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„Drachengift trägt aufgrund seines Aussehens und seines Geschmacks diesen eindrucksvollen Namen. Seine rote, bei Licht glimmende Farbe erinnert an das Feuer eines Drachen und die Schärfe lässt sich mit der Hitze eines tödlichen Infernos vergleichen. [...] Einmal konsumiert, macht Drachengift stark abhängig."
~Thodur Weitras aus »Die große Enzyklopädie der Drogen und Gifte«
Elian fühlte sich, als wäre sie mit dem Kopf voran gegen eine Steinmauer gelaufen. Alles an ihr war taub und merkwürdig unbeweglich und als sie schluckte, schien Staub in ihrer Kehle zu kratzen. Sie hustete und richtete sich ächzend auf. Nach und nach drangen die üblichen Geräusche der engen Gassen an ihr Ohr. Laute Stimmen, die alte Ware anpriesen, Kinder die sich durch die Schatten stahlen und schwatzende Frauen, die gerade von Markt kamen.
Elian blinzelte und stöhnte auf, als das helle Tageslicht auf ihre überreizten Augen traf. Erschöpft ließ sie ihre Hände auf das dünne, raue Laken sinken. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie zurück in ihr Bett gelangt war, und auch wenn der Alkohol ihren Körper ordentlich mitgenommen hatte, war sie nicht verletzt. Sie war also keinen Wachen des Palasts begegnet, die sich zu dem Leidwesen aller sehr häufig in den schäbigeren Gassen der Hauptstadt bewegten. Hier war alles billig, das in den vornehmen Kreisen teuer war, und das nutzten die Männer des Königs aus.
Der Vorhang, der die winzige Kammer abtrennte, die kaum größer als das Bett war, in dem Elian sich befand, raschelte und ein hübsches junges Mädchen trat herein. Selbst in ihrem miserablen Zustand wurde Elian warm ums Herz, als sie Mallis erkannte. Sie war etwa ein Jahr jünger als Elian und die warmherzigste Person, die ihr je begegnet war. Wahrscheinlich war sie es auch gewesen, die Elian in ihr Bett befördert hatte.
„Fühlst du dich nun besser?", fragte Mallis, ihre glockenzarte Stimme war Balsam für Elians noch empfindliche Ohren.
Elian grinste und strich sie die kurzen dunklen Haare aus der Stirn. „Ich bin frisch und lebendig. Was bleibt mir sonst noch zu wünschen übrig?"
Mallis runzelte die Stirn und im Inneren lachte Elian bitter auf. Es gab so viele Dinge, die sie sich wünschte, dass sie sie nicht einmal zählen konnte.
„Du musst damit aufhören, Elian", sagte Mallis leise und sah ihre engste Freundin gleichzeitig eindringlich und flehend an. „Die Kinder haben Angst, wenn du nicht da bist, und mir geht es genauso. Du weißt, dass es dich zermürbt."
Sie legte eine Hand auf die von Elian und strich sachte mit dem Daumen darüber. Kaum merklich schauderte sie unter der zarten Berührung, doch sie ließ Mallis gewähren.
„Ich werde mich nicht mehr betrinken", sagte Elian und sah dem hübschen Mädchen in die verschiedenfarbigen Augen. Sie wirkte unsäglich müde und erschöpft und Elian biss sich auf die Zunge, um ihren Ärger über sich selbst zu verbergen. Die Trinkerei musste ein Ende haben. Elian seufzte. Wenn es doch nur das wäre.
***
Als sie nach draußen trat, kamen ihr sofort drei kleine, schmutzige Kinder entgegen, die sich laut schreiend in ihre Arme warfen. Elian lachte und wirbelte alle drei gleichzeitig herum, was den Kleinen ein hohes Quietschen entlockte.
„Wo warst du, Elian? Wir hatten solche Angst ohne dich!" Das kleine Mädchen mit den sonnengebleichten Haaren, den Sommersprossen und Zahnlücken sah sie aus großen Augen an. Es war kein Vorwurf von Seiten des Kindes, trotzdem fühlte Elian sich schuldig.
„Ich habe etwas erledigt", log das Straßenmädchen und sah der Kleinen tief in die Augen. „Aber ich verspreche dir, dass ich nicht nochmal nachts weg sein werde, ja?"
Eifrig nickten die Drei, mit der Antwort waren sie zufrieden.
„Aber selbst wenn ich mal weg sein sollte", sagte Elian und klopfte sich ihre Hände an der noch schmutzigeren Hose ab, „Mallis ist ja auch noch da. Sie kann euch auch beschützen."
„Mallis", sagte das kleine Mädchen ernst und nickte eifrig.
„Was ist mit mir?", ertönte Mallis Stimme hinter Elian.
Laut ihren Namen rufend, rannte eines der Kinder auf sie zu und Mallis hob es lachend hoch.
