12│Die Zeit verging

Seit ich zu trinken angefangen hatte, war ich zum Aussenseiter – zum Freak – mutiert. Ein paar wenige ignorierten mich, doch die meisten verachteten mich und tuschelten miteinander, welch Absturz ich doch geworden sei. Aber wie sollte ich es ihnen übelnehmen? Sie hatten ja Recht. Einst war ich höflich und brav, ehrgeizig und voller Lebensfreude gewesen. Nun war von dieser nichts mehr übrig. Ich traf mich mit niemandem mehr und sonderte mich ab, ich lachte nicht mehr, weigerte mich zu sprechen, ich gab mir keine Mühe mehr in der Schule und wurde depressiv – mir wurde alles egal.

Ein ganzes Jahr ging das so, bis ich in die Oberstufe kam. Dort fand ich endlich wieder Freunde. Diese waren genauso verkorkst, wie ich es inzwischen war. Auch sie hatten Alkoholprobleme, jedoch aus anderen Gründen als ich. Während ich verzweifelt meine Erinnerungen zu ertränken versuchte, wollten sie einfach ihren Spass haben.

Eines Freitagabends trafen wir uns bei Jenny zu Hause, um noch ein oder zwei Flaschen zu leeren. Jenny und ich hingen bereits auf dem zerschlissenen Sofa und warteten darauf, dass die anderen zwei auch endlich aufkreuzten.

„Wieder mal typisch: komm' immer zu spät. Immer."
„Chill mal. Sie mussten bestimmt noch was Flüssiges besorgen", beruhigte ich sie.

Dann öffnete sich die Türe und Ayleen betrat das schmuddelige Wohnzimmer, Tim im Schlepptau. „Was geht?!" Unser allgemeines Begrüssungsritual.

„Was habt ihr uns denn Schönes mitgebracht?" Die Frage kam natürlich von mir. Tim antwortete, es sei Wodka und öffnete die Flasche. Er setzte gerade zum Trinken an, als Jenny – bereits etwas angetrunken – nuschelte: „Ey Homie, gibst mir auch n'Schlückchen? Hatte heute noch gar nix."
Daraufhin liessen wir den Wodka kreisen bis er leer war. „Heute mach'n wir Party!", lallte Jenny. Alle lachten.

Als wir noch eine Flasche geleert hatten, beschlossen wir, ein wenig rauszugehen. Gemeinsam torkelten wir die Türe hinaus auf die Strasse. Wir waren alle ein wenig benebelt, darum war die Umgebung ziemlich verschwommen. Und so merkte ich auch nicht, dass ich geradewegs in ein Auto hineinwankte. „Ey, verdammtes Auto! Was stehst du mir im Weg?!", brüllte ich es an.

Betrunken wie wir waren, begannen wir, den Wagen zu verdreschen. Ein Schlag gegen die Scheibe, ein Tritt gegen die Tür. Ein Stein traf das Fenster und das Glas zerbarst. Genugtuung erfüllte mich und ich begann zu lachen.

Moment, da war doch was. Aus weiter Ferne hörte ich eine Sirene – eine Polizeisirene. Urplötzlich wurde ich nüchtern und schrie: „Scheisse, die Bullen! Lasst uns abhauen!"

Jenny und ich rannten wie von der Tarantel gestochen davon, bis wir bemerkten, dass uns die anderen beiden nicht folgten. Tim hatte bemerkt, dass Ayleens Fuss im Auto eingeklemmt war, und zögerte.

„Hilf mir doch!", bat Ayleen flehend. Der Junge fasste sich ein Herz und rannte zu ihr zurück. Sie zogen und zerrten an Ayleens Fuss, doch er wollte sich keinen Zentimeter bewegen.

Derweil kämpften Jenny und ich gegen den Drang an, einfach zu verschwinden, doch schliesslich gewann der Fluchtinstinkt die Überhand und wir liessen die anderen beiden im Stich...

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