@Enem14


  

꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷
   


  
Der Radiowecker stand auf dem Boden. Dort, wo einmal das Nachtkästchen gestanden hatte – meines. Aber jetzt war dort nichts mehr. Kein Bett, kein Nachtkästchen, kein Regal, kein Sideboard, kein Schrank, kein Teppich, kein Korbstuhl, kein…

Nur der Radiowecker, dessen altmodisches Antennenkabel sich irgendwie gelöst hatte und sich nun über den Boden ringelte wie eine ausgeleierte Sprungfeder. Die Digitalanzeige des Weckers zeigte ein rot leuchtendes 21:47. Das war nicht die aktuelle Uhrzeit, denn es war noch hell draußen, es war lediglich die Zeit, die bisher abgelaufen war.

21 Stunden und 47 Minuten, seit ich den Strom wieder angestellt hatte, womit die Digitalanzeige auf 00:00 gesprungen und dann einfach weitergelaufen war. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, den Wecker zu stellen. Wozu auch? Er war eines von drei Dingen, die noch hier waren. Der Radiowecker, eine graue Wolldecke mit Fransen, welche im Moment zusammengeschoben an der Wand lag und die nackte Glühbirne die in einer Renovierfassung über mir von der Decke baumelte, damit man nicht vollkommen im Dunkeln stand.

Wobei es ja noch nicht dunkel war, wie ich schon erwähnte. Oder nicht mehr war. Egal. Die Glühbirne war zusammen mit dem Wecker angesprungen, nachdem der Strom wieder da war, den wir zum Abbau diverser Elektrogeräte abgestellt hatten.

21 Stunden und 48 Minuten, seit sich die Wohnungstür geschlossen und seitdem nicht mehr geöffnet hatte.

21 Stunden und vielleicht 49 Minuten, seit ihr Blick das letzte Mal den meinen gekreuzt hatte. Mit einem leisen Seufzen wandte ich mich von der Digitalanzeige ab. Ich konnte ihren Namen nicht aussprechen, wenn ich ihn nur dachte, fing ich wieder an zu heulen wie ein kleines Kind. Dabei hatte ich die ganze Nacht nichts anderes getan, man könnte meinen, es sollten gar keine Tränen mehr übrig sein. Aber gerade, während ich das dachte, brannten meine Augen erneut und ich hob leise fluchend den Kopf, lehnte ihn an die Wand und starrte blinzelnd an die Decke.

„Ah… shit…“

Mit den Handballen tupfte ich auf meine Wangen. Bitte, nicht noch mehr Tränen, meine Haut fühlte sich schon ganz aufgescheuert an und ich konnte mir lebhaft vorstellen wie beschissen ich aussehen musste. Im Bad hatte ich den Blick in den Spiegel wohlweislich vermieden. Auch jetzt drängte es mich ins Bad, lag an dem Bier, aber ich würde auch jetzt nicht in den Spiegel sehen.

Auf dem Rückweg nahm ich mir dafür das nächste Bier mit. Noch etwas, das auf dem Boden herumstand, aber das zählte nicht, weil es irgendwann in einem Schrank gestanden hatte, bevor ich… jemanden geholfen hatte, all die Möbel hinauszutragen, die sowieso nie mir gehört hatten.

Fuck, ehrlich, schon während ich die Bierdose öffnete, kamen neue Tränen. Vielleicht sollte ich meinem Körper keine Flüssigkeit mehr nachfüllen, dann würde ich irgendwann austrocken und auch nicht mehr heulen können?

Selbst dieser dumme Gedanke bewahrte mich nicht vor dem nächsten Einbruch. Schluchzend sank ich an der Wand zu Boden, die offene Bierdose landete irgendwo neben mir, bevor ich beide Handballen auf die Augen presste. Es half nicht. Die Tränen bahnten sich trotzdem ihren Weg, unaufhaltsam, quollen unter meinen geschlossenen Lidern hervor, zwängten sich an meinen Handflächen vorbei und liefen meine Wangen hinab, um dann von meinem Kinn zu tropfen.

Es tat so weh. Warum zur Hölle tat es so weh? Immerhin war es meine beschissene Entscheidung gewesen.