Ein ehrliches Lächeln stahl sich auf Elians Gesicht. Dies waren die Momente, in denen sie daran erinnert wurde, warum sie das alles tat. Diese Kinder glücklich und unbeschwert zu sehen, erfreute ihr sonst so von Dunkelheit erfülltes Herz und brachte Licht in die Schatten. Es war das, wofür sie kämpfte und wahrscheinlich auch für immer kämpfen würde.
Die Straßenkinder der Hauptstadt hatten meist nur wenige Optionen, zu überleben. Die meisten verendeten in den dunkelsten Gassen, ohne dass je jemand davon Notiz nahm. Manche von ihnen hatten das Glück, in den Palast aufgenommen zu werden, wo sie als Diener ihr Dasein fristeten, und auch wenn sie viel arbeiten mussten und die Launen der Königsfamilie auszuhalten hatten, hatten sie es dort gut.
Der Rest landete bei Elian und Mallis. Seitdem die Freundinnen knapp zwölf und elf Jahre alt gewesen waren, sorgten sie für die jüngeren Kinder der Gassen und hielten sie am Leben. Mittlerweile waren fünf Jahre vergangen, in denen Elian und Mallis ein Quartier in einer alten und heruntergekommenen Backstube errichtet hatten. Momentan lebten dort insgesamt siebzehn Kinder, die von den Beiden versorgt wurden, die Älteren unter ihnen halfen den beiden dabei, die Jüngeren über die Runden zu kriegen.
Sie hatten mittlerweile ein regelrechtes System entwickelt, um an Geld oder Nahrung zu kommen, und für die Jüngeren galt es, von den Älteren zu lernen. Die besonders herzzerreißendaussehenden wurden fürs Betteln eingesetzt, die Flinken stahlen altes Brot und Obst von den Ständen und die Talentierten tanzten und sangen, um ihren Beitrag zu leisten.
Auch Elian leistete ihren Beitrag. Doch der Gedanke an die Tätigkeit, die sie ausführte, ließ kalten Schweiß über ihren Rücken laufen. Denn obwohl sie dabei ordentliches Geld einnahm, tat sie es doch aus egoistischen Gründen.
Mallis wusste, dass Elian das ganze Geld nicht sauber verdiente, doch sie hatte ihre engste und einzige Freundin nie darauf angesprochen. Und doch verfolgte ihr sorgenvoll düsterer Blick Elian, wenn sie sich spät abends mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze davonstahl.
So war es fast jede Nacht und mittlerweile schien die Dunkelheit ein fester Bestandteil von Elian zu sein. Sie bewegte sich schnell aber vorsichtig durch die engen Gassen und verursachte dabei kein einziges Geräusch. Wie ein Schatten flog sie flüchtig an den Häuserwänden vorbei, zwischendurch blitzten ihre Augen unter der Kapuze hervor.
Nach wenigen Minuten war sie in einer ihr sehr vertrauten Gasse angelangt und lehnte sich, nachdem sie sich einmal gründlich umgesehen hatte, gegen die schmutzige Wand und wartete.
„Elian, mein Junge", ertönte eine zischelnde Stimme aus den Schatten, gefolgt von der Gestalt eines kleinen, gedrungenen Mannes, dessen dreckverschmierte Hände sich der jungen Frau entgegenstreckten.
„Wie ich hörte, scheinst du deinen Job gut zu machen. Unser Geschäft läuft gut."
„Ich tue das, was man mir aufträgt", entgegnete Elian nur, und einmal mehr dankte sie ihrer von Natur aus dunklen Stimme. Denn so sehr diese Tatsache einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge hinterließ, so war es doch einfach sicherer, als Junge durch die Straßen zu ziehen. Deswegen ließ sie sich von Mallis regelmäßig die Haare kurz schneiden, trug stets die schwersten Sachen, um ihren Körper mit ausgeprägteren Muskeln zu formen und machte aus ihrem Namen Eliana die kürzere Version Elian.
Ihr Plan war aufgegangen und der Drogenmeister, der Elian mit unangenehm stechenden Augen musterte, ahnte nichts von der eigentlichen Weiblichkeit hinter der Fassade, die das Straßenmädchen aufgebaut hatte.
„Du bist einer meiner wichtigsten Arbeiter geworden, Elian", sagte der Drogenmeister langsam und schritt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, vor Elian auf und ab.
Äußerlich blieb sie ruhig, doch ihr Herz raste davon. So fühlte es sich zumindest an und sie war versucht, sich an die Brust zu greifen, um die schnellen Schläge aufzuhalten, doch sie widerstand dem Drang.
„Sag mir, Elian, was glaubst du, warum die Geschäfte momentan so gut laufen? Was hat dazu geführt, dass die Nachfrage so plötzlich steigt?"
Elian schluckte kurz, bevor sie antwortete.
