Kapitel 31

Als ich die Engelsgabe verließ, schlug mir die milde Nachtluft entgegen, die jedoch bereits immer mehr an Wärme verlor. Es passierte schleichend, doch die Nächte wurden kälter und bald würde sich auch der Sommer dem Ende entgegen neigen. 

Ich lief ein Stück weit und wollte zu meiner Pension gehen, um schlafen zu gehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Schlaf gut gebrauchen könnte. Doch gerade als ich die Pension erreichte, entdeckte ich eine Gestalt vor der Eingangstür, die unumgänglich Albedo war. Er sah mich still an, während ich auf ihn zu ging und selbst als ich vor ihm stehen blieb, regte er sich noch immer nicht. 

Nach einer kurzen Weile animierte er mich stumm ihm zu folgen und das tat ich, ohne auch nur zu wissen, was er vor hatte. Er führte mich zu dem nächsten Teleportationspunkt und legte seine Hand auf die blaue Konstruktion. Kurzerhand berührte ich mit meiner Hand seinen Arm, damit es mich dorthin teleportierte, wo auch Albedo landen würde. 

Ich spürte, wie sich unsere Materie an dem einen Ort auflöste und dann nur wenige Sekunde später wieder an einem anderen Ort zusammensetzte. Als ich dann wieder klare Sicht hatte, erkannte ich, dass wir uns auf einer großen, schief stehenden Säule an der Falkenküste befanden. Ich sah Störche fliegen und im Gras landen. Das Wasser rauschte leise und das Geräusch beruhigte mich. Und ich wusste, wenn ich von hier aus noch ein Stück laufen würde, würde ich bei meinem zu Hause ankommen. Doch ich konnte jetzt nicht nach Hause gehen.

Noch ehe ich mir Gedanken darüber machen konnte, wie ich von der Säule herunterkommen sollte, hatte Albedo einen Arm um mich geschlungen, war von der Säule gesprungen und in wenigen Sekunden mit seinem Windgleiter zum Boden geglitten. Als ich realisierte, was gerade passiert war, stand ich schon wieder mit beiden Füßen fest auf dem Boden. 

Albedo hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt und ich beeilte mich ihm zu folgen. Er ging zum Rand der Felsen und ließ sich an der Kante nieder, seine Füße baumelten über den Abgrund. Ehe ich länger darüber nachdenken konnte, tat ich es ihm gleich und dann saßen wir beide auf dem felsigen Untergrund und betrachteten das Bild, was sich vor uns erstreckte. 

Unter uns befand sich Sand, über den die Wellen immer wieder sanft schwappten. Das Meer erstreckte sich bis zum Horizont und wir konnten die andere Seite der Falkenküste sehen, die durch noch größere Klippen abgegrenzt wurde. Über den Himmel zogen vereinzelt ein paar Wolken, die den fast vollen Mond immer mal wieder zeitweise verdeckten. Dem hellen Mond leisteten tausende von Sternen Gesellschaft. Es sah aus, wie gemalt, wie aus der Hand eines Künstlers entsprungen.

"Wunderschön, nicht wahr?", fragte Albedo leise und es war der erste Versuch, die Stille zu brechen. Langsam nickte ich. "Es ist beruhigend", gestand ich und ließ meinen Blick über den Sternenhimmel schweifen. "Manchmal braucht man einen Ort, an dem alles andere so fern erscheint. Etwas, wo man alles andere vergessen kann", sagte Albedo, nachdem er wieder eine Weile geschwiegen hatte. "Ich hatte das Gefühl, du brauchst das gerade", sagte er dann langsam und sah mich von der Seite an.

"Du weißt  gar nicht, wie recht du damit hast", gab ich seufzend von mir und musste dann wieder einmal den Kloß in meinem Hals herunterschlucken, der sich bildete. "Ich habe bei der Prüfung meine Materialien verloren und damit auch eine Menge Punkte", erzählte ich dann, obwohl Albedo nicht gefragt hatte, erschien es mir in diesem Moment dennoch richtig. 

"Dir scheinen die Prüfungen wirklich viel zu bedeuten, deswegen kann ich verstehen, wie schwer das gerade für dich sein muss", sagte er und ich musste die aufkommenden Tränen in meinen Augen wegblinzeln. Wenn er doch nur wüsste, wie schwer es wirklich war. 

"Bei mir waren es zwar nicht die Prüfungen, aber ich hatte auch eine Zeit, in der mir alles schwer vorkam. Eine Zeit in der ich nicht wusste, wer ich bin oder was ich bin", er machte eine Pause und ich wandte meinen Kopf fragend zu ihm. Ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte. "Ich atme nicht, Ayumi", sagte er dann unvermittelt und wandte seinen Kopf zu mir, um mich mit seinen eisblauen Augen anzuschauen. Ich zog verwirrt meine Augenbrauen zusammen, konnte nicht zuordnen was er mir erzählte. Als seine Worte langsam zu mir durchdrangen, fing ich wie automatisch an ihn zu mustern. Und dann stellte ich fest, dass sich seine Brust nicht unter seiner Kleidung hob und senkte, wie es bei mir oder allen anderen Menschen der Fall war. Mein Blick wanderte wieder nach oben und verfing sich in Albedos stechenden Augen, die mich abwartend ansahen. 

"Wie ist das möglich?", rutschte es mir flüsternd über die Lippen und es erstaunte mich, dass es mir nicht vorher schon aufgefallen war. Wahrscheinlich hatte ich einfach nicht darauf geachtet. "Ich bin kein Mensch", sagte er schlichtweg ohne Umschweife und seine Worte trafen ungehindert auf mein Gehirn, welches das Gesagte nicht wirklich verstand. Er war kein Mensch, das hatte ich verstanden, aber was war er dann? Er sah so menschlich aus und verhielt sich auch so, mit der Ausnahme dass er deutlich reifer und gebildeter war als die meisten in seinem Alter. 

Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich ihn erneut musterte und mein Verstand wusste, dass ich Angst haben sollte, weil eine Gestalt neben mir saß, der ich vorher noch nie begegnet war. Doch da war keine Angst, sondern nur Faszination, die tief in mir entstand und sich dann ihren Weg durch meinen Körper bahnte und mich vollends einnahm. 

Langsam hob ich eine Hand zu Albedos Gesicht und berührte mit meinen Fingerspitzen ganz sanft seine Wange, so als müsste ich mich versichern, dass es ihn wirklich gab, dass er wirklich echt war und ich mir das Alles nicht nur einbildete. Doch ich spürte seine Haut unter meinen Fingern, die tatsächlich warm war und sich weich anfühlte. Albedo verfolgte jede meiner Bewegungen mit seinem Blick und hielt meinem Blick abwartend stand, als ich ihm wieder in die Augen sah. Er wartete meine Reaktion ab.

"Du hast keine Angst", stellte er sachlich fest und doch lag ein wenig Verwunderung in seiner Stimme. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich...", begann ich, doch wusste selbst nicht, wie ich den Satz beenden sollte. Albedo sah mich an und da war wieder der Ausdruck in seinen Augen, der mir verriet, dass er sich einmal mehr keinen Reim auf mich machen konnte. "Ich hatte erwartet, dass du Angst bekommst und dich mit einem verschreckten Blick abwendest", gestand er in neutralen Ton und ich schwieg, denn ich wusste selbst nicht wirklich genau, warum er mir keine Angst machte. 

"Ich wurde zwar künstlich hergestellt, aber ich habe trotzdem Gefühle", sagte er dann nach einer Pause und sah mich wieder an. "Und dass du trotzdem hier sitzt, nachdem was ich dir gerade erzählt habe, macht mich irgendwie glücklich", sagte er und lächelte mich sanft an. Sein Blick verriet mir wie viel ihm das bedeutete und ich hatte nicht vor, ihn nur wegen seiner Gestalt einfach hängen zu lassen. Wir waren Freunde und Freunde taten so etwas nicht, auch wenn der Begriff 'Freunde' sich für mich zunehmend fremder anfühlte. Ich wusste, dass die zarten, kleinen Schmetterlinge, die ich im Bauch spürte, wenn er mir nahe kamen, irgendwie über Freundschaft hinaus gingen, aber ich konnte nicht benennen, was es war.

"Was ich dir eigentlich sagen wollte, es gab eine Zeit, in der mich mein eigenes Dasein wirklich geschunden hat. Ich wusste nicht wohin mit mir, hatte keine Eltern und wusste nicht, was ich tun sollte. Alles erschien hoffnungs- und ausweglos. Und ich hatte niemanden, der mir beistand. Es war so schwer", er machte wieder eine Pause und mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, wenn ich mir vorstellte, wie das für ihn gewesen sein musste. Wie schwer es ihm jetzt fallen musste, mir davon zu erzählen, denn ich wusste, dass Albedo nicht so leichtfertig über seine Gefühle sprach.

"Aber du darfst niemals aufgeben. Niemals, hörst du?", gab er mit Nachdruck in der Stimme von sich und hatte sich mir vollends zugewandt um mich eindringlich anzusehen. "Du musst dich fangen und an dir selbst arbeiten. Du musst dich selbst davon heilen, denn niemand anderes wird es für dich tun. Und die Prüfungen sind für dich noch nicht verloren. Du kannst noch immer bestehen. Ich weiß, dass du es schaffen kannst", sagte er aufrichtig und schenkte mir ein ehrliches Lächeln, das in Windeseile mein Herz erreichte und mir die Tränen in die Augen trieb. 

"Und wenn du nicht mehr weiter weißt, dann sieh hoch zu Sternen und dem Mond und erinnere dich daran, dass du niemals allein bist, denn Sie passen auf dich auf", fügte er hinzu und ich nickte langsam, versuchte nicht zu weinen, denn seine Worte trafen etwas tief in mir. "Und was mache ich am Tag, wenn der Mond und die Sterne weg sind?", fragte ich mit zitternder Stimme und ein Lächeln huschte über Albedos Lippen. Er griff in eine seiner Taschen und zog ein Schmuckstück daraus hervor. So, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich diese Frage stellen würde.

Es war ein zartes Armband aus Silber, an dem sich in regelmäßigen Abständen kleine blaue Edelsteine befanden und in der Mitte des Armbandes befand sich ein liebevoll ausgearbeiteter Sichelmond, der so zart wirkte, dass ich mir schon fast Mondlicht vorstellen konnte, welches von ihm ausging. Es war wunderschön. 

Albedo griff sanft nach meinem rechten Handgelenk und ich war mir mit einem Mal sicher, dass es ein Schmuckstück von einem fahrenden Händler sein musste. Während er mir mit seinen behandschuhten Händen das zarte Armband umlegte, sagte er: "Dann sieh auf diesen Mond herunter, der immer bei dir sein wird und erinnere dich daran, dass nur weil man etwas nicht sieht, es nicht zwangsläufig nicht da sein muss." 

Und das war der Moment, in dem ich mich ein bisschen in Albedo verliebte. 

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Und schon ist wieder Mittwoch und Ostern ist auch nicht mehr weit.
Jetzt muss nur das Wetter endlich wärmer werden, hier sind seit Tagen nur um die 5°C T-T

Ich wünsche Euch eine tolle Woche!

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