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»Mit der Zeit zersetzt Drachengift die menschlichen Organe. Zu Beginn ist es die Haut, die scheinbar wie aus dem Nichts Wunden bildet. [...] Direkt danach folgt die Lunge [...]. Die Zersetzung [dieser] führt unweigerlich zum Tod.«

~Thodur Weitras aus »Die große Enzyklopädie der Drogen und Gifte«

Wie ein Schatten glitt Elian im Schutz der Nacht an den Häusern vorbei. Schnell und leise huschte sie durch enge Gassen, ab und an presste sie sich in Hauseingänge, um nicht von den Betrunkenen überrascht zu werden, die die Einzigen waren, die zu dieser Zeit noch ihr Unwesen trieben.

Oder zumindest fast die Einzigen.

Gerne hätte Elian sich zu ihnen gesellt. Es brannte ihr in den Fingern, eine der Nachtkneipen zu betreten, um sich von dem sauren, für die Gossen typischen Alkohol betören zu lassen. Doch sie riss sich zusammen. Sie hatte Mallis ein Versprechen gegeben, und daran würde sie sich halten.

Doch um der Versuchung nicht zu erliegen, musste Elian etwas tun. Unmöglich konnte sie neben den anderen liegen und so friedlich schlafen, wie sie es taten. Deswegen streifte sie durch die Nacht. Alleine, um ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, ja vielleicht nicht einmal denken zu müssen.

Die kalte Luft brannte auf ihrem Gesicht und sie wusste, dass sie wahrscheinlich rote Wangen hatte von dem schneidenden Wind, der bisweilen durch die Hauptstadt fegte.

Irgendetwas lag in der Luft. Elian konnte es spüren, als ihre Schritte immer länger wurden und sie, immer noch lautlos, über den unebenen Boden rannte.

Das Wetter hatte sich geändert, und das mitten im Jahr. Normalerweise sollten die Nächte lau sein, ein warmes Lüftchen sollte wehen und einem die Sorgen von der Seele nehmen. Doch dem war nicht so. Es war beinahe schon eisig kalt und Elian zog fröstelnd ihre Ärmel über die zu Fäusten geballten Hände.

Ihr Atem bildete weiße Wolken in der Luft. Langsam legte sie den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Die Sterne funkelten so hell und klar wie die Diamanten, die die Kleider von Prinzessin Sanenu schmückten. Zumindest taten sie das in Elians Vorstellung, denn sie selbst hatte die Königstochter noch nie in Fleisch und Blut gesehen.

Für einen Moment fragte die junge Frau sich, ob dort oben jemand war, der auf sie hinunterschaute. Jemand, der ihr Schicksal in den Händen hielt. Jemand, der ihr helfen konnte.

Elians Atem beschleunigte sich und Tränen traten ihr in die Augen. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Und alleine daran zu denken, dass im Himmel jemand wartete, der ihr vielleicht helfen würde, könnte ihren Tod bedeuten.

Der Tod. Elian hatte oft darüber nachgedacht. Wie es sein musste, tot zu sein. Nicht mehr zu atmen, nicht mehr zu laufen. Nicht mehr die zu sehen, die man liebte.

Nicht mehr den Schmerz zu spüren, der sie in jedem Tag ihres Lebens begleitete.

Keuchend blinzelte Elian und wischte sich unwirsch über ihr nasses Gesicht. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ihre Tränen übergelaufen waren, und den Sternen im Himmel ihren Schmerz preisgegeben hatten.

Sie sah sich in der Dunkelheit um, betrachtete die schemenhaften Umrisse der kleinen Häuser und klapprigen Marktstände. Unter normalen Umständen wäre sie um die Marktstände herumgeschlichen und hätte nach etwas Essbarem gesucht, dass sie den Kindern präsentieren konnte, doch in dieser Nacht fehlte ihr schlichtweg die Energie dazu.

Langsam setzte Elian sich in Bewegung, von der eben noch verspürten Energie war nichts mehr übrig geblieben. Mit zittrigen Gliedern ließ sie sich, gegen eine Hauswand gelehnt, auf dem Boden nieder. Ihre tauben Finger tasteten nach ihrer Tasche und holten schließlich einen kleinen Beutel heraus, dessen Inhalt in den letzten Wochen beängstigend schnell geschrumpft war.

Vorsichtig öffnete sie die Schnüre, penibel darauf bedacht, nichts von dem wertvollen, verfluchten Pulver zu verlieren.

Elian hasste es, dass sie nicht stark genug war, um der glitzernden, tiefroten Verführung zu widerstehen. Tief atmete sie ein, inhalierte den schmerzlich vertrauten, scharf-süßen Duft.

Sie wollte nicht. Und doch blieb ihr nichts anderes übrig.

Elian leckte ihre Fingerspitze ab und tippte dann damit in das rote Pulver. Allein schon die Berührung mit ihrer Haut brachte sie dazu, unkontrolliert zu Schaudern.

Einen kurzen Moment lang konnte sie sich noch beherrschen, dann strich sie das Pulver auf ihre Zunge.

Beinahe sofort gingen ihre Sinne in Flammen auf.

Das süße, aber äußerst schmerzhafte Brennen wanderte ihre Speiseröhre hinab, und als es ihren Bauch erreichte, breitete es sich in jede Zelle ihres Körpers aus.

Elian keuchte unterdrückt auf, ihre Finger gruben sich in den harten Stein unter ihr. Sie spürte nicht, dass ihre Haut von den spitzen Kanten aufgeschnitten wurde, einzig und alleine das köstlich tödliche Brennen nahm ihre Sinne ein.