„Fuck!“, keuchte ich weinerlich zwischen zwei Schluchzern, dann kippte ich einfach zur Seite und blieb auf dem kalten Boden liegen. Womöglich würde ja das helfen. Kälte. Wenn ich lange genug reglos liegenblieb, könnte jedes verdammte Gefühl in mir zu Eis erstarren.

Tat es nur nicht.

Stattdessen heulte ich immer noch, wischte fluchend über meine Augen, über mein Gesicht, aber es hörte einfach nicht auf. Und ich war so fertig, hatte die Nacht gefühlt kaum geschlafen, weil ich zu sehr damit beschäftigt gewesen war, im Selbstmitleid zu versinken. Mit einem unwilligen Laut rollte ich herum, streckte die Beine aus und trat dabei versehentlich die geöffnete Bierdose um.

„Fuck“, raunte ich wieder, als ich es leise gluckern hörte.

Unter anderen Umständen wäre ich jetzt vielleicht aufgesprungen und hätte panisch nach einer Küchenrolle oder so gesucht, aber das konnte ich mir sparen. Es gab hier noch eine angebrochene Rolle Toilettenpapier und die graue Wolldecke in der Ecke. Oh, und vielleicht noch meinen Pulli.

Schließlich rappelte ich mich doch noch auf, einfach weil der Gestank nach verschüttetem Bier so penetrant wurde, und stellte zumindest die Dose wieder auf. Nach kurzem Überlegen holte ich doch noch die Rolle Toilettenpapier, wickelte gut die Hälfte davon ab und warf den zerknüllten Papierstreifen in die Pfütze. Großartig. Unwillig wischte ich die Bierlache auf und entsorgte das nasse, stinkende Knäuel.

Wohl gerade rechtzeitig, denn während ich mir noch die Hände wusch, klingelte es. Im ersten Moment jagte mein Puls in die Höhe, ich stürmte aus der Badezimmertür, rannte in den Flur, im Kopf nur ein Gedanke:

Sie war das!

Sunhee.

Weil sie so viel klüger war als ich – immer gewesen – und auch so viel überlegter! Weil sie sofort gewusst hatte, dass ich eine Scheiß-Entscheidung gefällt und damit alles verbockt hatte! Weil sie ganz genau wusste, dass wir zusammengehörten…

Nein, das… wusste ich eigentlich auch und hatte trotzdem getan, was ich für unvermeidbar hielt. Da stoppte ich, die Hand bereits auf der Tür, versuchte meinen Atem zu kontrollieren und biss dabei die Zähne aufeinander.

Das war nicht gut. Wenn sie jetzt vor der Tür stand, wenn ich aufmachte, wenn ich sie sah, würde alles einbrechen. Ich. Wahrscheinlich würde ich heulend in ihre Arme fallen und sie anflehen, das alles ungeschehen zu machen und dann stünden wir wieder am Anfang.

Langsam ballte ich die Hand auf der Tür zu einer Faust. Ja, vielleicht war totstellen gar keine schlechte Lösung, auch wenn es schon wieder klingelte. Der Gedanke, dass Sunhee ja den Türcode kannte und nicht hätte klingeln müssen, kam mir nicht, auch nicht, als es gleich darauf lautstark klopfte.

„Taehyung?“ Wieder Klopfen. „Mach die verdammte Tür auf, ich weiß, dass du da drin bist!“

Okay – was war die schlimmere Version eines Besuchers, nach Sunhee? Yoongi, exakt. Und genau dieser hämmerte soeben wieder recht rabiat an die Wohnungstür. Wenn er so weitermachte, würden gleich die Nachbarn auf den Hausflur treten und ihre neugierigen Nasen in meine verdammte Angelegenheit stecken. Fuck! Ehrlich, warum konnten sie mich nicht einfach in Ruhe hier… verrotten lassen…

Mit einem gezischten Fluch riss ich die Tür auf und Yoongis Faust, gehoben für die nächste wilde Klopfattacke, landete schwungvoll auf meiner Brust.

„Oh, sorry.“

Ich kommentierte das lediglich mit einem Augenrollen, trat zurück und ließ ihn herein.

„Warum machst du so einen Lärm?“, fuhr ich ihn an, kaum dass die Tür wieder geschlossen war.

