Die Begegnung
Went from an daydream, into a nightmare
Your words had filled me
But now there's nothing there
You say you're sick and tired
I'll say it crystal clear
If I'm a waste of space
Then rock it outta here
~The royal - This isn't Love
Erschöpft drückte ich mich gegen die Felswand meines Unterschlupfes und zwang mich, meine müden Augen offen zu halten. Sobald ich mir erlaubte, sie für einen Moment zu schließen, sah ich schreckliche Bilder vor mir. Männer, die hilflose Menschen töteten. Krieger, die Jagd auf ihre menschliche Beute machten. Gefallene, die aus toten Augen gen Himmel blickten. Bilder, die ich wirklich gesehen hatte. Ich hatte in den letzten Tagen viele Tote gesehen und bald würde ich einer von ihnen sein.
Momentan glaubte ich mich in meinem Unterschlupf, nicht mehr als eine kleine Einbuchtung im Fels, keine zwei Meter tief, in Sicherheit, doch bald würde ich erneut mich herauswagen müssen, um nicht zu verhungern.
Bis jetzt hatte ich Glück gehabt, ich hatte Süßwasser in einer Pfütze gefunden und den Kadaver eines gerissenen Tieres. Es hatte mich angeekelt, meine Zähne in das rohe Fleisch zu graben und ich hatte mich zwingen müssen, es nicht sofort wieder hochzuwürgen, doch ich hatte bis jetzt überlebt, was fast schon einem Wunder glich.
Auf einmal hörte ich Schritte draußen auf dem nassen Laub und alles in mir schrie nach Flucht, doch ich konnte mich nicht bewegen. Selbst als ich die Person immer näher auf meinen Unterschlupf zukommen hörte, bewegte ich mich nicht, drückte mich nur noch näher an die Wand. Dann sah ich eine große Gestalt vor den Eingang meiner kleinen Höhle treten, keine zwei Meter von mir entfernt. Der junge Mann war hoch gewachsen, kräftig, wachsam und muskulös, in der rechten Hand ein langes Schwert und drei Messer an einem Gürtel um seine Hüfte. Auf dem Rücken trug er einen ledernen Rucksack. Er musste einer von denen sein, die bei den Truhen gewesen waren, um die so hart gekämpft worden war. Ängstlich schaute ich in sein Gesicht, eine braune Strähne fiel ihm vor die Stirn und seine dunkelbraunen Augen musterten mich mit einem tödlichen Blick. Ich merkte, wie er mich musterte und abschätzte, klein, schwach, ausgehungert und mit den Kräften am Ende, unbewaffnet, bereit für den sicheren Tod. Als er einen Schritt auf mich zutrat, drückte ich mich noch fester an die Wand in meinem Rücken, kauerte mich in meine Ecke und klammerte mich an einen kleinen Stein, den ich in der Hand hielt. Mit einem letzten Blick in das Gesicht meines Mörders und einer einzelnen Träne, die über meine Wange rann, schloss ich die Augen ind wartete auf den tödlichen Schlag, betete bloß noch um einen schnellen Tod.
Umso mehr erschrak ich, als ich eine Stimme hörte, tief und melodisch, und es dauerte eine Weile, bis ich sie dem Jungen zuordnen konnte:
»Steh auf«, wiederholte er seinen Befehl mit fester Stimme und ich beeilte mich, seiner Aufforderung nachzukommen. Es war nicht ratsam, jemanden zu verärgern, der dein Leben in seinen Händen hielt. Mit großen Augen verfolgte ich jede Bewegung meines Gegenübers, der den Kopf schief gelegt hatte und mich ebenso eingehend musterte.
Lange bewegte sich keiner von uns und ich versuchte, das ängstliche Zittern zu unterdrücken, das mich am ganzen Leib schüttelte, jedoch vergeblich.
Endlich kam Bewegung in den größeren und er nahm mit geschmeidigen, raubtierhaften Bewegungen seinen Rucksack vom Rücken. Während er darin kramte, begann er erneut zu sprechen:
»Wie heißt du?«, stellte er eine Frage, die ganz eindeutig an mich gerichtet war. Mir kam es in diesem Moment wie ein Wunder vor, noch am Leben zu sein und so antwortete ich mit zitternder Stimme wahrheitsgemäß:
»Ich... Ich weiß nicht.«
Der Braunhaarige unterbrach seine Arbeit und blickte zu mir. Ich wich instinktiv wieder weiter zurück, bis ich an den kalten Stein gepresst dastand. Ich hatte Ansgt, was er vorhatte, warum er mich nicht sofort umgebracht hatte, sondern mich quälte, indem er es so lange herauszögerte.
»Wie wirst du hier in der Arena genannt?«, fragte er weiter. Mit Arena schien er das Gebiet zu meinen, das durch die milchige Wand abgetrennt war und uns alle hier einsperrte. Er schien nicht überrascht zu sein, dass ich meinen Namen nicht wusste, keiner von uns konnte sich an die Zeit erinnern, bevor er in der Arena erwacht war.
»Ich... Niemand hat je mit mir hier drinnen gesprochen. Ich habe keinen Namen.«
Er nickte bloß und fuhr dann fort, in seiner Tasche zu suchen.
»Keine Sorge, ich werde dich nicht töten«, verkündete er und ließ damit mein Herz einen Schlag aussetzen. Ich hatte mich tot geglaubt, war bereit gewesen, zu sterben. Und er behauptete nun, mich nicht umbringen zu wollen?
