24│Die Quelle des Lichts
Als ich das Café betrat, sah ich die Betreuerin bereits an einem kleinen, runden Tisch sitzen. Ich war kurz davor, wieder umzudrehen. Welches Pferd hatte mich bloss geritten?
Nein, Vanessa, du kannst nicht immer vor allem davonrennen, schalt ich mich, sog scharf Luft ein und machte mich auf den Weg zu besagtem Tisch.
Rahel erhob sich, um mir zur Begrüssung die Hand zu reichen, welche ich zaghaft ergriff. „Setz dich doch", meinte sie und deutete auf den freien Stuhl. Zaghaft kam ich ihrer Aufforderung nach und liess mich ihr gegenüber nieder.
„Ich habe mir die Freiheit genommen, bereits was für uns zu bestellen. Ich hoffe, du magst Cola?" Ich nickte. Beinahe im selben Moment kamen die Getränke auch schon. Rahel bedankte sich und nahm genüsslich einen Schluck ihres Cappuccinos, bevor sie sich interessiert an mich wandte: „Was hat dich dazu bewogen, nun doch meine Hilfe anzunehmen?"
Ja, was war es gewesen, das mich dazu bewogen hatte? Meine verlorene Selbstachtung hatte die Erkenntnis gebracht, dass ich Hilfe benötigte, was wiederum den Stein ins Rollen gebracht hatte. Doch die Entscheidung, ausgerechnet Rahel aufzusuchen, hatte ich aus einem anderen Grund getroffen.
„Neulich, als ich meinen Rucksack vergessen hatte", begann ich zögerlich, meine Augen auf die Tischplatte gerichtet, „Dein Gesicht... Es hat gestrahlt. Zunächst wusste ich nicht, was es war. Es machte mir Angst – deswegen bin ich auch davongerannt – doch jetzt weiss ich es." Ich hielt inne und hob meinen Kopf, um ihr in die Augen zu schauen. „Es war Friede."
Rahel blieb still, vermutlich dachte sie nach, was sie nun sagen sollte. Also ergriff ich erneut das Wort: „Es scheint, als seist du vollkommen zufrieden mit deinem Leben."
Sie nickte und schob sich die Ärmel ihres Pullovers hoch. „Du hast Recht. Ich habe tatsächlich einen gewissen ‚inneren Frieden'. Ich...", Rahel suchte nach den richtigen Worten, „Ich darf Freiheit erfahren. Weil ich dieses Licht in mir trage, weil ich aus der Quelle des Lichts schöpfen kann."
Ich schaute sie verständnislos an. Welche Quelle des Lichts?
„Jesus", erklärte sie und ihre grünen Augen begannen zu leuchten. „Jesus Christus."
Ach, eine Christentante! Ich holte bereits Luft, um zu einem spöttischen Kommentar anzusetzen, blieb dann jedoch still. Der Kommentar wollte mir nicht über die Lippen kommen.
„Wie viel weisst du über ihn?", erkundigte sich Rahel.
„Er ist Gottes Sohn", meinte ich schulterzuckend. So viel hatte ich gerade noch vom Religionsunterricht mitnehmen können.
Mein Gegenüber nickte. „Was noch?"
„Nun, er...", stammelte ich etwas überfordert, „kam in einer Krippe auf die Welt und... wurde irgendwann ans Kreuz genagelt."
Rahel lachte. „Nunja, da war noch einiges zwischendrin. Aber ja, auf letzteres wollte ich hinaus." Sie setzte sich an die Stuhlkante und fuhr um einiges ernster fort: „Als er an dieses Kreuz ging, nahm Jesus alle Sünden auf sich – jedes einzelne meiner Vergehen trug er auf seinen Schultern – und starb. Für mich. Er starb, wie ich es eigentlich verdient hätte." Sie hielt inne, um einen Schluck Cappuccino zu nehmen. „Durch seinen Tod am Kreuz wurde ich frei von aller Schuld. Ich darf nun ungeniert vor Gott kommen. Und dies erfüllt mich mit einem solchen Frieden."
Ein seliges Lächeln zierte Rahels Gesicht. Ihre Augen waren dabei zwar auf mich gerichtet, doch schien sie durch mich hindurch zu blicken.
Ich hingegen hob skeptisch eine Augenbraue. Diese Frau hatte sie doch nicht mehr alle. Wobei... bei genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass sich jetzt, wo sie über Jesus sprach, ebendiese Ruhe über sie gelegt hatte. Dass sich ihre Gesichtszüge vollkommen entspannt hatten.
Es musste wohl doch etwas Wahres dran sein...