„Und warum reagierst du auf keinen Anruf, Nachricht, irgendwas? Ich mach mir vielleicht Sorgen?“

„Und warum klingst du dann so angepisst?“

Yoongi schnappte empört nach Luft. „Weil…!“ Und nun brach er einfach ab, schüttelte den Kopf und betrachtete mich mit verkniffener Miene. „Taehyung, du siehst einfach nur scheiße aus“, war sein Fazit.

Danke, nichts, was ich mir nicht hätte denken können, auch wenn ich immer noch einen großen Bogen um den Spiegel gemacht hatte. Ich ließ den Kopf hängen.

„Taehyung…“ Dieses Mal griff er nach mir, fasste meinen Arm und ich wehrte mich zwar gegen den Zugriff, schaffte es jedoch nicht, mich zu befreien.

„Lass mich“, murrte ich, verstummte wieder, weil meine Stimme bereits schwankte und verfluchte dabei die Tatsache, dass allein ein sanfter Tonfall reichte, um meine Fassade einbrechen zu lassen.

„Ach komm her, du Schwachkopf“, raunte Yoongi jetzt, zog mich heran, obwohl ich schon wieder schniefte, umarmte mich und damit war es ganz aus. Ich heulte schon wieder, sank mit einem unterdrückten Schluchzen gegen ihn und legte die Stirn auf seine Schulter.

„Ich bin so ein Idiot“, brachte ich mit brüchiger Stimme hervor.

Yoongi tätschelte meinen Rücken. „Ich weiß.“

„Und es tut so weh, ich vermisse sie so sehr.“

„Ich weiß“, sagte er wieder.

„Ich will sie wiederhaben.“

„Dann ruf sie an“, sagte Yoongi nun ganz ruhig und ich fuhr mit einem aufgebrachten Schnauben hoch.

Unwillig befreite ich mich aus seiner Umarmung, schob ihn weg und wischte mir verlegen über das nasse Gesicht. „Nein! Das geht nicht!“

„Ich weiß“, sagte er wieder so unfassbar ruhig. Doch gerade als ich aufbrausen wollte, packte er mich wieder am Arm, hielt mich fest und ruckte daran. „Ich – weiß – das, Taehyung, okay? Ich weiß es ganz genau, deswegen bin ich hier. Über seine Miene huschte ein düsterer Schatten, ein Schmerz, den wahrscheinlich jeder aus unserer Freundesclique längst vergangen glaubte und deswegen überraschte es mich umso mehr, das jetzt an ihm zu sehen.

Natürlich wusste er es! Immerhin hatte er dieselbe Scheiße mit Minji durch. Minji – damals der aufstrebende Stern am K-Pop-Himmel, voller Ideale und großer Ziele – eines davon war es gewesen, sich niemals von Yoongi zu trennen. Aber Miki, das Frontgirl der derzeit erfolgreichsten Girlband, war Single… und Yoongi auch.

„Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht“, jammerte ich, aber auch darauf ließ sich Yoongi nicht ein. Erst nickte er, dann zuckte er die Schultern, dann wiegte er den Kopf.

„Das spielt doch keine Rolle mehr“, sagte er leise, „hör auf dich damit fertigzumachen.“

„Aber es macht mich alles fertig, verstehst du?!“, begann ich aufgebracht und lief jetzt vor ihm davon zurück in den Wohnraum, wo ja noch mein halbes Bier stand. Missmutig griff ich danach, trank, in der Hoffnung die Tränen damit hinunterspülen zu können. „Alles…“, wiederholte ich erstickt, während ich einmal absetzte um Luft zu holen. „Dass sie nicht mehr da ist, dass ich sie nicht mehr umarmen kann, dass ich nicht mal mehr mit ihr reden kann, dass sie nicht mehr durch die Küche tanzt, dass sie nicht mehr singt, während ich mich auf die Arbeit konzentrieren will, dass-“

„Jetzt hör schon auf damit!“, unterbrach Yoongi schroff mein Gejammere. „Du steigerst dich nur immer mehr rein.“

„Ja aber vielleicht will ich mich ja reinsteigern!“, fuhr ich ihn an und dann… brach ich schon wieder in Tränen aus. Das war doch nicht mehr normal. Weinend sank ich zusammen, hockte jetzt auf dem Boden, die Hände erneut vor dem Gesicht, als ob das irgendwas zurückhalten könnte.

