Kapitel 60. Alexandru
Ich wusste nicht, wie sie es getan hatten, noch wo sie hin waren. Aber als ich wie der Teufel auf der Lichtung aufgetaucht war, und meine Macht hatte explodieren lassen, war kein Rebell mehr dort.
Es konnte keine Stunde später gewesen sein.
Auch die Umgebung war sicher gewesen. Sie waren spurlos verschwunden.
Ich sah zu Victor, der im Regen auf dem Boden lag, und Mihas Asche um sich sammelte. Was von meiner kleinen Schwester übrig war, war nass, matschig und glühte nur noch vereinzelnd. Und so wie ich zuvor weggesehen hatte, konnte ich meine Augen auch jetzt nicht auf das Geschehen richten.
Mihaela. Meine kleine Schwester.
Ich verdammter Feigling hatte weggesehen. Hatte die Augen geschlossen in ihrem letzten Moment. Der Klos in meinem Hals wuchs und ich lief langsam zum Waldrand, um mich an einen Baum zu lehnen. Meine Kleider klebten an mir und meine Haare hingen in dicken Strähnen an meiner Stirn.
Sie war tot. Ich hatte schon viele Menschen und Vampire sterben sehen und hatte vielen das Leben genommen, doch sie ... Sie war eine der wenigen Wesen, die mir etwas bedeuteten. Als mein Vater starb, war ich nicht traurig. Würde meine Mutter sterben, wäre ich es ebenso wenig. Aber sie ...
Miha.
Ich wischte die Träne nicht weg, die nun, dank des Schutzes einer Baumkrone meine Wange hinab lief. Nicht mehr verdeckt vom Regen. Erneut schloss ich die Augen. Ich würde sie alle umbringen. Jeden einzelnen Rebellen. Und mit Ben fing ich an.
›Alex‹ ich hörte diese in Trauer getränkte Stimme in meinem Kopf und verzog das Gesicht. Violett trat vor mich und zog mein Gesicht zu sich, sodass ich es auf ihre Schulter legen konnte.
Luna mea strich mir immer wieder beruhigend durch die Haare und versuchte, offensichtlich stark zu sein. Ich atmete ein, ließ ihren Duft meine Sinne fluten und filterte die Trauer, um ihre liebliche Süße zu mir zu nehmen. Ich schlang die Arme um sie, hob sie hoch, drehte den Kopf und küsste ihren Hals.
Miha. Mihaela. Miha!
Ich trat durch die Schatten und brachte uns weiter weg. Weg von einem am Boden zerstörten Victor, der in der Asche seiner Liebe lag und trauerte. Weg von einem kleinen Mädchen, das sowohl Schwester als auch Bezugsperson in kürzester Zeit verloren hat. Fort von meiner eigenen Unfähigkeit, meiner Schwester zu helfen und weg von meiner Trauer.
Als ich auftauchte, aus den Schatten, zwängte ich meine Zunge fast gewaltsam in Violetts Mund und presste sie hart mit dem Rücken an einen Baum.
Sie erzitterte und keuchte in den Kuss. ›Alex?‹ fragte sie und drückte mich weg von sich. »Bist du sicher?«
Nein.
Ich konnte sie nicht retten.
Ich knurrte und drückte meinen Mund wieder auf ihren, nachdem ich sie angesehen hatte. Was tat ich jetzt? Was tat ich mit Victor? Was mit dem Mädchen und was zum Teufel, tat ich hier gerade?
Ich hob die Hand und riss Violett das Oberteil von der Schulter. Diese beschissene Uniform der Rebellen. Rebellen, die verantwortlich für den Tod meiner Schwester waren. Ich hätte den Stoff sanft verschwinden lassen können, doch ... Ich wollte ihn zerreißen.
Miha.
Sie zuckte zusammen, als der Stoff zu Boden segelte. »Alex,« hielt sie mich erneut auf und drückte sich wieder weg. »Ich bin nicht in Stimmung für das hier. Und ich glaube, du tust das jetzt auch nur, weil du nicht weist wohin.«
Ich knurrte und küsste ihren Kiefer, ihr Ohr und ihren Hals. Ohne Rücksicht, ohne Zärtlichkeiten. Rau, wild und ungehemmt. Dann ... biss ich zu, als ich an ihrer und meiner Hose gleichzeitig nestelte. Ihr Blut flutete meine Zunge und ich stöhnte.