Aber tatsächlich zog er nun aus seiner Tasche keine Waffe, sondern einen etwa fingerbreiten Strick, den ich auf mehrere Meter Länge schätzte. In den Truhen schienen nicht nur Waffen sondern auch allerlei anderes Zeug gewesen zu sein.
Als er jetzt einen weiteren Schritt auf mich zutrat, bis er direkt vor mir stand, verkrampfte sich mein ganzer Körper und ich fühlte mich, als würde ich auf der Stelle um einige Zentimeter schrumpfen, doch das war gar nicht nötig, denn auch so war mein Gegenüber fast einen Kopf größer als ich. Wie die Maus die Katze, wie das Schaf den Wolf schaute ich ihn ängstlich an und zuckte erschrocken zusammen, als der Fremde nach meinen Handgelenken griff und sie bestimmt zu sich hinzog. Er fixierte mich mit solch einem durchdringenden Blick, dass ich es nicht wagte, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, als er meine Arme wieder losließ. Ohne seinen Blick abzuwenden wickelte er bedacht das Ende des Strickes um meine Handgelenke und band sie zusammen. Das Ganze verschloss er mit einem festen Knoten. Mit beiden Händen prüfte er die Fessel und nickte schließlich zufrieden. Ich versuchte, vorsichtig meine Hände zu bewegen, doch ich scheiterte.
Der fremde Junge griff nun nach dem anderen Ende des Seils und wickelte es vorsichtig auf, bis er sich schließlich wieder mir zuwandte:
»Hör zu: Ich habe nicht vor, dich zu töten. Aber ich werde auch nicht davor zurückschrecken. Hast du mich verstanden?«, fragte er mit kalter Stimme und ich beeilte mich, zu nicken. Über meinen ganzen Körper hatte sich Gänsehaut gezogen.
»Gut. Gibt es einen Namen, wie ich dich nennen soll?«
Ich senkte den Kopf und schüttelte ihn leicht. Bis jetzt hatte ich keinen Namen gehabt, da ich keinen gebraucht hatte. Doch nun, da ich einen brauchte, hatte ich keinen. Der Fremde schien zu überlegen.
»Stegi.«, beschloss er nun, »Ich nenne dich ›Stegi‹. Wenn du einverstanden bist.« Ich wunderte mich kurz, warum er mich überhaupt nach meinem Einverständnis fragte, obwohl er eigentlich die Macht hatte, alles mit mir zu machen, was er wollte, doch dann nickte ich.
»Okay, Stegi. Wo sind deine Sachen? Wir wollen aufbrechen.«, wollte er wissen, wieder schüttelte ich nur den Kopf.
»Ich habe nichts weiter«, erklärte ich und kurz meinte ich, etwas in seinen Augen aufblitzen zu sehen, doch dann nickte er.
»Dann lass uns gehen«, kündigte er an und schulterte erneut den Rucksack, bevor er ein paar Runden des aufgerollten Seils abwickelte. Von meinen gefesselten Handgekenken zu seiner Hand war nun ein guter Meter Platz und er wollte gerade den ersten Schritt aus meiner Höhle hinauswagen, als ich all meinen Mut zusammennahm, und ihn nach seinem Namen fragte. Er drehte sich zu mir um und schien kurz zu überlegen, doch dann antwortete er mit seiner tiefen, melodischen Stimme.
»Tim. Mein Name ist Tim.«
Das Land, über das wir uns bewegten, war immer bergiger geworden und immer häufiger konnte ich dunkle Höhleneingänge und tiefe Schluchten im Boden erkennen. Mein Herz klopfte wild vor Angst, den falschen Weg zu nehmen und mit gebrochenem Genick hundert Meter in der Tiefe auf hartem Stein aufzuschlagen, doch Tim steuerte unbeirrt zwischen den steilen Abhängen auf sicherem Pfad hindurch. Man merkte ihm an, dass er sich meinetwegen im Tempo stark zurückhielt und ich war ihm sehr dankbar dafür, auch wenn ich trotzdem noch mehrmals über meine eigenen Füße stolperte und unsanft zu Boden fiel. Jedes Mal blieb der fremde Junge stehen und wartete, bis ich wieder sicher auf den Beinen war, bevor er seinen Weg stumm fortsetzte. Auch gerade rappelte ich mich erneut auf und versuchte, den Schmerz meiner aufgeschlagenen Knie zu verdrängen. Zusätzlich machte die Müdigkeit mir zu schaffen, ich hatte es seit Tagen nicht gewagt, zu schlafen, und Tim schien zu merken, wie ich immer stärker humpelte. Irgendwann deutete er auf eine Felsspalte in ungefähr zweihundert Metern Entfernung und wendete sich mir zu.
»Dorthin noch, okay? Dann können wir uns ausruhen. Schaffst du das?«, erkundigte er sich fast schon besorgt. Ich nickte tapfer und begann, die Schritte zu zählen. Als wir endlich an der Felsspalte ankamen, kroch Tim vorsichtig hinein, kurz darauf rief er mich mit dem neuen Namen, den er mir gegeben hatte. Stegi.
Ich spürte einen leichten Zug an meinen Handgelenken und konnte nicht anders, als hinter ihm in die Höhle zu kriechen, auch wenn ich dafür ein Vielfaches der Zeit brauchte, die er dafür benötigt hatte, was zum einen an meinen gefesselten Händen, zum anderen daran lag, wie unglaublich müde und kaputt ich war.
