10│Wahnsinn
Ich hatte keine Ahnung woher der Psychopath die Pistole her hatte, aber er hatte sie. Und er zielte direkt auf meine Mutter – auf seine Mutter –, welche ihn geschockt und mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
Vater liess die Zeitung sinken, als er mein erschrockenes Aufkeuchen wahrnahm. Sobald er sah, was sein Sohn in der Hand hielt, sprang er alarmiert aus dem Sessel. Er wusste, dass Sam nicht abzudrücken scheute. Und so langsam wurde es auch mir klar. Samuel hätte keine Hemmungen, daran bestand kein Zweifel.
Doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Er funkelte nur jeden einzelnen von uns hasserfüllt an. „Hört mir endlich einmal zu", schrie er schliesslich, „Jetzt müsst ihr mir nämlich zuhören. Ihr hattet immer nur Augen und Ohren für Vanessa. Habt ihr überhaupt eine Ahnung, wie weh das tat, von seiner Schwester ersetzt zu werden? Glaubt ihr, ich habe vergessen, wie wichtig ich euch früher war? Wie ihr mit mir gespielt und mich getröstet hattet? Oh, nein! Aber das musste sich ja ändern, als dieses Miststück zur Welt kam!"
Vater kam einige Schritte näher und hob beschwichtigend die Hände. Ich hingegen blieb wie angewurzelt stehen. Mutter hatte ihren Blick vehement auf die Pistole geheftet.
„Vanessa war immer und überall besser als ich", fuhr er fort und spie dabei meinen Namen aus, als wäre er furchtbar bitter. „Das kleine Wunderkind verdiente mehr Aufmerksamkeit als ich, der Nichtsnutz, nicht wahr?! Ihr dachtet, ich bringe es zu nichts! Doch das stimmt nicht! Ich werde euch zeigen, wozu ich fähig bin!"
„Samuel, nicht", versuchte Papa seinen Sohn zur Vernunft zu bringen. „Wir können doch über alles reden." Sam lachte gehässig auf. „Ja, jetzt wollt ihr plötzlich reden."
„Mein Sohn", begann er nochmals, wurde jedoch harsch unterbrochen. „Mein Sohn", äffte Samuel ihn nach, „Dein Sohn bin ich doch schon lange nicht mehr." Kurz verklärte sich sein Blick, als wäre er in Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit abgedriftet. Dann murmelte er: „Nein, schon lange nicht mehr..."
Derweil hatte sich unsere Mutter ängstlich umgeschaut, in der Hoffnung, irgendein Versteck zu finden, doch ohne Erfolg. Als sie einsehen musste, dass es keinen Ausweg gab, flehte sie: „Nein, bitte nicht, Samuel. Ich bin doch deine Mutter."
Und dann fiel der Schuss. Unsere Mutter sackte in die Knie, Blut sickerte aus der Wunde direkt über ihrem Herzen. Den Blick starr auf ihren Sohn gerichtet, kippte sie seitwärts auf den blutgetränkten Teppich und blieb reglos liegen. Das Licht erlosch in ihren Augen, als das Leben aus ihr entwich.
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