Ich war nicht schnell genug, nicht stark genug. Es hätte mir alles klar sein müssen. Ich hatte die Rebellen unterschätzt und ihren Einfluss, der bereits bei den Vampiren herrschte, übersehen. Und jetzt? Meine Schwester war tot. Ich ... ich war schuld. Meine Hand fuhr in Violetts Hose und als ich ihr Fleisch spürte, brummte ich unzufrieden. Sie war nicht bereit für mich. Nicht feucht. Egal ... Es war egal. Ich würde sie für mich bereit machen. Ich musste.
Immerhin konnte ich DAS kontrollieren. DAS konnte ich steuern und über unsere Lust und Liebe, hatte ich die Kontrolle. Violett irrte sich, denn ich wusste sehr wohl wohin mit mir.
»Alex«, sagte sie halb keuchend und versteifte sich. »Warte...«
Wieder versuchte sie mich wegzudrücken. Ihre Finger krallten sich in mein Hemd und als sie damit nicht weiter kam, fuhren ihre Finger nach oben und packte mein Gesicht. Wir sahen uns an. Ich mit blutigen Lippen und sie mit geweiteten Augen.
›Okay.‹ sagte sie und wollte mir damit wohl sagen, dass sie mich verstand. Violett drückte ihre Lippen auf meine und küsste mich.
›Sie versteht mich. Sie ...‹
Ich ließ von ihr ab, als hätte ich mich an dem letzten Kuss verbrannt. Ich ließ sie los, knurrte, wandte mich ab und ließ den nächsten Baum, nein, die nächsten Bäume zerbersten. Meine Schatten ließen sie explodieren und splitter und Holzstücke flogen umher und krachten in die Umgebung. Wie spitze Geschosse sausten sie durch die Luft und ich wirbelte in dem Sturm meiner Gewaltbereitschaft wieder herum.
Ich schützte sie mit meinem Körper vor dem umherfliegenden Holz und sah ihr in die Augen, als Schatten und Äste an mir abprallten.
Als alles vorbei war, atmete ich tief gegen die Trauer an. Schloss sie in mein Herz und formte sie in das, was mich ab jetzt antreiben würde.
Hass.
Ja, ich wandelte alles, was ich hatte zu diesem einem Gefühl um. Hass, brennend heiß und glühend weiß.
Meine Hand hob sich und ich strich Violett mit dem Daumen über einen Kratzer, den wohl ein umherfliegendes Holzteil verursacht hatte. Ich leckte das Blut von meinem Finger, vergrub meine Hände dann in ihren Haaren und zerrte leicht daran. »Verzeih mir, Luna mea.«
Mit halb offenem Mund starrte sie mir entgegen. Dann wurde ihr Blick weicher. »Schon gut«, flüsterte sie nur. Noch ein Schritt näherkommend, legte sie einen Arm um meinen Bauch und drückte das Gesicht in meine Brust. ›Sie werden dafür bezahlen.‹
Ich bewegte mich nicht und sagte leise. »Ich werde deinen Großvater ebenfalls töten. Kannst du, mit diesem Wissen bei mir blieben? Denn, Luna mea, ich werde niemanden verschonen. Nicht eine Seele.«
Sie erstarrte. »Was? Aber mein Großvater war das nicht, sondern Ben!«, erklärte sie geschockt. Violett schüttelte den Kopf und nahm Abstand. »Nein ... er ist meine einzige Familie. Bitte, nicht ihn.«
Ich hörte die Verzweiflung, doch ich ließ sie an mir ab prasseln. »Bist du naiv genug, zu glauben, er wusste nichts davon? Denkst du der Anführer der Rebellen, wusste nicht, dass sie Malekai unter der Kontrolle hatten?«, wollte ich wissen und wurde lauter. »BIST DU DUMM GENUG, ZU DENKEN, ICH WÜRDE AUCH NUR EINEN DAVON AM LEBEN LASSEN?«
Wie konnte sie so blauäugig sein? So wie ich wusste, was mit den Meinen war, wusste ihr Großvater, was unter seiner Herrschaft geschah. Ich könnte wetten, er hat es selbst befohlen.