„Herrgott nochmal, Tae“, murrte Yoongi jetzt und hockte sich zu mir. „Weißt du, was ich denke? Du musst hier dringend raus. Wie lange verkriechst du dich hier schon alleine?“

Ich schielte zum Radiowecker. Exakt 22 Stunden und 26 Minuten. Aber das sagte ich natürlich nicht, weil Yoongi mich dann vermutlich als vollkommen wahnsinnig abgestempelt hätte. Da ich nicht antwortete, ergriff er schließlich die Initiative, packte meinen Arm und zog mich in die Höhe.

„Okay, auf jetzt, das reicht. Komm schon, wasch dir das Gesicht, wir gehen.“

Wir gehen? Ich starrte ihn verwirrt an. Glaubte er ernsthaft, ich würde so aus der Tür gehen und mich irgendwem zeigen?

Yoongi rümpfte die Nase. „Wir gehen, Taehyung, keine Widerrede.“ Damit schleifte er mich ins Badezimmer, drehte das Wasser am Waschbecken auf und bevor er nun noch anfangen würde, mich unter den Wasserstrahl zu tunken, wusch ich mir das Gesicht lieber selber. Ob das nun so viel bringen würde, wollte ich bezweifeln, aber Yoongis unnachgiebiger Griff, mit dem er mich immer noch hielt, machte auch klar, dass er mich notfalls verrotzt und verheult durch die Straßen ziehen würde.

Als ich ihn wieder ansah, schnalzte er unwillig mit der Zunge. „Ich hab eine Cap im Wagen“, sagt er nur, was wohl ausreichte, um meinen desaströsen Gesamteindruck zu beschreiben, ohne ihn mit einem Wort zu erwähnen.

Etwa eine halbe Stunde später saßen wir in einer kleinen Bar, Snacks standen auf dem Tisch, Gläser, Sojuflaschen. Drei, um genau zu sein und allmählich erreichte ich ein Level, das wirklich alles ganz herrlich betäubte. Zumindest hatte ich seit 30 Minuten nicht mehr geheult. Das Cap lag neben mir auf dem anderen Stuhl, denn mittlerweile war es mir auch egal, ob irgendjemand mein aufgequollenes Gesicht sah.

Über den Bildschirm an der Wand flimmerten diverse Musikclips und gerade turnte Miki im ultrakurzen Röckchen vor einer elfenhaft verzauberten Landschaft herum, aber Yoongi sah nicht einmal hin. Ich versuchte ebenfalls mich davon nicht ablenken zu lassen, auch wenn mich die Vorstellung, dass ich irgendwann hier sitzen und Sunhee auf dem Bildschirm sehen würde, nicht kalt ließ. Ob ich das verkraften würde? Ich glaubte es nicht. Und so sehr ich ihr wünschte, dass ihr großer Traum wahr wurde, dass sie es schaffen würde, so sehr hoffte ein kleiner, fieser Teil von mir, dass sie scheitern würde. War ich ein beschissener Freund – Ex-Freund – wenn ich so dachte? Ich sank in mich zusammen und stützte den Kopf in die Hände.

„Du bist mit den Gedanken schon wieder irgendwo in der Zukunft“, murrte Yoongi, rüttelte an meinem Arm und brachte mich auf diese Weise dazu, wieder aufzusehen. „Taehyung, komm schon. Du hast mir gesagt, ihr habt immer und immer wieder darüber gesprochen. Was war das Ergebnis?“

„Dass ich sie liebe“, murmelte ich lahm, ignorierte sein Schnauben, wartete dass er einschenkte und trank. Dann hatte ich mich wieder etwas in der Gewalt und gab meiner Antwort etwas mehr Substanz. „Dass ich sie liebe und dass ich ihr deswegen nicht im Weg stehen will. Dass es richtiger ist, wenn sie versucht ihren Traum zu leben, anstatt an… uns… festzuhalten.“

„Und? Stehst du immer noch dazu?“

„Ja, verdammt!“, knurrte ich, schenkte dieses Mal selber ein und kippte den Alkohol in mich hinein. Natürlich stand ich dazu, immerhin war es mein Vorschlag gewesen. Ich hatte es ausgesprochen, ich hatte unsere Beziehung beendet. All das war ich, ich, ich gewesen.