Als ich durch den Spalt durchgekrochen war, sah ich, dass die Höhle sich nach oben hin vergößerte, so dass ein fast runder Raum von ungefähr drei Metern Durchmesser entstand, hoch genug, dass ich aufrecht darin stehen konnte. Tim tat sich da etwas schwerer, er stand gebückt an der Felswand und breitete gerade eine dünne Decke, die an seiner Tasche befestigt gewesen war, auf dem Steinboden aus. Erwartungsvoll sah ich zu ihm, ob er etwas sagen wollte, da es aber nicht den Anschein machte, ließ ich mich an einer Wand hinuntergleiten, so weit es der Strick um meine Hände möglich machte, von ihm entfernt. Ich starrte ausdruckslos auf die mir gegenüberliegende Wand und bekam nur am Rande mit, wie Tim verschiedenste Dinge aus seinem Rucksack zog. Erst als er direkt neben mir kauerte, in die Hocke bis auf den Boden gegangen und somit mit mir auf Augenhöhe war, konzentrierte ich mich wieder auf ihn. Ich blinzelte ein paar Mal, um sein verschwommenes Gesicht vor meinen Augen scharf stellen zu können und sah dann verwirrt auf das Stück geräucherte Fleisch, das er mir hinhielt.
»Nimm es. Du musst etwas essen«, erklärte er.
Vorsichtig griff ich danach und drehte es ängstlich in meinen Händen. Ich hatte Hunger, großen Hunger. Mein Magen verkrampfte sich bei dem Anblick des Essens schmerzhaft zusammen, ich hatte seit Tagen nichts mehr zu mir genommen. Und trotzdem war ich mir unsicher. Erst auf seine auffordernden Blicke hin biss ich schließlich davon ab. Ich hatte das Gefühl, noch nie in meinem Leben etwas besseres gegessen zu haben und ließ den Bissen genüsslich auf der Zunge zergehen, bevor ich einen weiteren nahm.
Als er nach meinen Händen griff, dachte ich zuerst, er wolle mir das Essen wieder wegnehmen, umso mehr wunderte es mich, als er geschickt den Knoten meiner Fesseln löste und das Seil zusammenrollte. Ich wehrte mich nicht, als er meine Handgelenke ergriff und sie vorsichtig drehte, so dass er von allen Seiten die roten Abdrücke und Aufschürfungen sehen konnte, die das Seil hinterlassen hatte. Während er mich berührte, drohte die Panik mich erneut zu überkommen und ich saß nur regungslos da, eingeschüchtert und an die Wand gedrängt. Irgendwann ließ er meine Handgelenke mit einem Seufzer los und ging wieder zu seinem Rucksack, um erneut darin zu wühlen. Es dauerte einige Zeit, bis ich wieder dazu bereit war, weiterzuessen, doch dann genoss ich jeden Bissen und das Gefühl, wieder etwas im Magen zu haben, das sich schnell einstellte.
»Woher hast du das Essen?«, erkundigte ich mich leise, doch laut genug, als das er es hörte.
»Das geräucherte Fleisch ist aus den Truhen, wie das Meiste hier. Aber ich habe auch schon selbst Fleisch besorgt, Hasen, Schafe und Schweine.«
Ich schaute ihn überrascht an:
»Es gibt Schafe und Schweine hier?«
Er lachte auf: »Und Hasen. Und noch eine Menge anderer Tiere. Sag bloß, du hast noch keines davon gesehen. Was hast du denn bis jetzt gegessen?«, erkundigte er sich etwas ungläubig. Ich senkte meinen Kopf zu Boden und es dauerte einige Augenblicke, bis ich zu sprechen ansetzen konnte. Bei jedem Wort kamen Erinnerungen hoch, die ich am liebsten vergessen hätte. Altes rohes Fleisch, das ich hinunterzwang, um zu überleben, angegeammeltes Obst und Gemüse, das die Krieger unter uns zurückgelassen hatten.
»Ich hatte nicht viel. Oft tagelang nichts. Ansonsten alles was ich gefunden habe.«, gestand ich kleinlaut.
Kurz schaute Tim mich mit einem undefinierbaren Blick an, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich glaub, ich will es gar nicht genauer wissen«, erklärte er mit leicht angeekeltem Gesichtsausdruck und ich senkte verschämt den Blick.