Meine Kleine schreckte zusammen und senkte dann den Blick. »A ... Aber«, stotterte sie und biss sich auf die Unterlippe. Die Arme um ihren Körper gelegt, ballte sie sie zu Fäusten. »Ist es DUMM, dass ich mein letztes Familienmitglied beschützen möchte?!«, schrie nun auch sie.
Binnen eines Herzschlages hatte ich sie am Hals gepackt und zurück an den Baum gepresst. Ich sah knurrend auf sie hinab. »Du hältst viel auf jemanden, der sich einen Scheiß um dich gekümmert hat, bevor du zu mir kamst. Findest du es nicht auch seltsam«, fauchte ich sie an und kam ihrem Gesicht näher, »dass er dich erst holen kam, nachdem du für ihn wichtig wurdest? Weil du mir wichtig wurdest? Dass er dich erst holen kommt, wenn du gegen mich verwendet werden kannst?! Familie«, brummte ich spöttisch. »Du willst, dass ich deine am Leben lasse, obwohl sie meine ermordet. Interessant.«
›Was?!‹
Mit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. »Du ... meinst, dass ich nichts weiter als eine Waffe gegen dich bin?«, fragte sie und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie schloss sie und ließ die Nässe ihre Wangen hinablaufen. Mit zusammengepressten Lippen unterdrückte sie ein Schluchzen. Erst als sie langsam einatmete, öffnete sie die Augen wieder. »Miha war mir genauso wichtig, wie dir. Und verzeih, wenn ich gedacht habe, dass mein einziges Familienmitglied in mir mehr sah, als nur deine Schwäche.«
Sie hob die Hände und rieb sich die Tränen aus den Augen, doch ich packte sie am Handgelenk und sah sie an. Einen langen Augenblick. Dann zog ich sie mit brutaler Effizienz an mich, doch im Gegensatz zu der gewaltsamen Geste, sie mir näherzubringen, war der Kuss, den ich ihr nun gab, so sanft wie der Schlag eines Schmetterlings.
›ich ... du und ich. Gegen den Rest der Welt, mein Mond. Es ist egal, was andere sagen. Was sie denken, tun zu können, was am Ende zählt, sind wir.‹
Ich löste mich langsam von ihr. »Merkt dir eine Sache: Ich werde immer für dich da sein, Luna mea. Egal, was die Menschen sagen, ganz gleich, was die Vampire auch tun und völlig gleichgültig, was die Rebellen auch planen. Glaub mir, du hast immer einen Platz in meinem Herzen, den niemand ersetzen kann. Wenn du mich lässt, halte ich deine Hand, bis unsere Zeit vorbei ist. Ich lasse nicht los. Tu ești luna din viața mea. Vergiss das niemals, verstanden? Für mich bist du das Wichtigste. Brauchst du also mehr? Brauchst du noch andere außer mich, die dich so fühlen lassen, als seist du wichtig? Ich werde dich immer lie-« Ich schluckte diese vermaledeiten Worte herunter. »Für mich bist du alles.« Die Handfläche auf ihr Wange legend, lächelte ich sie milde an. »Du gehörst mir, Luna mea. Mir alleine. Und ich bin dein.«
Ihre Mundwinkel hoben sich langsam und sie lächelte mich genauso an wie ich sie. »Ich bin dein. Du bist mein. Und so lange ich lebe, will ich an deiner Seite sein. Nur du und ich«, bestätigte sie leise und nickte. Die letzten Tränen rollten von ihrem Gesicht, als ich sie sich vorbeugte und mich küsste. Leidenschaftlich und sanft legte sie ihre Lippen auf meine. ›wir gegen alle.‹
***
Ich beugte mich zu Victor hinab, der mit gesenktem Kopf auf der Lichtung saß. Die Asche meiner Schwester war durch den Regen bereist im Boden versunken und nichts zeugte mehr davon, das Mihaela Draculea hier ihr Leben ließ.
»Steh auf, Victor.«
Er bewegte sich nicht, sondern starrte nur auf das Unterholz. Ich legte eine Hand auf seine Schulter. »Steh auf.«
Vic erzitterte, doch rührte sich einfach nicht. Er starrte nur geradeaus.
