7│Bittere Enttäuschung
Samuel hatte nie richtige Schulfreunde. Die wenigen, die er mal gehabt hatte, verliessen ihn, als er vors Jugendgericht musste. So kam es, dass er auf die schiefe Bahn geriet. Was er so trieb und mit wem er sich traf, wenn er das Haus verliess, wussten wir nicht. Aber zuhause zog er sich immer mehr zurück. Er verschanzte sich im Zimmer, wo er die Lautstärke seiner Stereoanlage so hochdrehte, dass die Wände zitterten.
So auch an jenem Tag, an dem ich mit meiner Freundin zum Lernen verabredet war. Wir sassen in meinem Zimmer und fragten uns gegenseitig ab. Die Hälfte des Schulstoffes hatten wir bereits durch, als wir die eine Tür zuknallen hörten. Ein ungutes Gefühl überkam mich. Das hatte verdächtig nach Samuels Zimmertüre geklungen.
Mein Verdacht bestätigte sich, als wenige Sekunden später Musik aus dem anliegenden Zimmer zu dröhnen begann, so laut, dass das Wasser in unseren Trinkgläsern Wellen schlug. Natürlich konnten wir uns nicht mehr konzentrieren. Nicht, wenn der Bass so gnadenlos an die Wände hämmerte.
Ich warf meiner Lernpartnerin einen entschuldigenden Blick zu und lächelte gequält. „Gehen wir zu dir?", formte ich mit meinen Lippen, da meine Stimme völlig unterging. Sie nickte.
Gerade hatten wir unsere Sachen zusammengepackt, als mein Vater wütend in Samuels Zimmer stürmte und den Stecker zog, womit die Musik schlagartig verstummte.
„Schon okay, wir lernen bei ihr!", rief ich bereits beschwichtigend, während ich mit einem Buch umherwedelnd ebenfalls in Sams Zimmer hastete. Ich wollte keinen Streit provozieren, auf keinen Fall!
„Nein, ihr bleibt", entschied Papa bestimmt, „Samuel kann Kopfhörer benutzen."
„Nein, wirklich. Es ist vollkommen okay", beteuerte ich und hob die Hände, worauf Sam mit ruhiger Stimme meinte: „Siehst du, Vater? Hättest du jetzt die Güte, den Stecker wieder einzustecken?"
„Ich möchte nicht, dass sich deine Schwester gezwungen fühlt, in ein anderes Haus flüchten zu müssen vor dir!"
Der sass. Samuel zog scharf Luft ein. Seine Nasenflügel bebten. „Ich hab meine Lektion gelernt. Musst du immer noch darauf rumhacken?", zischte er zwischen seinen Zähnen hervor.
Mein Bruder hatte Recht. Das verdiente er nicht. Er war grausam zu mir gewesen, ja, aber er hatte sich geändert. Er liess mich abgesehen von gelegentlichen abschätzigen Blicken vollkommen in Ruhe.
Vater übersah Samuels verletzten Blick knallhart. Stattdessen meinte er nur: „Brauch gefälligst deine Kopfhörer."
Samuel war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. „Vanessa stört es ja nicht mal!", entrüstete er sich und warf verteidigend die Hände in die Luft.
„Papa", versuchte ich einzuwerfen, ahnend, dass nun stärkere Geschütze aufgefahren wurden. Doch Vater hörte mich gar nicht, sondern machte einen Schritt auf meinen Bruder zu und bellte: „Nicht in diesem Ton, Bursche!"
Ich schloss verzweifelt die Augen und trat zwischen die beiden Streithähne, um dem ein Ende zu bereiten, wurde jedoch einfach beiseitegeschoben. Wie ich es hasste, nichts ausrichten zu können. Um wenigstens nicht mehr zusehen zu müssen, wie sich die beiden gegenseitig anfunkelten, verliess ich das Zimmer.
Ein Klatschen ertönte, als Vaters Hand auf die Wange seines Sohnes traf. In der darauffolgenden, plötzlichen Stille klang der Nachhall unnatürlich laut.
„Raus", hörte ich die Stimme meines Bruders flüstern, worauf unser Vater auf dem Absatz kehrt machte, die Türe zornig hinter sich zuknallte und die Treppe hinunterstampfte. Ein wütender Schrei klang hinter der Tür, dann herrschte Stille.
Ich schluckte leer, als ich gedämpfte Schluchzer aus Samuels Zimmer ausmachen konnte.
Grandios. Ich hatte es mal wieder nicht geschafft, den Streit zu verhindern. Wie schon allzu oft.
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