„Und Sunhee?“

Wild schüttelte ich den Kopf. „Sag nicht ihren Namen.“

„Taehyung…!“ Jetzt klang er mahnend.

„Ernsthaft, Yoongi, wenn du ihren Namen sagst, fange ich nur wieder an zu heulen und das will ich nicht.“

„Also schön, dann eben nur sie.“

„Sie…“, meine Stimme zitterte. „Ach scheiße. Sie hat gesagt, dass sie… noch nicht bereit ist, die letzte Konsequenz zu ziehen, aber…“ Ich atmete bebend ein und wieder aus. Warum gab es hier so wenig Sauerstoff? Mir war schon ganz schwindlig. „…dass sie meine Entscheidung akzeptieren würde.“

„Okay“, sagte Yoongi nur, nahm meine Hand und hielt sie fest. Womöglich hatte er nur gewollt, dass ich es einmal laut ausspreche und ja, gerade konnte ich etwas leichter atmen. Ich seufzte.

Es war ja nicht so, dass Sunhee und ich uns nie gestritten oder immer die perfekte Beziehung geführt hätten. Kein Stück. Wir waren beide impulsiv, konnten in Sekunden hochgehen und explodieren, wir konnten streiten, sehr laut, sehr ehrlich. Manchmal zu ehrlich. Aber wir konnten uns auch versöhnen, vernünftig miteinander reden. Probleme lösen, Kompromisse eingehen. Wir hatten immer gekämpft um unsere Beziehung. Gegen meine Freunde, gegen ihre Eltern, gegen die halbe Welt, wenn man so wollte und je mehr Gegenwind wir bekamen, desto stabiler waren wir als Paar geworden. Irgendwann hatte sich bestimmt bei uns beiden die Vorstellung verankert, dass wir niemals ohne einander sein würden. Immerhin funktionierte das jetzt schon über sieben Jahre. Mit 15 Jahren wollte ich einfach nur das Mädchen mit dem meterlangen Pferdeschwanz kennenlernen, weil ich sie unfassbar toll fand, wenn sie fluchend und schimpfend ihren Schläger über das Netz warf, wenn sie beim Badminton verlor. Nicht sehr mädchenhaft, zugegeben und eine Unart, die sie recht schnell ablegte, trotzdem blieb es in meinem Kopf verankert. Aber dann schaffte ich es mit meiner unbeholfenen und tollpatschigen Art tatsächlich, dass Sunhee mit mir ein Eis essen ging und irgendwo zwischen der Sahneschlacht und dem Kampf um die letzte Erdbeere wurde mir wohl klar, dass dieses Mädchen schlicht und ergreifend mein Mädchen war. Nur sie. Keine andere.

Ein Jahr später war sie ganz offiziell meine Freundin. Nun, was man in diesem Alter eben so als feste Freundin oder Freund bezeichnete. Von den meisten wurden wir belächelt, für sie und mich war es sehr ernst. Wie ernst zeigte sich schon ein halbes Jahr später, als sie als Trainee angenommen wurde.

Jeder sagte mir, es würde nicht gutgehen, alle sagten mir, wir würden nicht zusammenpassen. Zu unterschiedlich wären unsere Familien, unsere Herkunft, unsere Zukunftsplanung, unsere Träume. Wirklich alle, nur Sunhee nicht. Sie war immer zuversichtlich.

„Ach TaeTae, mein alter Grummelbär, was juckt es mich, was andere sagen?“ Und dann hatte sie gelacht, war notfalls im Schreibtischstuhl über mich gekrabbelt und hatte mir mit blitzenden Augen die Haare zerwühlt.

„Ich gebe dich nicht her.“ Wie oft hatte ich das gehört?

„Ich gebe dich nie mehr her, TaeTae-Bär.“ Selbst dann nicht, als ihre Manager ihr nahegelegt haben, die Beziehung zu beenden. Nicht, weil es grundsätzlich verboten war, sondern weil sie wollten, dass Sunhee sich auf das Wesentliche konzentrierte und das war nun Mal nicht ich.

Wir hatten unsere Schulhofliebe über die Zeit gerettet und waren mit ihr erwachsen geworden. Mit allen Höhen und Tiefen, vor allen mit den Tiefen. Und dann standen wir plötzlich vor dem Abgrund.

