Kapitel 45

Ich bekam nicht mit, wie die anderen die Lawachurls besiegten. Ich spürte nicht, wie mich jemand vom Boden hochzog und aus der Sphäre brachte. Ich hatte Chiyo so lang festgehalten wie es ging, doch als sie mich raus brachten, musste ich sie los lassen und ihren Körper in der furchtbar kalten Sphäre zurücklassen. Ich ließ sie allein und es zerriss mein bereits kaputtes Herz immer weiter. Ich weinte noch immer, doch aus mir brach kein Ton mehr heraus, meine Kehle war wund. 

Ich merkte nicht, wie wir uns fortbewegten. Irgendwann hatte ich aufgehört zu weinen und ich hatte es nicht einmal mitbekommen. Die Welt um mich herum war verschwommen zu unkenntlichen Schemen. Nach dem ersten Schock und dem Schmerz folgte die Leere, in der man nichts mehr spürte. Keinen Schmerz, keine Gefühle, nichts. Ich hörte nicht, wenn Suha oder Albedo etwas zu mir sagten. Ich hörte die Geräusche der Welt um mich herum nicht. Ich nahm nichts mehr wahr. 

Alles, was ich immer wieder vor mir sah, war der blutige Körper Chiyos, ihre letzten Worte, die sie mühsam über ihre Lippen gebracht hatte, meine Finger, die sie nicht loslassen wollte. Und dann immer wieder der Gedanke, dass ich einen Menschen verloren hatte, den ich nie verlieren wollte. Diese Gedanken rissen mein Herz jedes Mal aufs neue auf und ließen es ausbluten. Für eine Weile spürte ich dann so schlimmen Schmerz, dass es kaum ertragbar war und dann mündete es irgendwann wieder in der alles einnehmenden Leere. Dieser Zustand hatte mich fest im Griff und so zogen die Tage ins Land. 

Und dann nahm ich irgendwann plötzlich wieder Dinge war. Es begann mit leisen, kaum merkbaren Geräuschen. Und dann wurde mir bewusst, dass ich das Knirschen von Schnee hörte. Es war ein sanftes Geräusch und trotzdem riss es mich von den Füßen, denn dadurch wurde mir klar, dass ich in diese Welt zurückgefunden hatte. 

Zuerst wusste ich nicht, wo ich mich befand und Verwirrung machte sich in mir breit. Doch dann wanderte mein Blick über die Steinwände mit den Regalen voller Glasfläschchen und Flüssigkeiten, über die Feuerstelle und die kleine Werkbank. Ich befand mich in Albedos Höhle im Drachengrat. 

Mein Blick wanderte weiter und ich erkannte, dass es draußen Nacht war. Ich hatte keine Ahnung, wie lang ich mich bereits hier befand. Meine Hände hatte jemand von dem tiefroten Blut befreit. Ich trug außerdem eine andere Tunika, meine alte musste ebenfalls voller Blut gewesen sein. Blut. Chiyos Blut. 

Mit einem Mal holte mich die Erkenntnis wieder ein. Die friedliche Leere, die ich bis eben noch empfunden hatte, wurde von Bildern verdrängt, die über mich einstürzten, mir jegliche Luft raubten und mich unter sich begruben. Blut. Überall Blut. Ein lebloser Körper in meinen Haaren, schwarzes Haar, schneeweißer Cheongsam und ein letzter Atemzug. Die Kälte, die vom Höhleneingang ab und zu herüber wehte erweckte die schrecklichen Erinnerungen noch mehr zum Leben. Ehe ich es mich versah, brachen alle Dämme und ich fing erneut an zu weinen. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, dass es mir jegliche Luft zum atmen nahm. Der erste Schluchzer schüttelte meinen Körper. 