›Scheiße‹, dachte ich und rieb mir das Gesicht. Meine eigene Trauer machte mir das Denken schwer und ich überlegte kurz, ihn einfach wegzuzerren, doch ... Dieser Mann, mein bester Freund, hatte gerade seine Liebe verloren. Seine Partnerin.
Ich sah zu Violett und fragte mich, wie ich reagieren würde, wenn man sie mir nahm. Nein, nein ich kannte die Antwort. Ich würde die Welt in ihre Moleküle zerlegen und selbst diese in meine Dunkelheit reißen. Langsam stand ich auf und sah auf ihn herab.
›Du musst für ihn da sein, auch, wenn du selbst am trauern bist. Ihn so zu sehen zerreißt mir mein Herz‹, ließ meine Kleine mich hören und wandte sich an Sophia. Diese kniete auf den nassen Boden und weinte immer noch. Violett hockte sich vor sie hin. »Es tut mir leid«, flüsterte sie und wollte das Vampirkind berühren, aber diese schlug ihre Hand weg und sah sie wütend an.
»Wegen dir ist Miha tot! Das ist deine Schuld. Du und diese Menschen haben sie mir genommen«, schrie sie auf einmal und fing wider an zu weinen. Aber statt sich davon einschüchtern zu lassen, zog Violett sie in eine Umarmung. Zuerst wehrte sie sich noch, schlug ihr auf den Rücken und versuchte, sich von Luna mea wegzudrücken. Aber als das alles nicht funktioniert, weil Violett sie mit aller Kraft festhielt, gab Sophia irgendwann nach und erwiderte die Umarmung.
Sie strich ihr beruhigend über den Rücken und ließ sie weinen. Derweil sah Violett wieder zu mir. ›Bitte nimm es ihr nicht übel. Ich möchte mich um sie kümmern.‹
Ich nickte nur und wandte mich wieder an Victor. Meine Arme unter seine gelegt, zog ich ihn auf die Füße und stürzte ihn. »Komm, wir gehen.«
»Und wohin?«, fragte er heißer. »Wohin sollen wir gehen. Ohne ... ohne sie? Wir können nicht nach Hause.«
Das hatte ich mir bereits ausgemalt. Wir wussten nicht, wer alles unter dem Einfluss der Rebellen standen, also konnten wir auch nicht zurück. »Wir gehen in die Berge. Zu der Hütte.«
Victor verzog schmerzlich das Gesicht. Ich wusste, wie grausam das war, doch auch wenn er, Miha, Sam und ich, dort viele schöne Stunden verbrachte hatten, war es der einzig Ort, von dem kaum jemand etwas wusste und gerade der sicherste Ort, bis ich planen konnte, wie es weiterging. Ich sah zu Violett und bedeutete ihr, mit dem ihr aufzustehen. Ich lief zu ihr und sie griff mein Shirt. Dann trat ich durch die Schatten und wir fanden uns vor der Tür einer Hütte wieder. Eine Holzhütte, die auf einer Bergspitze Stand, inmitten einer verschneiten kleinen Ebene. Der Wind zerrte an uns und selbst für mich, war er eiskalt. Also schleppte ich Victor mehr schlecht als recht zur Tür und öffnete diese umständlich.
Ich setzte ihn auf das Sofa der gemütlichen und großen Wohnzimmerebene und sah mich dann um, als Erinnerungen an meinem Herz zerrten. Victor weinte bereits wieder und barg sein Gesicht in seinen Händen. Ich sah auf ihn hinab und dann zu Violett, die etwas verloren mit Sophia im Raum stand.
Zu viel. Es war plötzlich alles zu viel. Wir hatten so viel gelacht, wenn wir hier waren. Hatten uns so viele Dinge erzählt. Uns gestritten, versöhnt, getrunken, gelacht, geweint, gekämpft. So UNENDLICH viele Erinnerungen schwebten in diesem Haus, dass man sie fast riechen konnte und sie lebendig wurden. Bilder, die an den Rändern der Wahrnehmung tanzten und wenn man sie zu fassen versuchte, verschwanden sie. Immer da und doch nichts weiter als Illusionen und Hirngespinste.
Ich lief an ihr vorbei, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich werde Feuerholz holen.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top