„Taehyung.“ Umständlich löste Yoongi die Finger aus meinem Griff. Dass ich seine Hand fast verzweifelt gepackt hatte, war mir noch nicht mal bewusst gewesen. Jetzt allerdings gab ich seine Hand frei, entschuldigte mich mit einem leisen Murmeln und hielt mich stattdessen wieder an meinem Sojuglas fest. Yoongi seufzte kaum hörbar und schenkte ein.

„Wo schläfst du heute Nacht?“

Noch bevor ich antworten konnte, schüttelte er energisch den Kopf. „Mh-mh, auf keinen Fall in der alten Wohnung. Kommt überhaupt nicht in Frage. Du wirst dich nicht dort auf den Boden legen und im heulenden Elend versinken.“

Warum nicht, es klang verlockend.

„Du kommst mit zu mir“, entschied er nun, unterstrich das mit einer knappen Geste und lehnte sich zurück, womit klar war, dass ich keinen Einwand mehr vorbringen brauchte. Also stimmte ich mit einem schwachen „okay“ zu, in der Hoffnung, dass ich wenigstens die Flasche noch leeren durfte.

Durfte ich, sogar fast alleine und entsprechend betrunken war ich, als Yoongi mich am Arm packte und zum Auto schleppte.

  

꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷

  
Bei ihm Zuhause angekommen, ging es mir schon viel besser. Ich konnte zwar kaum mehr alleine laufen. Fand mich einmal verwirrt in der Küche wieder, obwohl ich ins Bad wollte und wurde von Yoongi recht rabiat in einen Sessel bugsiert, als ich ihm helfen wollte, die Couch für die Nacht herzurichten – aber sonst ging es mir echt prächtig.

So hing ich über dem Sessel, starrte an die Decke und dachte nach. Seine Lampe machte komische Muster auf der ohnehin fragwürdigen Tapete, sah aus wie Bluttupfer, oder Rubine, oder… Erdbeeren! „Hab ich dir schon mal erzählt wie wir uns kennengelernt haben?!“, fragte ich euphorisch und dachte an Eisbecher und Erdbeeren. Sunhee liebte Erdbeeren.

„Gefühl 127 Mal“, knurrte Yoongi, kämpfte mit einer Decke und wuselte herum. Olle Spaßbremse.

Aber der Gedanke an Eisbecher brachte mich auf Urlaub und auf… „Uuund haaab ich dir schon erzählt, wie Sunhee und ich auf Jeju waren?!“

„Nein“, raunte Yoongi, „ist mir völlig neu, hab ich noch nie gehört…“

„Wirklich?!“ Ich war begeistert. Schwungvoll setzte ich mich auf, alles drehte sich. „Oh, das muss ich dir erzählen. Das war so schön. Also-“

„Taehyung – halt die Klappe. Das war Sarkasmus.“

„Oh.“ Ich seufzte und ließ mich wieder umfallen, um weiter das verworrene Muster auf der hässlichen Tapete zu betrachten. Das war wirklich sehr schade, ich hätte ihm so gerne davon erzählt. In meinem Kopf stapelten sich gerade 1001 wunderschöne Momente mit Sunhee und ich wollte sie so gerne mit jemanden teilen. Immerhin… Ich seufzte schwer.

„Wenn du noch einmal so seufzt, stecke ich dich mit allen Klamotten in die Dusche, klar? Du bist betrunken, Taehyung und das nicht zu knapp, hör auf, dich an schöne Bilder zu klammern, spätestens wenn du nüchtern wirst, lässt du wieder die Ohren hängen wie ein gebeutelter Hund. Vielleicht wäre es besser, du schläfst jetzt einfach.“

Er hatte ja recht – wahrscheinlich – also trottete ich wackelig ins Bad, putzte mir irgendwie die Zähne, nahm die Klamotten die Yoongi mir hingelegt hatte und schlappte irgendwann in seinem Shirt und seiner Jogginghose wieder zurück ins Wohnzimmer. Nun brannte nur noch eine kleine Stehlampe und ich kroch, auf seinen Fingerzeig hin, gehorsam auf das Schlafsofa und zog die Decke über mich.

