4. Kapitel

Tia hatte noch nie erlebt, wie ihre abuelita und ihre Mutter zusammen in einem Raum waren.

Vermutlich war das auch kein Wunder, denn Tia konnte sich nur an zwei Tage in ihrem Leben erinnern, an denen sie ihre Mutter generell gesehen hatte und beide Male war es eher so gewesen, als würde sie entfernte Bekannte besuchen.

Tia wusste, dass Eva verheiratet war mit drei Kindern – Rosalie war die jüngste mit zwei älteren Brüdern, also war sie wohl die einzige Hexe in dieser neu zusammengesetzten „perfekten" Familie.

Wie Eva das wohl aufnehmen würde? Eigentlich hatte sie Tia weggeben, nachdem diese schon in sehr jungen Jahren magische Fähigkeiten entwickelt hatte und regelmäßig irgendwelche Gegenstände durch die Gegend geflogen waren.

Rosalie musste auch als Kind magische Fähigkeiten gezeigt haben, ansonsten könnte sie nicht Hogwarts besuchen und dann gäbe es auch keinen Brief, den Tia und Carla überbringen mussten.

Vielleicht hatte Eva gedacht, dass einmal ein Zufall war aber zweimal die Norm und hatte Rosalie deswegen eher akzeptiert als Tia. Tia war auch ihr erstes Kind gewesen und da war man sowieso nervöser und unsicherer und außerdem hatte Eva ohne Remus keinen Partner gehabt, mit dem sie sich hätte austauschen können und war zu dieser Zeit auch ziemlich mit Carla zerstritten gewesen. Außerdem war sie jung gewesen – nur siebzehn Jahre alt und ganz allein in der Welt, obwohl sie sich dieses Schicksal selbst ausgesucht hatte und bis zu dem Moment, an dem sie Tia weggeben hatte, hätte Carla alles für ihre Tochter getan, wenn diese das nur zugelassen hätte.

Natürlich war sie älter gewesen, als sie geheiratet hatte – ein Mann namens Thomas Jones – und Kinder bekommen hatte, die Tia nie wirklich kennengelernt hatte.

Carla hatte mit dieser Familie ihrer Tochter mehr zu tun, seit der Krieg gegen Voldemort vorbei und sie aus Spanien zurückgekommen war, aber Tia hatte nie wirklich das Bedürfnis gehabt, mehr Zeit mit ihrer leiblichen Mutter zu verbringen, nachdem sie die Zeit, die sie mit Eva verbracht hatte eher unangenehm und seltsam gefunden hatte und dieses Gefühl beruhte wohl auf Gegenseitigkeit.

Tia war auch ohne eine Mutter in ihrem Leben zufrieden und hatte mit Remus, Teddy und Agnes eine neue Familie gefunden und nun war sie selber schwanger und würde eine eigene kleine Familie gründen – dieser Gedanke machte ihr Angst, aber George hatte ihr versichert, dass er für das Baby da sein würde und er Tia dabei helfen würde, eine Mutter zu sein, die sie selbst nie gehabt hatte und vermutlich auch nie haben würde, denn als Carla und Tia an der Tür von Evas Haus klingelten, öffnete Eva ihnen schon mit einem höflichen, aber gezwungenen Lächeln und ihr Blick huschte nur einmal unsicher zu Tia, bevor sie sich lieber auf Carla konzentrierte, als könnte sie nicht einmal den Anblick ihrer Erstgeborenen ertragen.

Mamá", brachte Eva heraus und schaffte es irgendwie, dass sie so aussah, als würde sie sich gleich übergeben. Tia fragte sich, ob sie sich darauf vorbereiten sollte, aus dem Weg zu springen und dann fragte sie sich, ob es schlecht für das Baby wäre, wenn sie ein paar der Tricks, die sie von Agnes gelernt hatte anwendete – coole Rollen und Ausweichtechniken.

„Damit du nicht so einen Todesfluch abbekommst", hatte Agnes gescherzt, aber eigentlich war es immer praktisch, wenn man ausweichen konnte.

Eva sollte das wissen – sie war eine Spezialistin darin, wenn es darum ging, unangenehmen Tatsachen aus dem Weg zu gehen und Problemen auszuweichen.

Buenos días, Eva", begrüßte Carla ihre Tochter auf Spanisch.

„Ähm...", Eva räusperte sich und sie blickte noch einmal unsicher zu Tia, die sie bis jetzt einfach nur ansah mit einem immer freundlichen Lächeln im Gesicht, aber ihre verschieden farbigen Augen waren doch ein wenig beunruhigend für jeden, der Tias durchdringendem Blick ausgesetzt war, „Kommt doch herein."

Dieses Mal hatten sie Eva telefonisch vorgewarnt – Carla hatte das übernommen. Das letzte Mal waren Remus und Tia ohne Voranmeldung gekommen – unter anderem, weil Carla sich nicht sicher gewesen war, ob Eva nicht spontan das Land verlassen hätte, wenn sie erfahren hätte, dass Remus und Tia zu Besuch kamen.