»Nein, willst du nicht«, murmelte ich leise und versuchte, eine Träne zu unterdrücken, die sich ihren Weg durch mein Gesicht bahnen wollte. Ich wollte nicht, dass sich jemand für mich ekeln musste, vor mir ekeln musste, aber es war so. Ich hatte in den letzten Tagen so viele Dinge getan, auf die Ekel und Abscheu die einzig richtige Reaktion war. Ich hatte zugesehen, wie Menschen starben, ohne einen Finger zu rühren, hatte die ganze Zeit über nur an mich gedacht. Ich hatte Wasser aus schlammigen Pfützen genossen und Blätter und Gras ausgesaugt und gekaut, um mich daran etwas zu sättigen. Und schließlich hatte ich sogar eine halb verkommene Tierleiche mit meinen bloßen Händen zerrissen und geschändet, nur um das rohe, stinkende Fleisch herunterzuwürgen. Nun konnte ich nicht mehr verhindern, dass die erste Träne über meine schmutzige Wange rann und ihr folgte ein ganzer Fluss an Tränen. Ich fühlte mich dreckig und wertlos, ich würde mir nie verzeihen können, wie ich mich verhalten hatte und auch jetzt noch verhielt. Da draußen jagten sich Menschen und töteten sich gegenseitig und ich saß hier, gesättigt und in Sicherheit und versank in Selbstmitleid. Wer wusste schon, wie viele Menschen in eben diesem Moment verdursteten, verhungerten oder umgebracht wurden von einem der Monster, deren furchteinflößende Schreie mir jede Nacht den Schlaf stahlen, oder von einem anderen Gegner, einem der Krieger, der bewaffneten Kämpfer, die sich gleich zu Anfangs in die Schlacht um die wertvolle Beute in den Kisten gestürzt hatten. Einem der Krieger, wie mir hier gegenüber saß und mich mit traurigem Blick gemustert hatte, kräftig, wohlgenährt und schwer bewaffnet, uns traurigen Gestalten, ausgezehrt und mehr tot als lebendig, hoffnungslos überlegen. Ich glaubte zu wissen, dass kaum einer noch am Leben war, der sich nicht gleich in der ersten Sekunde des Spiels für den Kampf entschlossen hatte. Das Spiel war bereits in der allerersten Sekunde entschieden worden. Wer beschlossen hatte zu kämpfen, lebte, wer geflohen war, war tot. Dass ich noch atmete grenzte an ein Wunder und war vor allem meinem verachtenswerten Verhalten zuzuschreiben, meiner fehlenden Skrupel allem gegenüber. Ich war ekelhaft und deswegen lebte ich. Und wegen des Jungen, der mir hier gegenüber saß und mich immer noch musterte, der mich so leicht hätte töten können, stattdessen mir aber zu essen gegeben hatte. Ich wusste nicht warum, aber er hatte mir Gnade erwiesen, Gnade, die ich nicht verdiente und trotzdem bekommen hatte, Gnade, die so vielen anderen zugestanden hätte. Ich wusste, dass ich sein Gefangener war und jederzeit mit dem Tod rechnen musste, aber ich war dankbar dafür, für jede Minute, die mir blieb. Immer noch liefen mir Tränen ungehindert über die Wangen und meine Versuche, jedes Geräusch zu unterdrücken scheiterten erbärmlich. Erbärmlich. Das war, was ich war. Ein Schluchzer von mir unterbrach die eiserne Stille unseres Verstecks und der Junge schaute besorgt zu mir.
»Warum weinst du?«, fragte er, doch ich war nicht in der Lage, den Ton in seiner Stimme zu deuten.
»Tut mir leid, ich... Tut mir leid.« Ich war nicht in der Lage, eine Erklärung für mein Verhalten zu finden, so stotterte ich bloß zusammenhanglos herum. Zu meinem Glück zuckte er nur mit den Schultern und wandte sich wieder von mir ab, ohne dem kleinen heulenden Etwas, das ich war, weitere Beachtung zu schenken. Ich hatte Angst vor ihm, vor seinen Reaktionen und jeder seiner Bewegungen, denn jede davon konnte meinen Tod bedeuten. Er war mir unbestreitbar überlegen und hielt mein Leben in seinen Händen. Irgendwann stand Tim wortlos auf und reichte mir einen Trinkschlauch mit Wasser.
»Trink. Hier zählt jeder Tropfen.Verdursten ist ein langsamer Tod, das wünscht du dir nicht.«, erklärte er. Ich schaute ungläubig in sein Gesicht, doch er nickte mir nur bestätigend zu. Wasser war das Wertvollste, was es für uns hier in diesem Spiel gab und er gab mir davon. Vorsichtig nahm ich einen kleinen Schluck, dann einen etwas größeren. Das kühle Wasser floss angenehm meinen trockenen Hals hinunter und gierig trank ich davon. Nach wenigen Schlucken zwang ich mich dazu, aufzuhören, ich wollte dem merkwürdigen Fremden nicht sein ganzes Wasser wegtrinken. Mit gesenktem Blick reichte ich ihm den Schlauch zurück und auch er trank einige Schlucke, bis er ihn wieder fest verschloss und an seinem Gürtel befestigte.
»Warum tust du das?«, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Meine Worte hallten in der kleinen Höhle nach und ich wagte es nicht, vom Boden aufzusehen.
»Ich weiß es nicht«, gab der Junge zu, ich wartete noch auf weitere Erklärungsversuche, doch damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein.
Ich zittere inzwischen am ganzen Körper, doch versuche, es zu unterdrücken. Ich habe schon so viele Nächte durchgestanden, die mir das Mark in den Knochen gefrieren hatten lassen, und diese würde nur eine weitere davon sein. Ich hörte den Fremden aufseufzen.
"Ich denke einmal nicht, dass du sonderlich erpicht darauf bist, an meiner Seite zu schlafen?", brummte er und ich blickte ängstlich in seine Richtung. War er sauer? Im nächsten Moment wurde ich eines besseren belehrt und fing reflexartig die Decke auf, die auf mich zuflog.
"Ich muss sowas von dumm sein. Warum mach ich das überhaupt?", hörte ich ihn leise zu sich selbst murmeln, während er sich neben den schmalen Eingang auf den steinernen Boden legte.
"Danke", flüsterte ich leise und er brummte als Bestätigung, dass er es gehört hatte.
