Kapitel 54

"Ich muss dir noch etwas zeigen", sagte Albedo nah an meinem Ohr, damit ich seine Worte über den Lärm der Taverne hinweg verstehen konnte, was trotz dessen nicht leicht war, denn der Geräuschpegel war in der letzten Stunde um das doppelte angestiegen. Mittlerweile tanzten einige sogar auf den Tischen zu der Musik. Ich wollte nicht wissen, wie viel sie getrunken haben mussten, aber es sah so aus, als hätten sie eine Menge Spaß. 

Ich sah Albedo erwartungsvoll an. Im Gegensatz zu den anderen meiner Freunde war ich bei nicht-alkoholischen Getränken geblieben. Langsam erhob ich mich von meinem Hocker, ein wenig benebelt von der Wärme, die in der Taverne herrschte. Ich gab Suha Bescheid, dass ich die Taverne verlassen würde und die Orangehaarige nahm es nickend zur Kenntnis. Dann bahnte ich mir mit Albedo einen Weg durch die vielen Menschen und trat schlussendlich nach draußen. Es war bereits dunkel und damit deutlich kühler geworden. Es fröstelte mich zwar ein wenig, aber ich war auch dankbar für die kühle Luft, die auf mein erhitztes Gesicht traf. 

"Komm mit", sagte Albedo dann schlicht und ich begann ihm zu folgen. Schweigend liefen wir nebeneinanderher die Treppen herauf, die ich bereits so viele Male gegangen war. Ich hatte keine Ahnung, wo Albedo mich hinbrachte. Diese Ungewissheit wurde jedoch geklärt, als er mit mir vor dem Gebäude des Orden stehen blieb und dann die Tür aufdrückte. Ich hatte ein komisches Deja Vu von dem Tag, als Klee mich in den Ritterorden geführt hatte. "Albedo", wisperte ich in die Dunkelheit hinein. "Dürfen wir hier zu so einer Uhrzeit überhaupt sein?", fragte ich ein wenig verunsichert, da ich auf keinen Fall gegen irgendwelche Regeln hier verstoßen wollte, und aus Albedo Richtung erklang ein amüsiertes Glucksen. "Ich darf hier sein, wann immer ich will, ich bin Teil des Ordens", erklärte er mir und ich musste schmunzeln. Richtig, manchmal vergaß ich diese Tatsache.

Also folgte ich Albedo in das riesige Gebäude hinein. Der Orden war um diese Uhrzeit erstaunlich still. Sicher arbeitete trotzdem jemand hier, ich konnte mir kaum vorstellen, dass im Orden jemals nicht gearbeitet wurde. Dennoch war es stiller, als am Tag. Erneut verspürte ich großen Respekt für dieses Gebäude, beziehungsweise eher, wofür es stand. Oder aber auch für die Personen, die hier bereits so viel geleistet hatten. Sie waren starke Vorbilder.

Albedo führte mich schweigend durch die Gänge und Räume und der Weg kam mir seltsam vertraut vor. Während wir liefen hakte sich eine Vorahnung in meinem Kopf fest, die sich kurz darauf bestätigte, als Albedo die Tür zu einem kleinen Raum öffnete, der ziemlich vollgestellt war. Es war derselbe Raum, in den Klee mich geführt hatte. 

Albedo schloss hinter uns die Tür, nachdem wir beide eingetreten waren, wodurch es ziemlich finster in dem Raum wurde, nur der Mond, der durchs Fenster einfiel, spendete ein wenig Licht. Es dauerte aber nicht lange, bis sanftes orangefarbenes Licht um uns tanzte, denn Albedo hatte zwei Öllampen entzündet, von denen er mir eine reichte. Vermutlich hatte er sie hier irgendwo rumstehen gehabt.

Dann sah ich mich um, schwenkte die Laterne mit mir. Viele der gezeichneten Bilder hatte ich bereits gesehen, doch es waren auch neue dazu gekommen. Ein Bild, welches mir sofort ins Auge fiel, bestand aus sehr vielen Blautönen. Es zeigte mich, wie ich mit nassen Klamotten im Wasser stand und ich wusste sofort, dass das zu meiner Schwimmstunde mit Albedo war. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. "Ich kann immer noch nicht wirklich schwimmen, weißt du", sagte ich und drehte mich zu Albedo herum, der hinter mir wartete und jede meiner Bewegungen verfolgte. 