„Morgen wird es beschissen sein, oder?“

„Ja“, murmelte Yoongi, der sich in den Sessel an meinem Kopfende gesetzt hatte. „Und übermorgen auch, und nächste Woche immer noch, aber irgendwann wird es besser, versprochen.“

„Hm…“ Ich nickte und streckte eine Hand über die Armlehne. „Kannst du noch ein bisschen hierbleiben.“

Seine Finger legten sich auf meine. „Ein bisschen.“

„Mmh…“, machte ich wieder. „Und… kann ich dir was erzählen?“

„Was möchtest du mir denn erzählen?“

„Über… Ich bin ein schlechter Freund, oder? Sie hat sich so gefreut und ich war nur schockiert“, murmelte ich vor mich hin. In meinem Kopf wurde der Tag lebendig, der alles eingeläutet hatte, der Tag, an dem Sunhee heimgekommen und mich vor Freude jauchzend angesprungen war. Endlich gab es ein Debütdatum.

Endlich geschafft.

  

꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷

  
Sie sprang auf das Bett und setzte zu einem wilden Luftgitarrensolo an, ich saß auf der Bettkante und versuchte zu lächeln. Wahrscheinlich gelang es mir nicht gut, glich es eher einer Grimasse, denn Sunhee stoppte ihren Freudentanz, hopste zu mir und krabbelte auf meinen Schoß. Ihre Finger zupften an meinen Mundwinkeln und schoben sie nach oben.

„Was machst du für ein Gesicht?“

„Ich – bin nur überrascht.“ Lüge.

Sunhee neigte den Kopf, lächelte vage und suchte in meinen Augen wohl nach der Wahrheit. „Was noch – außer überrascht?“

„Nichts“, ich zwang eine bemühte Leichtigkeit in meine Stimme, aber auch das gelang mir wohl nur mäßig, denn jetzt wurde sie ganz ernst, strich durch meine Haare, verschränkte dann die Hände in meinem Nacken und lehnte die Stirn an meine.

„TaeTae-Bär…“

„Alles okay“, wiegelte ich ab.

„Nichts ist okay. Du grummelst, du machst dir Sorgen – rede mit mir.“

„Ach“, brummelte ich. „Ich muss mich nur erst an den Gedanken gewöhnen, wie es sein wird, wenn du nicht mehr hier bist.“

„Ich bin immer hier.“ Sie lächelte schwach, löste ihre Hände und legte eine davon auf meine Brust. „Ich bin immer hier“, wiederholte sie flüsternd und küsste mich.

„So meinte ich das nicht. Du wirst im Wohnheim schlafen, bei deinen Mädels.“

„Und ganz oft bei dir sein.“

Wohl kaum. Ich nahm ihre Hände, unterdrückte ein Seufzen und sah sie an. „Du wirst ständig unterwegs sein.

„Und immer wieder zu dir heimkommen.“

Aber das war nicht dasselbe, oder? Ich wich ihrem Blick aus und starrte auf unsere verschränkten Finger. „Ich… Vielleicht habe ich einfach nur Angst, okay?“ Oh shit, hatte ich das laut ausgesprochen? Nun – jetzt war es zu spät. Ich sah auf und ihr aufmerksamer Blick traf mich. „Wir müssen alles geheimhalten.“

„Das müssen wir doch jetzt auch schon.“

„Ja sicher, aber… Ich wollte mit dir alt werden.“

Sunhee neigte den Kopf etwas. „Das will ich auch.“

„Und ich wollte… Kinder mit dir haben.“

Sie prustete leise. „Ist das nicht ein bisschen früh?“

„Nicht jetzt“, grummelte ich leidlich eingeschnappt, weil sie nicht erkannte, wie sehr es mich tatsächlich bedrückte. „Aber später.“

„Das will ich auch“, sagte sie wieder, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich noch einmal. Aber ich machte mich von ihr los, wollte mich nicht so einfach ablenken lassen.