"Gewöhn dich nicht daran", mahnte er murrend während ich mich in den dünnen Stoff kuschelte. Ich sah noch einmal zu ihm, um zu sehen, ob er tatsächlich sauer war und wenn ja, warum, schließlich war es sein Angebot gewesen, doch er schien meinen Blick falsch zu deuten.
"Denk nicht einmal daran.", fauchte er, "Wenn du versuchst, hier abzuhauen, dann werde ich das merken. Und dann kannst du dich von deinem Leben verabschieden.", drohte er. Jetzt wurde mir auch klar, warum er gerade diese Höhle ausgewählt hatte und ich meine Fesseln nicht länger trug. Der Eingang war ein so enger Felsspalt, dass ich niemals unbemerkt von hier verschwinden könnte. Eingeschüchtert nickte ich und schloss schließlich irgendwann die Augen. Nur für ein paar Minuten. Ich durfte nicht schlafen, hatte zu sehr Angst vor den Bildern, die dann in meinen Kopf kommen würden. Also würde ich nur für ganz kurz die Augen schließen. Ganz kurz.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Erste, das ich wahrnahm, Bewegungen neben mir und sah schließlich Tim, der sich eben seinen Waffengurt umschnallte. Als er merkte, dass ich wach war und ihm beobachtete, schaute er kurz nachdenklich in meine Richtung, wandte sich dann jedoch wieder seinem Gepäck zu. Vorsichtig stand ich auf und legte die Decke zusammen, die mich in der Nacht halbwegs warm gehalten hatte. Als ich sie Tim hinhielt, zuckte er erschrocken zusammen und fuhr hoch. Sein Kopf knallte gegen die tiefe Decke und er hielt sich fluchend die betroffene Stelle.
"Fuck, Mann", rief er laut aus und trat mit voller Kraft gegen die Wand. Erschrocken ließ ich die Decke fallen und wich einige Schritte zurück, bis ich den unnachgiebigen Stein in meinen Rücken fühlte.
"Tut... tut mir leid. Ich wollte das nicht", wimmerte ich und kauerte mich ängstlich zusammen. Ich hatte Angst vor seiner Reaktion, schließlich hatte er sich nur wegen mir so erschrocken und weh getan.
Der Größere funkelte wütend in meine Richtung, doch mit jeder Sekunde, die verstrich und in der ich um mein Leben bangte, wurde er ruhiger.
"Es war keine Absicht, wirklich. Ich wollte das nicht!", beeilte ich mich, ihm zu versichern und er nickte schwer.
"Ich weiß. Glaub mir, sonst wärst du längst tot."
Seine tiefe Stimme klang kratzig und rau. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, hob er die Decke, die ich hatte fallen lassen, vom Boden auf und klopfte den Staub aus, bevor er sie einrollte und unter seine Tasche schnallte. Jetzt zog er aus dem Rucksack den Strick, mit dem er mich gestern gefesselt hatte. Innerlich stritten meine Instinkte sich gerade darum, ob sie weglaufen oder sich in einer Ecke zusammenkauern sollten und man schien mir die Angst anzumerken, die ich hatte. In Tims Blick blitzte kurz etwas wie Mitleid auf, doch dann schüttelte er energisch den Kopf und trat auf mich zu. Der eine Instinkt hatte sich gegenüber dem anderen durchgesetzt und ich drückte mich noch näher an die Wand, wenn das denn möglich war, und versuchte, mich so klein wie möglich zu machen.
"Bitte", entwich mir ein schwaches Wimmern, doch der fremde Junge ging gar nicht darauf ein. Mit festem Griff packte er meine Handgelenke und wickelte den rauen Strick darum. Ich spürte, wie die aufgekratzen Stellen von gestern erneut aufrissen. Scharf zog ich die Luft ein und begann erneut zu wimmern vor Schmerzen und tatsächlich spürte ich, wie Tim den Strick etwas lockerer ließ. Dankbar blickte ich hoch, doch er schien meinen Blick nicht zu sehen. Ich konnte nicht anders, als seine flinken Finger zu beobachten, wie sie geschickt einen einfachen Knoten knüpften und festzogen. Prüfend zog er den Strick ruckartig zu sich heran, sodass ich erschrocken einen Schritt nach vorne stolperte und beinahe hingefallen wäre. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, denn er ließ die Leine durch seine Finger gleiten, bis sie etwa drei Meter lang war. Dann schob er seinen Rucksack durch die Felsspalte und krabbelte selbst hindurch. Bei ihm sah es so mühelos aus, doch als ich ihm folgen sollte, dauerte es um einiges länger. Als ich fast draußen war, griff er kurzerhand unsanft nach meinem Arm und zog mich auf die Beine. Genervt seufzte er auf und ich hatte schon wieder den Drang, mich zu entschuldigen. Jetzt, da wir beide draußen standen, wickelte er den Strick auf etwas über einen Meter auf und knotete ihn an seinen Waffengürtel.
"Ein Mucks und ich mache hiervon gebrauch", drohte er und deutete auf das Schwert, das an seiner Seite hing. Ich beeilte mich, zu nicken. Ohne auf eine weitere Reaktion von mir zu warten, begann er, entschlossen durch den Wald zu stapfen und ich stolperte hinter ihm her.
Prüfend zog ich an den Fesseln, die mich an den massiven Baumstamm banden, vor dem ich kniete. Der Strick war nicht allzu fest, gerade eng genug, dass ich meine Hände nicht befreien konnte. Trotzdem versuchte ich leise, mich irgendwie herauszuziehen. Anscheinend nicht leise genug.