Dieses Mal aber waren sie höflich gewesen.

Eva führte sie in das leere Haus – vermutlich waren ihre Kinder mit ihrem Ehemann irgendwo unterwegs, damit sie ja wenig Kontakt zu Tia und Carla hatten. Tia fand das ein bisschen Schade, immerhin hätte sie sie vielleicht doch irgendwann gerne kennengelernt.

Eva führte sie direkt in die Küche, in der Remus und Tia schon einmal gewesen waren und schien sich offensichtlich sehr unwohl zu fühlen.

„Ähm... wollt ihr etwas trinken?", bot sie höflich an.

„Ja, bitte", nahm Carla an.

Eva nickte und füllte drei Gläser mit Wasser, die sie auf dem Tisch abstellte. Eines davon schob sie in Tias Richtung, aber nicht nahe genug, dass sie es bequem greifen konnte und sie musste sich etwas vorlehnen, um es zu sich ziehen zu können.

Eva setzte sich zu ihnen an den Tisch.

„Äh... warum seid ihr hier?", fragte Eva und ihr Blick huschte wieder kurz zu Tia, sie blickte aber schnell wieder weg.

Tia sah Eva nicht an, sondern schaute sich lieber in der Küche um – eine ganz normale Küche. An den Kästen hingen viele Kinderzeichnungen und Tia fragte sich, ob noch jemand in der Familie künstlerisch begabt war so wie sie. Vermutlich aber eher nicht, weil ihre Liebe zum Zeichnen eigentlich erst entstanden war, als Carla sie zu Hause unterrichtet hatte und sie kaum Kontakt zu anderen Leuten gehabt hatte.

„Wir haben mehrere Gründe", erklärte Carla, „gute und schlechte Neuigkeiten."

Eva lachte nervös. „Das ist wohl der Moment, an dem ich zuerst die schlechten Nachrichten hören will, oder? Also... dann bitte die schlechten zuerst."

„Ich werde heiraten", sagte Tia und lächelte zufrieden.

Eva sah sie erschrocken an und Tia war sich nicht sicher, ob das war, weil sie heiraten würde oder weil sie vergessen hatte, dass sie sprechen konnte.

Auch Carla sah sie verwundert an und Tia fragte sich, was sie jetzt schon wieder falsch gemacht hatte.

„Das sind die schlechten Neuigkeiten für dich, querida?", fragte Carla geduldig und schmunzelte.

Tia runzelte verwirrt die Stirn. „Nein... stimmt... ähm... Ah ja! Ich bin schwanger!"

Carla seufzte.

Eva lehnte sich so weit in ihrem Stuhl zurück, dass Tia Angst hatte, sie würde hintenüberkippen.

„Das sind auch nicht schlechten Neuigkeiten, querida", erinnerte Carla sie geduldig, „Du freust dich doch darüber."

Wieder runzelte Tia verwirrt die Stirn. „Stimmt... also...", sie überlegte angestrengt, „Also haben wir keine schlechten Neuigkeiten?" Bei diesem Gedanken lächelte sie zufrieden – dieses Gespräch verlief bis jetzt besser, als sie gedacht hatte.

„Nein, Tia", sagte Carla und blickte zu Eva, „Eva, deine Tochter – Rosalie –"

„Was ist mit ihr?", fragte Eva sofort alarmiert.

Tia fragte sich, ob Eva schon jemand so alarmiert reagiert hatte, wenn es um Tia ging.

Wie hätte Eva wohl reagiert, wenn sie diesen Todesfluch nicht überlebt hätte, sondern gestorben wäre? Tia dachte lieber nicht länger darüber nach, was hätte passieren können und beließ es dabei.

„Sie ist eine Hexe", sagte Carla geradeheraus und zückte den Brief, den Professor McGonagall ihr gegeben hatte, „Eine Freundin von mir ist Schulleiterin von Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei. Jedes Jahr bekommen die neuen Schüler solche Briefe, in denen steht, dass sie Hexen und Zauberer sind."

„Normalerweise übernimmt ein Professor von Hogwarts die Aufgabe, Muggelgeborenen alles zu erklären – bei mir hat das Professor McGonagall übernommen", erinnerte sich Tia lächelnd, „aber sie hat sich gedacht, nachdem du mich und abuelita besser kennst, würdest du dich wohler dabei fühlen, wenn wir das machen."

Eva öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch. Tia fand das ein bisschen witzig, aber sie lachte nicht – das fände sie unangebracht.

„Ich... ich... ich...", stammelte Eva erschrocken, „Rosalie ist... ist eine..."

„Eine Hexe", beendete Tia den Satz freundlich für sie und lächelte, „so, wie ich es bin."