„Tae…“

„Nein“, wiegelte ich ab. „Ich will dir nicht deinen Traum kaputtmachen, okay? Du darfst das nicht missverstehen. Es fällt mir nur gerade schwer, uns beide in diesem Traum zu sehen.“

Dazu nickte Sunhee, krabbelte von mir herunter und nahm meine Hand. Sie schlüpfte unter die Bettdecke, bedeutete mir, dasselbe zu tun und flüsterte in die aufkommende Stille: „Ich will irgendwo am Stadtrand leben, ich hätte gerne einen kleinen Garten.“

Also stellte ich mir das Haus am Stadtrand vor. „Und einen Wintergarten?“, fragte ich zurück.

„Ja“, stimmte sie zu. „Ein Wintergarten wäre schön.“

„Und ein Baumhaus für die Kinder.“

„Und eine Schaukel!“

„Für die Kinder?“, ich wandte mich ihr zu und Sunhee lachte, während sie den Kopf schüttelte. „Nein, für mich.“ Dann rollte sie sich herum und küsste mich erneut. „Ich schicke dir Briefe und Postkarten aus jeder Stadt in der ich bin.“ Das klang schon ernster.

„Und ich schickte dir Bilder vom Schreibtisch.“

Ich spürte, wie sie an meinem Mund schmunzelte. „Ich will jeden Tag deine Stimme hören.“

Es waren bescheidene Wünsche, aber wir füllten diese Nacht damit und am Ende waren es so viele, dass wir ein Leben damit zu tun haben würden, sie alle wahrzumachen. Und immer noch hielt sie meine Hand.

„Ich lass dich niemals los, TaeTae“, flüsterte Sunhee an meinem Mund.

  

꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷

  
Doch schlussendlich war ich derjenige gewesen, der sie losgelassen hatte. Nicht mal drei Monate später, als ich es nicht mehr ertragen hatte, mich an das Bild einer Zukunft zu klammern, dass ich nicht sehen konnte. Denn dort in der Zukunft war nur sie, strahlend schön im Rampenlicht, aber eben nur sie allein. Ich gehörte nicht in dieses Bild und nicht in ihre Welt. Ich musste sie gehen lassen, das wurde mir schließlich klar.

„Ich bin ein schlechter Freund, oder?“, wiederholte ich brabbelnd meine Frage an Yoongi.

„Nein“, sagte er ruhig und tätschelte meine Hand. „Du bist nur ehrlich und das ist gut so.“ Er sagte noch mehr, aber die Worte flogen einfach an mir vorbei und versickerten im Nichts.

In dieser Nacht träumte ich von einem Haus mit Garten, von tobenden Kindern und von Sunhee, die lachend auf einer Schaukel saß und als ich aufwachte, war jede Wirkung des Alkohols verflogen. Ich weinte wieder, kam mir dabei schrecklich dumm vor und schämte mich ein wenig, während Yoongi kommentarlos einen Kaffee neben mir abstellte und mir außerdem Taschentücher reichte.

„Scheiße… es tut mir leid, dass ich so bin“, murmelte ich, konnte es aber trotzdem nicht abstellen. Yoongi nickte nur, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und starrte dann auf die schwarze Flüssigkeit in seiner Tasse.

„Es muss dir nicht leidtun und du musst dich nicht schämen. Weißt du, jemanden zu verlassen heißt nicht, einfach nur zu gehen. Jemanden verlassen heißt auch, aufhören zu erwarten, dass diese Person zu dir zurückkommt. Jemanden zu verlassen, den man liebt bedeutet, dass man stark genug war, sein eigenes Herz zu brechen, um dem anderen, aber auch sich selbst die Chance auf etwas Neues zu geben. Das ist der Punkt, Tae. Und erst wenn du an diesem Punkt angekommen bist, wird es besser, also nimm dir Zeit.“

An diesem Morgen taten seine Worte weh, weil ich noch längst nicht an dem Punkt war, Sunhee loszulassen. Das Richtige zu tun und auch selbst dazu zu stehen, sollte ein Prozess werden, der mich monatelang beschäftigte und auch heute noch – fast ein Jahr später – immer wieder mal einholte. Aber heute war es anders. Heute konnte ich in der Bar sitzen, auf den Monitor blicken und mir ein Musikvideo ansehen. Ich konnte ihr Lachen hinnehmen, ihr Strahlen, das Funkeln in ihren Augen.

Ich konnte ihr still alles Gute wünschen und hoffen, dass sie glücklich war.

~FIN~
 


  
꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷꒦꒷⏝꒷
 
Enem14

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top