"Stegi", kam Tims mahnende Stimme von hinten und ich erstarrte mitten in der Bewegung. Vorsichtig sah ich mit an, wie er in mein Sichtfeld trat, um die Fesseln nachzuziehen. Als er zufrieden damit schien, gab er mir einen leichten Klapps auf die Wange, nicht schmerzhaft, aber demütigend. Ein weiteres stilles Zeichen, dass ich ihm gehöre und er mit mir machen könnte, was er wollte. Ich sah beschämt zu Boden. Wir waren inzwischen seit bestimmt einer Woche unterwegs und in dieser Zeit hatte es nur von solchen Andeutungen gehagelt. Aber nie hatte er mir ernsthaft weh getan, was mich genauso sehr wunderte wie erleichterte. Selbst wenn er meine Fesseln lösen würde, wäre ich mir nicht sicher gewesen, ob ich fliehen würde, denn obwohl ich nur sein Gefangener war, schien er anscheinend wirklich nicht meinen Tod zu wollen und in der Zeit, seitdem er mich gefunden hatte, war es mir besser ergangen als je zuvor seit Beginn dieses perversen Spiels. Von ihm hatte ich regelmäßig Nahrung und sauberes Wasser bekommen, er versorgte mich genauso wie ihn selbst. Und das alles anscheinend ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Die ersten Tage hatte ich stets noch darauf gewartet, dass er endlich abrechnen würde für all das, was er für mich tat, aber er hatte nie etwas von mir verlangt oder sich genommen. Auch jetzt sah ich ihn an, wie er sich wieder auf dem kalten Waldboden ein Stück hinter mir niederließ und drehte mich, soweit es die Fesseln erlaubten, zu ihm um. Meine Arme waren jetzt seltsam unnatürlich verrenkt doch ich versuchte den Schmerz zu ignorieren, der in meiner Schulter immer größer wurde. Nachdenklich betrachtete ich diesen Jungen, der Feind und Freund zugleich für mich geworden war. Er war einfach genau das Gegenteil von mir, denn obwohl ich inzwischen etwas besser genährt war, war ich immer noch klein, zierlich und mager. Jedoch hatte ich den Dreckfilm abgelegt, der zuvor stets meine Haut überzogen hatte, da ich es nie wagen hatte können, mich ungeschützt im Fluss oder sonstwo zu waschen. Alles in allem wirkte ich trotzdem immer noch hilflos und zerbrechlich, das perfekte Opfer, nicht schwer zu töten. Er hingegen war um einiges breiter und kräftiger und jede einzelne Bewegung, die ich unter seiner Haut ausmachen konnte, war pure Muskelkraft. Ja, er gehörte ganz eindeutig zu dem Teil der Spieler, zwischen denen der Sieg sich entscheiden würde. Zu den Kämpfern, den Kriegern. Am dritten Tag, den wir durch die Gegend gezogen waren, waren zwei Gestalten auf uns losgegangen und ich hatte mich vor Schreck bloß in Tims Deckung zusammengekauert und den Tod erwartet, wehrlos wie ich war, durch meine gefesselten Hände dem Tod noch mehr geweiht als sonst schon. Doch irgendwann war der Kampflärm um mich erstorben und anstatt des erwarteten Stiches eines Schwertes oder Dolchs in meiner Brust oder Händen, die mir ohne Zögern das Genick brachen, hatte ich bloß Tims sanfte Berührung an meiner Schulter gespürt und seine beruhigende Stimme, die auf mich einredete. In diesem Moment hatte ich die Tränen nicht länger zurückhalten können und als ich irgendwann wieder begann, die Welt um mich herum wahrzunehmen, war er immernoch nur vor mir gekniet, seine Hand schwer auf meiner Schulter und hatte mich betrachtet. An seinem Blick hatte ich gesehen, dass er mich inzwischen vollkommen als sein Eigentum ansah, doch in diesem Moment hatte es mir nichts ausgemacht.
Vorsichtig betrachtete ich die Gesichtszüge des Größeren, die im Kontrast zu seinem Körper so unglaublich weich wirkten und seine schönen Augen, die von einem traurigen Glitzern durchzogen waren. Ich verdankte diesem Jungen mein Leben. Als ich schließlich die Stimme erhob, war ich selbst überrascht:
"Tim?", fragte ich leise, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Tatsächlich schaute er auf und in diesem Moment war jegliche Gewalt aus seinem Blick verschwunden. Das gab mir den Mut, weiterzusprechen:
"Ich wollte sagen... Ich mein... Also...", stammelte ich herum, bis ich einmal durchatmete und all meine Gefühle in einem Wort zusammenfasste:
"Danke."
Nachdenklich schaute er mich an, lange bewegte er sich nicht, bis er schließlich mit einer Hand nach seinem Waffengürtel griff und eines der vielen Messer hervorzog. Erschrocken wich ich zurück. Ich hatte mich lediglich bedanken wollen, war das so falsch gewesen? Oder hatte es ihm endgültig vor Augen geführt, wie nutzlos ich im Kampf war? Mit der Klinge in der Hand kam er auf mich zu und als er fast vor mir stand und mich in meinem sitzenden Zustand um einiges überragte, konnte ich ein Wimmern nicht länger zurückhalten. Doch dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, er drehte das Messer in seiner Hand so, dass der Griff in meine Richtung zeigte und hielt es mir auffordernd hin. Ängstlich griff ich mit gefesselten Händen danach und schaute fragend zu ihm auf.