„Eine... eine... eine..."

„Eine Hexe", wiederholte Tia. Vielleicht hatte Eva sie nicht richtig verstanden.

„Eine... eine..."

Tia öffnete den Mund, um es noch einmal zu wiederholen, aber Carla legte eine Hand auf ihre Schulter und schüttelte den Kopf. Offenbar hatte Eva es schon verstanden, aber noch nicht verstanden.

Carla und Tia warteten geduldig, bis Eva sich wieder etwas gefasst hatte. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schien einen kleinen Nervenzusammenbruch zu haben.

Irgendwann blickte sie wieder auf und atmete tief durch. „Es sollte mich eigentlich nicht so verwundern", bemerkte sie, „Die Anzeichen waren da, aber ich habe sie lieber ignoriert..."

„Du wirst sie doch jetzt nicht auch im Stich lassen, oder?", fragte Tia und sie lächelte freundlich und legte den Kopf schief.

Eva runzelte verwirrt die Stirn. „Warum denn auch? Ich habe –", Eva verstummte, als sie Tias Worte verstand und schluckte schwer. Wieder vermied sie es, Tia anzusehen und wünschte sich wohl, überall zu sein, außer hier. „Nein", sagte sie ernst, „Ich... ich liebe Rosalie und ich... Kann man es heilen? Irgendwie... verhindern."

„Man muss es nicht heilen", antwortete Tia ernst und das erste Mal verschwand ihr Lächeln aus ihrem Gesicht, „Es ist ein Teil von ihr. Kann man dich heilen, Eva?"

Eva zuckte zusammen, als Tia sie bei ihrem Vornamen ansprach und Tias Blick durchdrang sie regelrecht.

„Eva", sagte auch Carla streng, „Hörst du dir selber zu? So habe ich dich nicht erzogen!"

Eva schmollte und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Es ist nur", Eva seufzte schwer, „Rosalie ist so ein süßes, kleines Mädchen. So unschuldig und so freundlich. Und so... normal."

„Ich werde nicht zulassen, dass du ihr die Möglichkeit nimmst, das Leben einer Hexe zu führen", sagte Tia und obwohl sie wieder lächelte, klang es sehr stark nach einer Drohung, „Sie ist eine Hexe und daran ist gar nichts schlimm und wenn du dir die Zeit nimmst, mehr darüber zu lernen, wirst du auch bemerken, dass es auch für Rosalie das beste ist."

Eva schaute auf ihre Hände und sagte lange nichts. Tia sah hilfesuchend zu Carla, die aber ihren Blick nur Eva gerichtet hielt, als könnte sie Gedanken lesen.

Schließlich sah Eva wieder auf und seufzte. „Na gut – ich werde mit Thomas darüber sprechen... er... er wird das hoffentlich verstehen..."

„Ich könnte morgen wiederkommen, um Rosalie alles zu erklären", schlug Tia vor und einen Moment lang sah Eva so aus, als würde sie Tia anschreien wollen, weil es die schrecklichste Idee war, die sie jemals gehört hatte, aber dann nickte sie schwach.

„Jaah, das... wäre wohl das beste... ein Beweis oder... jemand, der sich wirklich damit auskennt."

„Du wirst sie doch deswegen nicht anders behandeln, oder?", fragte Tia misstrauisch. Sie hatte Harry kennengelernt und wusste, was mit Kindern passierte, die zu Hause nicht akzeptiert wurden.

Zum Glück zögerte Eva nicht einmal und sie schüttelte den Kopf. „Niemals, ich... ich habe nur Angst."

„Ich habe auch Angst gehabt, als du mir erzählt hast, dass du eine Freundin hast, Eva", gestand Carla sanft, „Weißt du noch – Sofia Sanz, wenn ich mich richtig erinnere. Du bist vierzehn gewesen."

Eva wurde knallrot und Tia sah überrascht zwischen Carla und Eva hin und her.

„Das ist etwas anderes, mamá", beschwerte Eva sich offensichtlich peinlich berührt.

No", widersprach Carla ihr streng, „Das ist genau dasselbe – es ist ein Teil von dir und ein Teil von Tia und genauso ist Zauberei ein Teil von Rosalie. Verstehst du das? Es ist in Ordnung, am Anfang Angst zu haben, aber das wichtigste ist doch, dass man akzeptiert, ?"

Sí mamá", murmelte Eva, „Ich werde es versuchen."

„Das hoffe ich doch", schimpfte Carla, „Beweise dir selbst, dass du eine gute Mutter bist und akzeptiere deine Tochter auch dann, wenn sie nicht normal ist."

Eva blickte auf und sah einen Moment lang zu Tia. „Sí mamá", murmelte Eva noch einmal und sah schnell wieder weg. Wenigstens würde sie es versuchen – das war schon einmal ein sehr guter Anfang, wie Tia fand. 

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