Albedo, der bis gerade eben an einem seiner Regale gestanden und etwas gesucht hatte und den ich bis jetzt nicht bemerkt hatte, kam mit schnellen Schritten zu mir herüber. Er zog sich einen weiteren kleinen Holzhocker heran und setzte sich darauf nieder. Nur wenige Augenblicke danach zog er mich sanft in seine Arme und ich akzeptierte es. Ich ließ mich von ihm halten, bettete meinen Kopf in seine Halsbeuge und ließ meinen Tränen freien Lauf. Albedo hatte seine Arme schützend und fest um mich gelegt und strich mit seiner Hand, die anscheinend dieses Mal nicht in einen Handschuh gehüllt war,  beruhigend über mein Haar. 

Ich währenddessen verlor jegliches Zeitgefühl. Ich schluchzte und weinte und es raubte mir jegliche Energie. Jedes Mal wenn ich mich ein wenig beruhigt hatte, schoben sich die grausamen Bilder wieder in meinen Kopf und ich musste wieder anfangen. Aber wenigstens konnte ich mich wieder erinnern, in der Leere war alles weg gewesen. 

Chiyo war viel zu jung gewesen. Ihr hätte die Welt gehören können, doch sie musste sie loslassen, bevor sie ihr Leben überhaupt wirklich beginnen konnte. Sie hatte es nicht einmal geschafft, Abenteurerin zu werden. Obwohl es keiner mehr verdient hätte, als sie.

Albedo ließ mich während der ganzen Zeit, in der ich mit den Erinnerungen zu kämpfen hatte, nicht los. Er wiegte mich hin und her, so wie ich es mit Chiyo getan hatte und erlaubte es mir, seine Kleidung mit meinen Tränen zu tränken. 

Als ich mich endlich wirklich beruhigt hatte, war jegliche Energie aus meinem Körper verschwunden. Hätte Albedo mich nicht gehalten, wäre ich zusammengesunken. Ich hatte noch nie wirklich den Verlust einer Person erlebt, was das Ereignis für mich nur umso schlimmer machte. 

"Es tut so weh", sagte ich mit krächzender Stimme leise und ich hörte Albedo seufzen. "Ich weiß", antwortete er mit sanfter Stimme und mein geschundenes Herz sehnte sich in diesem  Moment so sehr nach ihm. Beim nächsten Atemzug den ich tat, konzentrierte ich mich auf seinen Geruch, der mich beruhigte, sobald ich ihn in meiner Nase hatte. Ich musste mich irgendwie ablenken, sonst würden die Bilder in meinem Kopf mich einnehmen. 

"Hört es jemals auf?", fragte ich dann leise und mein Blick glitt ins Leere, als ich erneut Chiyos leblosen Körper vor meinem inneren Auge sah und ihr fröhliches Lachen im Ohr hörte. Erneut begannen mir stumme Tränen die Wange herunterzulaufen. Albedo sagte lange nichts, doch dann antwortete er: "Der Schmerz wird mit der Zeit weniger, aber er wird niemals ganz vergehen." 

In seiner Stimme lag alter, tiefer Schmerz und ich fragte mich, was er erlebt hatte, doch ich fühlte mich nicht im Stande dazu, nachzufragen. Seine Worte rammten einen weiteren Dolch in mein Herz, doch ich hatte ja selbst nachgefragt. Vorsichtig nickte ich und dann verweilten wir noch eine Weile so. Irgendwann regte Albedo sich, löste einen Arm von mir und legte seine Hand dafür an meine Wange. "Ayumi", sagte er leise und hob mit seiner Hand meinen Kopf so an, dass ich ihm ins Gesicht schauen konnte. Ich richtete mich ein wenig auf, doch die stummen Tränen liefen noch immer meine Wangen herunter und tropften auf den Boden. 

Ich sah den Gleichaltrigen an. Seine eisblauen Augen waren ebenfalls von Traurigkeit getrübt, doch in ihnen lag auch Wärme. "Ich hab ihr versprochen die Prüfungen zu bestehen, doch ich weiß nicht mehr wie", sagte ich plötzlich leise, obwohl ich gar nicht vorgehabt hatte, die Worte auszusprechen. Doch sie waren wahr. Seit Chiyos Tod hatte ich unglaubliche Angst aber fühlte mich zugleich so leer, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich ein Schwert halten und kämpfen sollte. Chiyo war so stark und geschickt gewesen und sie hatte es nicht geschafft. Ich war noch nicht Mal ansatzweise auf ihrem Level.