"Nimm es, behalt es, steck es irgendwo ein.", murmelte er und schien fast genauso überrascht von seiner Tat zu sein wie ich.
"Jetzt steck es schon weg", forderte er mich auf, doch in seiner Stimme lag nicht die gewohnte Kälte. Eilig wollte ich seiner Aufforderung nachkommen und schaute an mir herunter, jedoch fand ich keinen Platz, wo die Waffe sicher verwahrt wäre. Tim schien zu dem gleichen Schluss zu kommen und ich beobachtete, wie er aus seiner Tasche ein dünnes Lederband hervorzog, etwa in der Länge meines Unterarmes. Als er sich vor mich kniete, verspürte ich seltsamerweise keinerlei Angst mehr und ließ zu, dass er eines meiner Fußgelenke zu sich heranzog. Wenig später hatte er das Messer geschickt so mit dem umwickelten Band an meinem Bein fixiert, dass ich mich nicht versehentlich daran verletzen, aber jederzeit gut hinkommen würde. Vorsichtig zog er mein Hosenbein darüber und betrachtete sein Werk zufrieden. Als er seinen Blick wieder hob und mich erneut ansah, konnte ich ihn scharf einatmen hören. Kurz zuckte seine Hand, doch dann schien er es sich anders zu überlegen. Seine Linke, die immernoch auf meinem Bein lag, strich vorsichtig darüber, bevor er sich zur Seite drehte und neben mir niederließ. Aus seiner Tasche zog er die Decke und legte sie über sich, wie er es seit der ersten Nacht stets getan hatte. Ich versuchte meinen etwas neidischen Blick zu verbergen und sah zu Boden, doch er schien es trotzdem gemerkt zu haben. Seufzend rutschte er noch näher an mich heran.
"Leg dich hin", forderte er mich leise auf und ich tat ohne weiter nachzudenken wie mir gehießen. Mit Blick zu dem Baum, an den ich gebunden war, versuchte ich mich möglichst so auszurichten, dass die Fesseln so wenig wie möglich störten. Als Tim sich hinter mir niederließ und dabei meinen Rücken mehrmals streifte, krampfte mein Körper sich automatisch zusammen, entspannte sich jedoch sofort wieder. Ich spürte, wie Tim die Decke über uns beiden ausbreitete und schaute vorsichtig über meine Schulter zu ihm zurück. Er schien meinen dankbaren Blick zu bemerken, denn er lächelte leicht. Dann flüsterte er mit unglaublich sanfter Stimme: "Schlaf jetzt."
Tatsächlich dauerte es an diesem Abend nicht lange, bis mir die Augen zufielen, die Wärme, die sich unter der Decke von Tims Körper aus ausbreitete trug ihren Teil dazu bei und ich begann, die Geborgenheit, die er ausstrahlte, zu genießen, bis ich schließlich einschlief.
Inzwischen hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Ich zog seit einiger Zeit an Tims Seite durch die Gegend, an dem Abend, an dem er mir das Messer gegeben hatte, hatte ich zum letzten Mal die Fesseln getragen, als ich am nächsten Morgen aufgewacht war, waren zwar Tim und die Decke verschwunden, die mich warm gehalten hatten, aber auch der Strick, der mich an den Baum gefesselt hatte. Verwirrt hatte ich mich aufgerappelt und schließlich Tim gesehen, der mit starrem Blick ins Leere ein paar Meter entfernt an einen Baum gelehnt gesessen hatte. Wortlos war ich zu ihm gegangen und hatte mich neben ihn gesetzt, er hatte mich kurz irritiert angeschaut und dann wieder ins Nichts. Ich weiß nicht, wie lange wir so verbracht hatten, doch irgendwann hatte er sich wieder aufgerappelt uns ich hatte mich beeilt, es ihm gleich zu tun. Immer wieder hatte er mich nachdenklich angeschaut, während ich ihm geholfen hatte, unsere Sachen zusammenzupacken. Seine Sachen. Unsere Sachen? Ich wusste es nicht. Irgendwann hatte er angefangen zu sprechen, während er mich immer noch nachdenklich beobachtet hatte:
"Ich vertraue dir. Nutz es bitte nicht aus."
Eine Bitte. Kein Befehl, keine Warnung, eine Bitte. Ich hatte bloß lächelnd genickt.
