25│Ein normaler Schultag

Als der Wecker am Morgen geklingelt hatte, war ich aus einem erholsamen, traumlosen Schlaf erwacht. Unglaublich, ich war wirklich ausgeruht gewesen! Zum ersten Mal seit Langem hatte ich mich nicht aus dem Bett quälen müssen – und zum ersten Mal seit Langem war ich mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen.

Ich konnte es immer noch nicht glauben: Ich hatte Rahel meine ganze Geschichte erzählt, hatte ihr mein narbenübersätes Herz offenbart. Und sie hatte es entgegen meiner Angst nicht einfach vom Tisch gewischt. Nein, sie hatte sich Zeit genommen und mir geduldig zugehört, schliesslich sogar mit mir gebetet – diesen Jesus in mein Leben eingeladen.

Nun sass ich aufrecht und mit geöffnetem Französischbuch an meinem Pult und folgte dem Unterricht. Richtig, ich folgte dem Unterricht. Seit dem denkwürdigen Ereignis des Vortags durchströmte mich der Wunsch nach Veränderung. Ich wollte nicht mehr länger bloss Unterrichtsstunden absitzen, wollte nicht mehr länger in diesem Schlammloch hockenbleiben.

So gab ich mir alle Mühe, meine Konzentration aufrechtzuerhalten. Ich spürte, wie mir meine Mitschüler verwunderte Blicke zuwarfen, nicht wenige davon mit einer Prise Skepsis gewürzt. Durchaus verständlich, immerhin konnten sie nicht wissen, woher mein plötzlicher Sinneswandel kam. Doch Monsieur le prof schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, als er sah, wie ich mich mit der Konjugation jeglicher Verben abmühte.

Auch in der darauffolgenden Unterrichtsstunde hielt meine Arbeitswut an. Obwohl Mathe mein schlechtestes Fach war, meldete ich mich regelmässig und wusste einige Male sogar die richtige Antwort. Die Lehrerin konnte ihre Verwunderung über meine geistige Anwesenheit nicht verbergen. Ich musste schmunzeln. Brachte ich sie sonst entweder mit Passivität oder spöttischen Kommentaren aus dem Konzept, verlor sie den Faden nun ob meiner plötzlichen Motivation. Dies war wohl der Grund, weshalb ich nach der Stunde noch auf ein Wort im Klassenzimmer bleiben sollte. So packte ich, als die Klingel das Ende der Stunde verkündete, zwar wie meine Mitschüler die Schulsachen ein, blieb jedoch im Gegensatz zu ihnen auf dem Stuhl sitzen und wartete.

„Nun", begann die Lehrerin und trat auf mein Pult zu, sobald auch der letzte Schüler das Zimmer verlassen hatte. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber hin. "Du hast heute wirklich gut mitgemacht." Ihre Worte waren beiläufig gesprochen, doch ihr Blick aufmerksam auf mich geheftet und suchte mein Gesicht nach einer Regung ab, schien mich regelrecht zu scannen.

Ganz offensichtlich misstraute sie meinem plötzlichen Wandel. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Es war recht amüsant, wie verzweifelt die Lehrerin herauszufinden versuchte, welches Spiel ich mit ihr spielte. Gut, verübeln konnte ich es ihr nicht. Seit sie mich kannte, war ich der Schule – gar dem Leben – gegenüber äusserst negativ eingestellt.

„Weisst du, du hättest echt Potenzial." Normalerweise hätte ich spätestens jetzt zu einem bissigen Kommentar angesetzt – doch nicht heute.

Ein tiefer Seufzer füllte den Raum, als die Lehrerin ergeben den Kopf in ihre Hände stützte. „Nun gut, ich glaube dir, Vanessa." Sie hob den Kopf und faltete die Hände in ihrem Schoss. „Ich werde dich nicht fragen, was geschehen ist, dass du dich so engagierst im Unterricht – auch wenn ich es nur allzu gerne wüsste." Nun beugte sie sich vor und blickte mir eindringlich in die Augen. „Aber ich bitte dich: Mach weiter so."

Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht, als ich den beinahe flehenden Unterton in ihrer Stimme hörte. Anscheinend hatte sie mich doch noch nicht aufgegeben, die Hoffnung für mich nie ganz verloren.

„Ich werde es versuchen", versicherte ich ihr noch immer lächelnd. „Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort."

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