Die erste Phase des Rausches dauert meist etwa eine Minute an. In dieser Zeit war Elian in einer anderen Welt und niemand war in der Lage, zu ihr durchzudringen.

Dann, nachdem der intensivste Teil vorbei war, setzte die zweite Phase ein, der längste Teil des Rauschs. Elians Sinne klärten sich langsam, doch sie war immer noch merkwürdig taub. Ihr Kopf war klar und gedankenlos und doch war alles so präsent, dass Elian wegen der Intensität ihrer Empfindungen kurz innehalten musste.

Ihr Atem ging tief und ruhig, während ihr Herz so sehr raste, als ob es dem Rippengefängnis entfliehen wollte.

Als sie nach ein paar weiteren Minuten aufstand, fühlte sie sich auf eine seltsame Art und Weise ruhig und kraftvoll, und das obwohl die Energie, die das Drachengift künstlich erzeugt hatte, durch ihre Nerven schoss, wie Blitze, die bei einem heftigen Gewitter über den Himmel zuckten.

Langsam setzte sie einen Schritt vor den anderen. Sie dachte nicht mehr nach. Sie tat einfach nur. Und das fühlte sich unglaublich gut an.

Als sie um die nächste Ecke bog, hörte sie ein Geräusch. Geistesgegenwärtig huschte Elian hinter einen Stapel alter Gemüsekisten und verharrte dort. Ihr Herz, das ohnehin schon unmenschlich schnell raste, verdoppelte seine Anstrengungen. Dem Straßenmädchen liefen die Schweißperlen von der Stirn.

Zwei Gestalten huschten schnell und leise an der Gasse vorbei, in der Elian sich versteckt hielt. Sie gaben kein einziges Geräusch von sich, und doch war Elian sich sicher, dass sie sich die Beiden nicht eingebildet hatte. Oder doch? In den Gossen war nicht besonders viel über die Nachwirkungen von Drachengift bekannt, mit Ausnahme von der starken Abhängigkeit, die das hochätzende Pulver auslöste.

Trotzdem erhob Elian sich, nachdem die beiden Gestalten verschwunden waren, und lief ihnen, so leise sie konnte, hinterher.

Suchend sah sie sich um, und entdeckte mit ihren scharfen Augen gerade noch einen Schemen, der hinter der nächsten Ecke verschwand.

Elian blinzelte angestrengt, der Schweiß lief in Strömen ihr Gesicht hinab und ein Zittern hatte ihren Körper erfasst, das sie nicht kontrollieren konnte. Sie wollte den Gestalten hinterherlaufen, denn irgendetwas sagte ihr, dass sie etwas zu verbergen hatten.

Doch dazu war sie nicht in der Lage. Ein schmerzvolles Stöhnen entwich ihr, als ein ungeheures Brennen ihre Eingeweide erfasste. Es war, als stünde ihr Körper in Flammen.

Keuchend sank sie auf die Knie, ihre Sicht, die durch die Dunkelheit ohnehin eingeschränkt war, verschwamm immer wieder vor ihren Augen. Der Schmerz steigerte seine Intensität, wurde unerträglich. Ihr Kiefer krampfte, sie wand sich in der staubigen Erde.

Und dann.

Schwärze.

***

„Elian. Elian, wach auf."

Sie hatte diese Stimme noch nie zuvor gehört, und doch kam sie ihr merkwürdig, ja beinahe schon schmerzlich vertraut vor.

In der Erwartung, dass ihr ganzer Körper schmerzen würde, blinzelte die junge Frau nur zögerlich und öffnete schließlich ganz die Augen.

Sie lag immer noch in der Gasse, in der sie zusammengebrochen war. Die Dunkelheit hatte sich nicht verändert, die Nacht war nicht viel weiter fortgeschritten, doch es fühlte sich an, als wäre sie vor Stunden ohnmächtig geworden, nicht vor wenigen Sekunden.

Langsam setze sie sich auf, auf den bestialischen Schmerz wartend, der sie in die schwarze Welt gebracht hatte, doch er blieb aus.

Verblüfft starrte sie auf ihre Hände, als läge dort die Antwort auf die Fragen, die in diesem Moment ihren Kopf überfluteten.

Elian riss den Kopf nach oben. Das Drachengift. Es hatte in seiner Wirkung bereits nachgelassen. Sie dachte wieder bewusst nach.

Wie konnte das möglich sein? Sie hatte das Pulver erst vor wenigen Minuten eingenommen! Normalerweise hielt der Rausch mindestens einen ganzen Tag lang, doch nun spürte Elian nichts mehr davon.

„Keine Sorge", ertönte die Stimme wieder. „Ich habe die Wirkung nur für diesen Moment aufgehoben, um mit dir reden zu können. Ich brauche dich bei Sinnen."

Hektisch sah Elian sich um- und hätte beinahe aufgeschrien.

Neben ihr saß ein Fuchs. Ein großes, prächtiges Exemplar, mit dichtem, glänzendem Fell von tiefer Farbe und unergründlichen Augen.

Alleine die Tatsache, dass mitten in der Stadt ein Fuchs neben Elian saß, war mehr als ungewöhnlich. Füchse lebten nicht in der Hauptstadt.

Genau genommen hatte Elian niemals zuvor einen Fuchs gesehen, und konnte das Tier nur Erzählungen zuordnen.

Doch es gab etwas an diesem Tier, das noch sehr viel Außergewöhnlicher war, als dessen bloße Existenz.

Es leuchtete.

Und es konnte Sprechen.

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By LLNQueenOfFantasy

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