Das war nun inzwischen ein paar Tage her, in denen wir jede Stunde, solange die Sonne am Himmel stand und oft auch darüber hinaus ziellos durch die Gegend gezogen waren. Mit jeder Minute hatte ich mehr Vertrauen zu dem Jungen gewonnen, der mich am Leben hielt und bald sah ich in ihm mehr Freund als Feind. Ich wusste inzwischen, dass er auch kein festes Ziel hatte, wir zogen Tag um Tag dahin, einfach nur um in Bewegung zu bleiben und nicht so leicht zu finden zu sein. Die restlichen Spieler hatten nun begonnen, gezielt Jagd auf Andere zu machen, gerade nach den paar übrigen Schwachen wie ich es war suchten sie unermüdlich. Wir waren einigen Kämpfern begegnet unterwegs, doch meistens hatten wir uns einfach versteckt oder waren geflohen, nur selten hatte ich noch mit ansehen müssen, wie Tim einen Gegner ausschaltete. Mit jedem Sieg sprotzte mein Begleiter mehr von Waffen, zu diversen Klingen war inzwischen auch ein Bogen und ein paar dutzend Pfeile gekommen, die ich regelmäßig säuberte und in Ordnung brachte. Den Gefallenen wurde ohne Zögern das Wenige abgenommen, das sie besessen hatten und was man nicht gebrauchen konnte, wurde zerstört oder versteckt. Auch meine Hüfte zierte inzwischen ein scharfes Kurzschwert, dennoch wusste Tim genauso gut wie ich, dass ich es nie übers Herz bringen würde, jemanden damit zu verletzen. Mit jedem Gegner, den wir zu Gesicht bekamen, sträubte sich Tim mehr dagegen, mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen aus Angst, ich würde diesen Moment nicht überleben. Dennoch war es notwendig, wenn wir nicht verhungern wollten, ich war viel zu laut wenn wir durch den Wald striffen, als dass Tim irgendein Tier hätte erlegen können. Inzwischen war nur noch gut die Hälfte der ursprünglichen Spieler am Leben und trotzdem begegneten wir immer häufiger Gegnern, was uns irgendwann vermuten ließ, dass das Gebiet, das durch die merkwürdige milchige Wand umgeben wurde, die Arena wie Tim es nannte, immer kleiner wurde. Und tatsächlich beobachteten wir eines Morgens erschrocken, dass die Abgrenzung in den wenigen Stunden, die wir geschlafen hatten, um einiges näher gekommen war. Von da an achteten wir stets darauf, einen gewissen Abstand dazu zu wahren, wir wollten nicht am eigenen Leib erfahren, was passieren würde, würde man hinter die Mauer geraten. Denn soviel war uns bewusst: es konnte nichts gutes sein. Gerade kauerte ich in einer Höhle, die wir vor einigen Stunden entdeckt hatten, ich hatte Tim versprochen, hier zu warten, bis er zurückkam, während er versuchte, irgendwo etwas Essbares aufzutreiben. Auf den Knien hatte ich seinen Rucksack und wartete nun einfach nur auf seine Rückkehr. Als ich schließlich Schritte hörte, sprang ich freudig auf, bis ich Stimmen erkannte. Stimmen, die nicht Tims waren. Stimmen, die geradewegs auf mein Versteck zukamen. Ich reagierte blitzschnell, schnappte mir Tims Tasche und lief so leise wie möglich tiefer in die Höhle rein, bis absolute Dunkelheit mich umgab. Erst dann blieb ich zitternd stehen. Ich hörte die Fremden die Höhle betreten und instinktiv wich ich noch weiter zurück. Sie schienen die ganze vordere Höhle in Augenschein zu nehmen, denn ich hörte sie ununterbrochen rumlaufen. Ich vermutete, dass es zwei oder drei Personen waren, auf jeden Fall mehr als eine. Irgendwann nach gefühlten Ewigkeiten verstummten die Schritte, kurz dachte ich, die Gruppe wäre wieder gegangen, da hörte ich erneut Stimmen und Lachen. Wie konnte man in dieser Situation, in der man jeden Moment mit seinem Tod rechnen musste, noch lachen? Irgendwann wurde das Lachen durch erschrockene Schreie ersetzt und ich hörte das Geräusch von aufeinanderschlagenden Klingen, bis auch diese verstummten. Nun waren ich nur noch ein Paar Schritte zu hören, bis auch diese irgendwann die Höhle verließen. Ängstlich kauerte ich mich auf den Boden, wagte es nicht, wieder weiter in die Höhle vorzugehen, wollte die Leichen nicht sehen, die dort noch lagen. Einer dieser Fremden musste entschlossen haben, sich seiner Verbündeten zu entledigen und ich wollte diesem Fremden auf keinen Fall begegnen. Es dauerte nicht mehr lange, bis wieder Schritte die Höhle betraten, dieses Mal um einiges eiliger als die Letzten.
"Stegi? Scheiße, Stegi!", hörte ich Tims panische Stimme und schreckte hoch. Ich hatte mich inzwischen so sehr an den Namen gewöhnt, den er mir gegeben hatte, als hätte ich nie einen anderen gehabt.
"Hier", flüsterte ich mehr, als dass ich rief, doch die Wände warfen den Ton mehrmals zurück und verstärkten ihn, so dass er in der ganzen Höhle zu hören war. Ich hörte, wie Tim auf mich zurannte, sehen konnte ich ihn in der vollkommenen Dunkelheit nicht.
"Stegi. Gott sei Dank. Ich habe gesehen... Vorne... und du warst nicht da. Ich dachte, du wärst tot", stammelte er erleichtert und ich spürte, wie er mich in seine Arme zog. Viel zu schnell lösten wir uns wieder voneinander und Tim hielt nur noch meine Hände fest, jedoch stand er direkt vor mir, ich konnte seinen warmen Atem in meinem Gesicht spüren und die Wärme, die von seinem Körper ausging. Ohne zu realisieren, was ich tat, stellte ich mich auf Zehenspitzen und suchte im Dunkeln seine Lippen. Überrascht keuchte er auf, doch es dauerte keine Sekunde, bis er den Kuss erwiederte und begann, seine Lippen unendlich sanft gegen meine zu bewegen. Langsam strich er mit seiner Zunge über meine trockenen und aufgerissenen Lippen und ich seufzte leise in den Kuss. Irgendwann lösten wir uns wieder voneinander und ein leises Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Sanft zog der Größere mich in seine Arme und in diesem Moment wurde diese Welt ein Stück besser für mich.
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