„Nun gut, ich weiss jetzt, woher deine Zufriedenheit kommt. Aber eines versteh ich nicht." Ich holte tief Luft. „Ich hätte dir egal sein können. Du hättest mich, wie alle anderen, einfach links liegenlassen können. Doch das hast du nicht getan. Nachdem ich dich wieder und wieder angefahren hatte, begegnetest du mir trotzdem mit Freundlichkeit – mit Liebe. Verrate mir eines, Rahel: Weshalb? Weshalb hast du nicht lockergelassen?"
Rahel lächelte, als sie zu einer Antwort ansetzte. „Ganz einfach: Jesus starb nicht nur für mich. Er starb für alle. Verstehst du? Egal, ob gute oder schlechte Menschen – er liebt sie alle. Bedingungslos. Und darum möchte auch ich jedem Menschen mit Freundlichkeit und Nächstenliebe begegnen."
Das musste ich erst einmal verarbeiten. Jesus liebte mich? Konnte das sein? Rahel ja, das bezweifelte ich auf keinen Fall. ...aber mich? Ich war doch überhaupt nicht liebenswert!
„Bereits bei unserer ersten Begegnung wusste ich, dass da etwas in dir zerbrochen war. Ich habe die Verbitterung in deinen Augen gesehen." Traurigkeit schlich sich in Rahels Lächeln. „Es tat mir weh, dich so zu sehen, Vanessa. Und Jesus ebenfalls."
„Jesus interessiert sich wirklich für mich." Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch Rahel schien mich dennoch gehört zu haben, denn sie nickte eindringlich und versicherte mir: „Genauso wie ich."
Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, nahm einen Schluck von meiner Cola. Jemand interessierte sich für mich, machte sich gar Sorgen um mich. Dieses Gefühl hatte ich seit jenem verhängnisvollen Abend in der Küche nicht mehr gefühlt.
Rahels sanfte Stimme holte mich aus den Erinnerungen: „Willst du mir nicht erzählen, was dich so verletzt hat?"
Ich schwieg. Wollte ich das? Konnte ich das? Ich hatte die ganze Geschichte seit mehr als einem Jahr verdrängt, hatte keiner Menschenseele davon erzählt. Tief unten hatte ich sie vergraben, in der Hoffnung, dass sie nie wieder ans Tageslicht kommen würde. Und jetzt wollte ich sie wieder ausgraben? Wie sollte ich das bloss schaffen?
„Gott möchte deine Wunden verbinden, möchte sie heilen", setzte Rahel an. „Aber damit eine Wunde verbindet werden kann, muss sie zunächst freigelegt werden", sprach sie weiter, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte. „Vielleicht sogar aufgeschnitten. Und dann muss der Dreck ausgewaschen, die Wunde desinfiziert werden." Ich spürte, wie sie ihre Hand leicht auf meine legte. „Ich weiss, es ist ein schmerzhafter Prozess."
„Also gut", meinte ich seufzend, nahm einen kräftigen Schluck Cola und begann, Schaufel für Schaufel meine Geschichte auszugraben. Mein Gegenüber hörte geduldig zu, fragte gelegentlich nach, unterbrach mich aber nicht. Unglaublicherweise tat es sogar gut, mir alles von der Seele zu reden. Nicht dass es einfach gewesen wäre, nein. Jedes einzelne Wort kostete enorme Überwindung. Doch formten meine Lippen sie, als hätten sie allzu lange schon darauf gewartet, endlich alles aussprechen zu dürfen.
Als ich schliesslich geendet hatte, herrsche zunächst Stille. Dann seufzte Rahel tief und betrachtete mich mit einem traurigen Blick. „Klingt nach einer ziemlich dunklen Zeit, in welcher du drinsteckst." Doch ihre Mundwinkel zogen sich hoffnungsvoll nach oben, als sie die darauffolgenden Worte sagte: „Aber Jesus sagt: Ich bin als das Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht länger in der Dunkelheit leben muss.*" Rahel lehnte sich leicht nach vorne und stützte sich auf den Tisch, um mir eindringlich in die Augen zu schauen. „Vanessa, möchtest du das Licht in dein Leben lassen?"
Ich riss meinen Blick von ihr los und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. „Ich habe alles verloren", murmelte ich, während ich mit verschränkten Armen auf die Tischplatte starrte. Dann aber hob ich den Kopf und begann zu lächeln. „Also kann ich nur noch gewinnen." Ich schüttelte grinsend den Kopf, als ich weitersprach: „Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber: Her mit diesem Jesus!"
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*Die Bibel, Johannes 12:46
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