchzusehen vermochte. „Ich werde mit Marek sprechen, unserem Hofmeister. Er ist es ebenso leid, dass junge Sklaven gequält werden, bis sie vor Angst zusammenbrechen. Solche Menschen begehren zwar nicht mehr auf, doch in ihrer Apathie sind sie nichts anderes als lebendige Schatten. Aber komm jetzt, wir haben noch viel zu erledigen."
Stumm folgte sie dem Vampir in den warmen, nach Gemüsesuppe und Brot riechenden Raum, indem Sklaven still ihre Arbeit verrichteten. Obwohl ihnen in den Tagen, seitdem Sina hier arbeitete, kein Leid geschehen war, erweckten sie den Eindruck, dass sie eingeschüchtert waren. Von einigen wirkten die Augen immer ein wenig leer, als ob sie innerlich zerbrochen waren. Das Mädchen schluckte, als ihr bewusst wurde, was Garak mit seinen Worten gemeint hatte. Hier in der Küche waren sie alle in Sicherheit. Nur für einige kam es zu spät.
Sie setzte sich auf einen freien Platz und atmete tief ein. Trotz der brütenden Hitze, die von den Kochstellen und Öfen zu ihr und den mucksmäuschenstillen arbeitenden Menschen kroch und unbarmherzig über alle herfiel, schaffte sie es zum ersten Mal seit Tagen, völlig klare Gedanken zu fassen. Garaks Versprechen war genau die Betätigung, auf die sie gehofft hatte. Ranghohe Angestellte des Königs verabscheuten es, wie die Dienerschaft behandelt wurde. Vielleicht würde ihr das eines Tages das Tor zur Freiheit öffnen.
Nach der Arbeit und einer reichhaltigen Mahlzeit entließ der Küchenmeister sie für den Tag. Lächelnd huschte sie den anderen Dienern hinterher, zurück zu ihrer Kammer.
Die gute Laune verschwand schlagartig, als sich ein Schatten aus der Nische schräg gegenüber der Zimmertür löste. Wie bei der Begegnung einige Stunden zuvor im Kräutergarten lief es ihr abwechselnd heiß und kalt über den Rücken. Stocksteif blieb sie nur wenige Schritte von der rettenden Kammer entfernt stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
„So aufgeregt? Meinetwegen?" Seine Stimme triefte vor Hohn. Im nächsten Atemzug stand er vor ihr. Seine eisigen Finger packten ihr Kinn so fest, dass es schmerzte.
„Sina?" Resa trat auf den Gang, schaute sich suchend nach ihr um. Die Frau atmete scharf ein, als sie den Unhold entdeckte, in dessen Gewalt sie sich befand. Zögernd machte sie einen Schritt auf den Prinzen zu, doch sein tiefes Knurren ließ sie zitternd innehalten.
„Verschwinde, Weib", fuhr er sie an. „Oder ich rufe die Wachen. Dann kannst du im Kerker darüber nachdenken, ob es klug ist, sich mir in den Weg zu stellen."
Resa warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und verschwand wieder im Raum.
„Sina, Sina, Sina. Wieso riechst du nur so unwiderstehlich?" Er fuhr mit seinen Fingernägeln über die Haut an ihrem Hals, als er ihre Haare zur Seite strich. „Dein Blut singt für mich, ruft mich zu sich." Der Prinz beugte sich über sie, sog ihren Geruch ein. „Nicht mehr lange und ich werde meinen Vater davon überzeugt haben, dich mir zu schenken. Dann kann ich endlich von dir trinken."
Sina öffnete den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass sie zu jung dafür war, doch er presste nur seine eisige Hand auf ihre Lippen. „Sei still. Obwohl," er fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Oberlippe, „ich wüsste etwas, wie ich dich für immer verstummen lassen könnte, wenn du es wagst, mir zu widersprechen." Sein Atem strich über ihr Ohr, als er wie eine Schlange zischte. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Eine unausgesprochene Drohung lag in der Luft.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dies genieße", brummte er. Zögernd hob sie den Blick. In seinen Augen brannte die Gier nach Blut und Schmerzen, die er jemandem zufügte. Der Prinz war das fleischgewordene Monster, das sie seit ihrer Kindheit fürchtete. Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr zu, dass Flucht die einzige Möglichkeit war, die ihr blieb. Doch dafür musste er sie erst loslassen.
Sina schloss die Lider, atmete tief durch. Sie rief sich das Training im Dorf in Erinnerung. Wie man sich Raubtieren im Wald stellte, damit sie einen nicht zur Beute auserkoren. Denn das war der Prinz. Ein Jäger, der sich an der Verzweiflung seines Opfers weidete. Ein leises Lachen drang an ihr Ohr.
„Glaubst du, das schützt dich?" Cyrus berührte mit seinen Lippen ihren Hals, zog dann seine spitzen Zähne über die Haut. „Bald gehörst du mir. Dann trinke ich so oft von dir, wie es mir gefällt. Du wirst dich mir anbieten und mir dienen."