"Ich weiß", antwortete er und seine Lippen formten ebenfalls den Hauch eines Lächelns. "Und das werden wir bald ändern. Aber erst konzentrieren wir uns auf das hier", gab er sanft von sich und deutete wieder auf die Bilder. Also drehte ich mich wieder herum. Und betrachtete weiter die Bilder, lief von Bild zu Bild und überlegte mir, aus welchen Momenten diese Bilder stammten. 

Eine bunte Ölzeichnung erregte meine Aufmerksamkeit und ich wusste, kaum dass ich ein Blick darauf geworfen hatte, dass es meine Lieblingszeichnung war. Sie war so sauber und präzise angefertigt und wenn man sie betrachtete hatte man das Gefühl, direkt in der Szene drin zu stecken. Sie zeigte mich von der Seite, wie ich in den dunklen Nachthimmel voller Sterne schaute. Im Hintergrund war sanftes oranges Licht zu erkennen und mir kam der Augenblick wieder in den Sinn, in dem diese Situation entstanden war. Ich hatte mit Albedo auf dem Holz gesessen und seine Wunde versorgt, die Kalin ihm zugefügt hatte. Ich hatte ihm von mir erzählt, weil er Dinge wissen wollte, die niemand sonst wusste. 

"Das ist mein Favorit", sagte ich wie aus Reflex und deutete auf das besagte Bild. Ein wissendes Lächeln trat auf die Lippen des Aschblonden Kriegers und er trat neben mich um das Bild ebenfalls anzuschauen. "Ich glaube das war der Moment, in dem ich mich ein bisschen in dich verliebt habe", sagte er leise und seine hellen Augen studierten die Pinselstriche. Mein Herz setzte bei seinen Worten aus, blieb stehen und raste danach in doppelter Geschwindigkeit weiter. Ich wusste nicht, ob ich mich verhört hatte und wollte gerade meinen Mund öffnen, um etwas zu erwidern, doch Albedo unterbrach mich mit einer Geste seiner behandschuhten Hand. 

"Sag jetzt nichts, darum soll es gerade nicht gehen. Weißt du, wieso du hier bist?", fragte er langsam und sah mir eindringlich in die Augen. Zögernd schloss ich meinen Mund und schüttelte stumm meinen Kopf.

"Du bist hier, weil ich wollte, dass du die Bilder wirklich siehst und ich derjenige bin, der sie dir zeigt und nicht Klee oder irgendjemand anderes", fing er an zu erzählen und sah mir ernst in die Augen. Es brauchte nicht viel Verständnis um zu wissen, dass ihm das hier wichtig war. 

"Ich habe dir erzählt, dass du pure Inspiration für mich bist und ich einfach drauf los malen kann, wenn ich dich vor Augen habe. Aber das ist nicht der eigentliche Grund, warum ich dich in so einer Vielzahl auf Leinwand und Papier gebracht habe. Der eigentliche Grund ist, dass ich dich immer gemalt habe, wenn ich dir nah sein wollte, es aber nicht konnte. Wenn du in Momenten so schön aussahst, dass ich diesen Anblick niemals vergessen und immer wieder ansehen wollte. Wenn ich Angst hatte und nicht wusste, wie ich weiter machen soll. Wenn ich verzweifelt war und Trost brauchte. Doch ich konnte nicht zu dir, weil ich solche Angst hatte, dass sich das alles vertiefen und dann einem von uns etwas passieren würde. Es wäre pures Leid gewesen. Purer, reiner Schmerz. Und das da", er machte eine Pause und deutete auf die vielen Bilder. "War meine Art dir nahe zu sein." 