Albedos Lippen verließen ein kleines Seufzen. Dann hob er seine zweite Hand auch noch an meine Wange und begann vorsichtig meine Tränen von meinen, vom weinen heißen, Wangen zu streichen. Seine Berührung war unglaublich sanft und mein weinendes Herz zog sich ein wenig zusammen, weil seine Berührung das Gefühl in mir hervorrief, geliebt zu werden und dennoch wurde das Gefühl von meinem Schmerz überschattet. 

Dann ließ Albedo seine Stirn langsam und sanft gegen meine Stirn sinken, während er noch immer sanft über meine Wangen strich. "Es wird nicht einfach werden", fing er an zu flüstern und ich schloss meine Augen, spürte erneut die Tränen die in meinen Augen brannten und war gleichzeitig unglaublich dankbar für seine Nähe. "Aber du wirst es schaffen. Du musst durchhalten und ihr Andenken weiterführen, verstehst du das?", fragte er leise und ich nickte schluchzend. "Du bist eine Kriegerin, Ayumi", flüsterte er und gab mir dann so sanft einen Kuss auf die Stirn, dass es sich wie ein kleines Pflaster für mein gebrochenes Herz anfühlte. 

Noch ehe ich das Gefühl wirklich realisieren konnte, war er aufgestanden und zu einem seiner Regale gegangen. Ohne seine Nähe war mir plötzlich kalt und ich sank in mich zusammen. Ich beobachtete Albedo dabei, wie er etwas von dem Regal holte und dann zurück kam. Er setzte sich wieder neben mich und legte mir den Gegenstand vorsichtig auf die Beine. 

Es war ein langer Gegenstand, der in braunen Jutestoff eingewickelt war. Vorsichtig schlug ich den Stoff um, nur um darin ein silbernes Schwert zu finden, dass mit blauen Akzenten besetzt war. Ich erkannte das Schwert sofort, denn ich hätte es unter Tausenden erkannt und als ich es erblickte traten mir erneut Tränen in die Augen, doch ich weigerte mich, ein weiteres Mal zu weinen. Vorsichtig ergriff ich den Griff der Klinge und hob die Waffe hoch. Sie war noch leichter, als ich es in Erinnerung hatte. 

Es war Chiyos Schwert. 

"Du warst wie eine große Schwester für sie. Sie hätte gewollt, dass du es bekommst. Damit kannst du ihren Kampfstil für dich weiter verfeinern", erklärte Albedo mir und beobachtete mich dabei aufmerksam. Vorsichtig wiegte ich das perfekt ausbalancierte Schwert in meiner Hand. Es lag gut in meiner Handfläche. Für meine Körpergröße war es vielleicht ein kleines bisschen zu lang, doch wenn ich oft genug damit trainierte, würde ich mich daran gewöhnen. Bereits jetzt wollte ich das Schwert am liebsten nicht mehr aus der Hand legen. Wie ein ertrinkender klammerte ich mich an die Waffe, weil es das Einzige wahr, was ich jetzt noch von Chiyo hatte. 

"Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", gab ich leise von mir und symbolisierte so meine Sprachlosigkeit. Überwältigt blickte ich auf das Schwert nieder. 

"Manchmal ist es besser nichts zu sagen", erwiderte Albedo und als ich ihn dann anschaute, trug er ein kleines aufmunterndes Lächeln auf den Lippen, das eine zarte Wärme in mein Herz setzte. 

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Ich muss sagen, Chiyos Tod war eine schwere Entscheidung für mich, weil sie eine meiner liebsten Charaktere aus dem Buch war, allerdings ist ihr Tod essenziell für die nachfolgenden Kapitel, deshalb ging es nicht anders.

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