Was bildete der Prinz sich ein? Rasend vor Wut stieß sie ihn mit aller Kraft von sich, überrumpelte den überheblichen Vampir, der rückwärts taumelte und auf seinem Hinterteil landete. Einen Augenblick schauten sie einander stumm an, dann drehte Sina sich um und rannte. Seine Schritte hallten hinter ihr auf dem Steinfußboden. Immer wieder huschte er an ihr vorbei, versperrte einen Gang. Er trieb sie wie ein scheues Reh zum Wohnturm der Burg, jagte sie die gewundene Treppe hinauf. Oben angekommen knallte sie die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Langsam ließ sie sich an der Holztür auf den Boden sinken.
Von der anderen Seite erklang sein finsteres Lachen. „Du wirst mir nie entkommen können", hörte sie ihn sagen, bevor er die Treppe nach unten lief. Auch als seine Schritte längst verhallt waren, blieb Sina zitternd am Boden sitzen. Ihr Blick huschte unruhig hin und her. Womit schaffte sie es, dem grausamen Spitzzahn zu entgehen? Den Weg, den sie gekommen war, wollte sie nicht nehmen. Außer sie fand etwas, mit dem sie dem Prinzen schaden konnte.
Sie schnaubte, nachdem sie sich gründlich umgesehen hatte. Waffen lagen in der Turmkammer keine herum. Nur dicke Kordeln, die in manchen Räumen um die schweren Vorhänge geschwungen waren. Besser als nichts, wenn die Begleitumstände stimmten. Mit schlotternden Knien kämpfte sie sich vom Boden hoch und schlurfte zum Fenster. Ihre Augen weiteten sich. Augenblicklich straffte sie ihren Körper, verscheuchte die vorherige Schwäche.
Wieso hatte sie da nicht eher dran gedacht? Der Turm überragte die Burg. Seine Höhe machte es unwahrscheinlich, dass jemand von hier oben zu fliehen versuchte. Daher war es nicht notwendig, dass die Wachen ihre Aufmerksamkeit auf ihn richteten. Das war ihre Chance.
Sie öffnete das Fenster und begutachtete das Mauerwerk. Uneben, wie sie es sich erhofft hatte. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Niemand hielt sie hier gefangen. Zu lange hatte sie schon ausgeharrt. Daran kam heute ein Ende.
Abschätzend betrachtete sie den Himmel. In der Dunkelheit waren die Spitzzähne im Vorteil. Doch wenn sie nicht wussten, dass sie geflohen war, würde ihr keiner von ihnen folgen. Resa und die anderen Frauen waren zu eingeschüchtert, um sie zu suchen. Erst in den Morgenstunden, wenn sie nicht zur Arbeit erschien, würde Garak Alarm schlagen. Bis dahin war sie hoffentlich weit genug entfernt.
Sie lief zu den Kordeln, testete sie auf ihre Qualität. Die ihrer Meinung nach Stabilsten knotete sie aneinander. Ein Ende befestige sie am Steinpfeiler in der Mitte der Kammer, das andere warf sie aus dem Fenster. Ein letztes Mal vergewisserte sie sich, dass niemand sie sah, dann begann sie den Abstieg.
Wenig später kletterte sie triefend aus dem Burggraben und rümpfte die Nase. Die stinkende Brühe durchdrang ihre Kleidung. Sie roch, als ob sie in einem Misthaufen geschlafen hatte. Etwaige Verfolger würden sie über zweihundert Schritt Entfernung wahrnehmen. Sie würde auf ihrer Flucht stoppen und die Sachen in einem Fluss waschen müssen. Sich selbst ebenfalls. Doch auch das kannte sie aus ihrem Training. Im tiefsten Herbst mussten Jüngere ohne Kleidung nachts allein durch den Wald streifen. Zur Abhärtung. Eine Aufgabe, die sie immer gehasst und die ihr oft harsche Worte ihres Vaters eingebracht hatte. Jetzt dankte sie dagegen den Dorfältesten in Gedanken für die harte Ausbildung. Sie war ausdauernder und unempfindlicher, als die Vampire von einem Menschenmädchen gewöhnt waren. Ein weiterer Vorteil, den sie auszunutzen gedachte.
Wie in Zeitlupe und dicht am Boden bewegte sie sich durch das Getreidefeld, das auf dieser Seite der Burg wuchs. Töricht von den Spitzzähnen, Gegnern solche Deckung zu gewähren. Denn auch Feinde könnten sich so leicht anschleichen. Ein flüchtiger Blick würde nicht offenbaren, dass sich hier eine Person davonmachte. Ein kleines Tier, das die Ähren in Bewegung brachte. Dafür würde man sie halten.
Sina lächelte grimmig. Dieses Mal würde sie nicht umkehren, sich von dem Band zu Romanu leiten lassen. „Ich gebe dich frei", flüsterte sie in den Wind, der über sie hinweg strich.
*****
Und da hätten wir ihn: den nächsten Fluchtversuch.
Was haltet Ihr davon, dass sie es erneut wagt? Wird man sie erwischen?
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