Wieder legte Albedo eine Pause ein und sah mich an, wartete auf eine Reaktion von mir. Ich erwiderte seinen Blick, doch in meinen Augen schwammen Tränen, weil ich seinen Schmerz in jedem Wort fühlen und in jedem Bild und jedem Pinselstrich sehen konnte. Seinen Schmerz, seine Sehnsucht, aber auch seine Zuneigung. Seine Worte trafen etwas so tief in meinem Herzen, dass es so unglaublich weh tat und ich das Gefühl hatte, dass es gleich zerspringen würde, obwohl alles gut war. Obwohl Albedo vor mir stand und ich ihn nie wieder loslassen musste, weil die Prüfungen endlich vorbei waren. Jetzt, da die Prüfungen vorbei waren, wurde mir bewusst, wie viel ich für meinen Traum geopfert und aufgegeben hatte. Wie viel ich hinten an gestellt hatte, weil die Prüfungen meine oberste Priorität gewesen waren. Und erst jetzt, als ich endlich wieder klar sehen konnte, ohne die Prüfungen im Kopf zu haben, traf mich die Erkenntnis, dass ich mich immer genau so sehr nach Albedo gesehnt hatte, wie er sich nach mir. Ich war nur zu dumm gewesen es zu erkennen, weil da so viele andere Gefühle und Gedanken gewesen waren, die die Prüfungen von mir gefordert hatten. Wie hatte ich nur so blind sein können?

Ich schniefte und wischte mir vorsichtig mit dem  Handrücken über die Wangen, an denen die ersten Tränen herunter kullerten. Albedos Blick wurde weich und er strich mir sanft übers Haar, bevor er schließlich eine meiner Hände nahm und sie vorsichtig auf seine Brust legte. Genau an die Stelle, an der sich sein Herz befand. "Verstehst du nicht, Ayumi? Du bist das Sonnenlicht, dass mein Herz am Leben hält", sagte er leise und in seinen Worten lag so viel Aufrichtigkeit, dass mir erneut das herz schmerzte und ich wieder schniefen musste. Ich war so überwältigt von seinen Worten und Gefühlen, dass mir selbst kein einziges Wort über die Lippen kam. 

Albedo hob seine Hände und strich mir vorsichtig die Tränen von den Wangen, bevor er wieder meine Hand nahm. "Ich muss dir noch etwas zeigen", sagte er und führte mich vorsichtig durch die Bilder hindurch bis zur gegenüberliegenden Wand, an der sich eine kleine Tür befand, während ich mich fragte, wie viele Emotionen er mir noch zumuten wollte. Die Tür, zu der er mich geführt hatte, war mir vorher in dem Raum nie aufgefallen. Langsam drückte Albedo die geschwungene Klinge herunter und führte mich in den dahinterliegenden Bereich. 

Der Raum war klein, aber von Licht geflutet. Die großen Fenster tauchten das Zimmer in helles Mondlicht und mitten in der Mitte von der kleinen Fläche befand sich eine lebensgroße Puppe aus Holz und ohne Kopf, die ein wunderschönes Kleid trug. 

Vor Staunen schlug ich mir eine Hand vor den Mund und betrachtete das Kunstwerk, das vor mir lag. Das Kleid war am Oberkörper sehr enganliegend und hatte als Ärmel jeweils nur ein band, an dem weitere Bänder herab baumelten. Das Kleid wurde ab der Taille weiter und fiel in mehreren sanften Schichten fließend herab. Vorne war es deutlich kürzer und endete schon an den Oberschenkeln, während es nach hinten bis auf den Boden herabfiel. Das Kleid war in einem Mitternachtsblau gehalten und ging nach unten hin mehr in tiefes Rot über. Es funkelte sanft, als würden Sterne daran haften. Doch das eigentliche Highlight waren die roten Splitter, die sich auf der gesamten oberen Hälfte in gezielten Abständen befanden. Es waren große und kleine Splitter, die wie Tränen aus Blut aussahen und sich über den Oberkörper ergossen. Sofort schoss mir ein Gedanke durch den Kopf und ich fand mit Mühe meine Stimme wieder. 

"Ist das-", fing ich an, doch Albedo unterbrach mich, in dem er sagte: "Dein Blutroter Achat aus dem Drachengrat, ja. Der von dem du dachtest, dass er nutzlos und endgültig verloren gewesen sei. Aber ich habe die Splitter aufgesammelt", erklärte er mir und wieder traten mir Tränen in die Augen, weil ich nicht wusste, wie ich mit solch einer Geste umgehen sollte und weil ich keine Ahnung hatte, wie ich die Gefühle, die mich in diesem Moment durchströmten, kompensieren sollte. 

"Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll", sagte ich nach einer Weile leise und ein wunderschönes Lächeln trat auf die Lippen meines Kriegers. "Das brauchst du nicht. Es reicht, wenn du das Kleid übermorgen trägst."

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