„Die Chance ist groß, dass die Prinzessin sich bald mit einem namhaften Prinzen vermählt. Das zieht die Leute ins Land und bringt somit neue Kundschaft."
„Korrekt." Der Drogenmeister stoppte sein unruhiges Umhergehen und blickte Elian direkt in die Augen.
„Du bist ein wichtiger Vermittler zwischen den Reichen, den Armen und uns. Arm und schäbig genug für die Gebrochenen und anständig genug für die Reichen."
Elian ließ keine Regung erkennen, als das zweifelhafte Kompliment an ihr Ohr drang. Ihr Gesicht blieb versteinert.
„Ich bin kein Unmensch, Elian, deswegen hast du nun die Wahl. Ich möchte mich erkenntlich für deine Arbeit zeigen, deswegen wird es in den nächsten Wochen, wenn du weiterhin so gut arbeitest, eine kleine Gehaltserhöhung geben. Du hast die Wahl: entweder du erhältst das Doppelte deines momentanen Lohns..."
Elian stockte der Atem. Das Doppelte! Das würde die Straßenkinder unkomplizierter und angenehmer über den Winter bringen, als es je im Bereich des Möglichen lag. Ihnen würde eine gute Zeit bevorstehen.
Doch Elian wusste, was die zweite Option war. Und sie hatte Angst davor. Angst davor, dass er es laut aussprechen würde, und Angst vor ihrer eigenen Antwort.
Ihr Herz wollte nicht aufhören, so heftige gegen ihre Rippen zu schlagen, dass es schmerzte.
„... oder du erhältst eine erhöhte Ration an Drachengift. Aber pass auf, Elian, zu viel des guten Genusses ist nicht gut, ich brauche dich noch in meinen Diensten", sagte der Drogenmeister und verzog seinen breiten Mund zu einem ekelhaften Grinsen.
Elian wurde übel und sie senkte den Kopf, damit ihre Kapuze ihr Gesicht in tiefste Schatten hüllte. Sie war froh um die Dunkelheit der Nacht, denn so konnte ihr Gegenüber ihre Verzweiflung nicht sehen.
Drachengift. Der Fluch ihres Lebens, der sie bis in den kleinsten Winkel ihres erbärmlichen Lebens verfolgte. Eine Substanz die Elian fast genauso brauchte, wie die Luft zum Atmen. Etwas, das Elian über Wasser hielt, wenn sie drohte, in ihren Gedanken zu ertrinken.
Sie hasste es, verfluchte es mit jeder Faser ihres Körpers, doch so sehr sie es auch verabscheute, es war unmöglich, es aus ihrem Leben zu verbannen.
„Elian? Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Entscheide dich oder du bekommst den gewohnten Lohn und kein Stück mehr."
Elian hob den Kopf. In ihrem Inneren zerrissen die beiden Optionen ihr Sein entzwei. Sie brauchte das Drachengift um dem Wahnsinn zu entkommen und sie spürte bereits jetzt, dass sie mehr brauchte, als sie momentan zu sich nahm. Sie schämte sich dafür, aber dieser Tatsache konnte sie nicht entkommen.
Aber sollten die Kinder unter ihren selbstsüchtigen Wünschen nach Innerem Frieden leiden? Sollten sie wirklich im Winter womöglich mit ihren Leben dafür bezahlen?
„Ich... ich nehme das Geld."
„Wie bitte? Wiederhole dich, Elian, ich verstehe dich nicht, wenn du so leise sprichst."
„Ich nehme das Geld", sagte sie nun lauter und und blickte auf. Ihre Stimme klang fest, obwohl sie alles andere als sicher war.
Ein merkwürdiges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Drogenmeisters und er griff in seine Tasche. Er holte ein kleines Beutelchen heraus und öffnete es für sie, um ihr zu zeigen, dass es die gewohnte Menge an Drachengift enthielt. Kaum merklich atmete sie tief ein und sog den vertrauten, scharf-süßen Geruch des tiefroten, leicht glimmenden Pulvers ein. Ein tiefes Verlangen ergriff sie, doch sie beherrschte sich und nickte nur.
Der Drogenmeister überreichte ihr den kleinen Beutel und holte zwei weitere, deutlich schwerere Exemplare davon aus den Tiefen seines Mantels. Es klimperte und das schwere Gold glänzte, als Elian auch dort einen Blick hineinwarf.
„Nun dann, Elian." Der Drogenmeister tippte sick mit dem Zeigefinger an die breite Krempe seines Huts und drehte sich um. „Bewahr deinen Ehrgeiz, bei mir wird er reich belohnt."
Und schon war er in den Schatten der Nacht verschwunden.
Zurück ließ er eine vor Kälte fröstelnde Elian- die Taschen voller Geld und Drachengift.
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By LLNQueenOfFantasy
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