Kapitel 22

Ich schlug meine Augen auf und beschloss, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiterhin zu versuchen, noch ein wenig Schlaf abzubekommen. Ich hatte die halbe Nacht wach gelegen und war der Leere in meinem Inneren nachgespürt. Der, der gestorben war, war nicht einmal ein Freund von mir gewesen, geschweige denn überhaupt ein Bekannter. Ich wusste nicht mal, wer der Tote eigentlich wirklich war und trotzdem zog es mich derart hinunter. So sehr, dass es mir den Schlaf raubte, den ich nach diesem Tag so dringend nötig gehabt hätte. Suha hatte mir im Nachhinein erzählt, dass der Tote ein guter Freund von Kalin gewesen war. Er war wohl mit Albedo in einem Team gewesen und Albedo hatte erst bemerkt, dass etwas nicht gestimmt hatte, als es schon fast zu spät war. Er konnte nichts mehr für ihn tun und trotzdem machte Kalin ihn für den Tod verantwortlich. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie schlimm dass für Kalin gewesen sein musste, wenn es für mich schon schwer war.

Wahrscheinlich nahm es mich so sehr mit, weil mich damit die Realität völlig unerwartet einholte. Bisher hatte es keine Toten gegeben und alles war schon fast viel zu gut verlaufen. Doch gestern hatte sich das geändert. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass diese Prüfungen viel forderten. Man musste Opfer bringen und für manche bedeutete es, das Leben zu verlieren. Die Prüfungen brachten Tote hervor. Das war immer so gewesen und wird immer so sein. Und dennoch nehmen jedes Jahr so viele teil. Jeder wusste, worauf man sich bei den Prüfungen einließ und war bereit, das Risiko einzugehen, nur um seinen Traum zu leben. Auch ich. 

Gestern hätte genauso gut ich die Tote sein können und diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte bereits die ganze  Nacht darüber nachgedacht und trotzdem überrollte mich dieser schreckliche Gedanke immer wieder. Ich wurde das schwerwiegende Gefühl nicht los, dass die Prüfungen ab jetzt erst richtig ernst wurden. Als wären alle Teilprüfungen davor nur eine Einführung gewesen. 

Der Fakt, dass die nächste Prüfung im Drachengrat stattfinden würde, verstärkte diesen Gedanken noch um ein Vielfaches. Ich konnte nicht leugnen, dass mir die schleichende Angst allmählich das Blut in den Adern gefrieren ließ. 

Trotz der schlimmen Situation nahm auch ein anderer Gedanke in meinem Kopf immer mehr kristallklare Gestalt an. Ich musste das Kämpfen richtig lernen und zwar so schnell wie möglich. 

Anstatt weiter im Bett zu liegen und zu versuchen, dem Schlaf hinterher zu jagen, den ich sowieso nicht bekommen würde, stand ich auf und zog mir praktische Kleidung an, die zum Training geeignet war. Als ich aus der Tür heraustrat, war es noch immer stockdunkel draußen. Es musste mitten in der Nacht sein. 

Da ich unter diesen Bedingungen auf keinen Fall auf dem kleinen Übungsplatz trainieren konnte, verließ ich kurzer Hand Mondstadt City und folgte ein Stück weit dem Weg, um dann auf der Wiese zu trainieren, wo ich niemanden aufwecken würde. 

So wie Suha es mir geraten hatte, verzichtete ich auf das Holzschwert zum Üben und trainierte stattdessen mit meinem richtigen Schwert. Wenn ich ehrlich mit mir selbst war, dann hätte ein Holzschwert auch nicht mit meinem Gemütszustand zusammen gepasst. Ich brauchte ein richtiges Schwert. Denn mit der Leere in mir Selbst und der Erkenntnis, die mich die ganze Nacht verfolgt hatte, war ich ein wenig sauer auf mich selbst geworden, dass ich noch immer nicht kämpfen konnte. Wenn ich eine wahrhaftige Chance haben wollte, das hier zu überleben, dann musste ich mich ran halten. Und das tat ich. 

Ich wiederholte die Übungen, die Suha mir beigebracht hatte und führte sie unzählige Male durch. Ich wurde schneller, verbesserte die Übungen wo es ging und ließ auch nicht nach, als mein Arm anfing zu schmerzen. Trotzdem gelang es mir nicht, die Übungen in hoher Geschwindigkeit, präzise und fehlerfrei auszuführen. Normalerweise war ich einer der Menschen, der den Fehler so lange suchte, bis ich ihn gefunden hatte und dann an dem Fehler arbeitete, bis es klappte. Doch die schwierige Situation und meine Gedanken, die einfach immer wieder abdrifteten, weil das Alles in meinem Inneren doch irgendwie zu schwer wiegte und ich keinen Fokus finden konnte, erschwerten mir das Training unheimlich. 

Der Frust, der zu meinem Gefühlzustand dazu kam, weil die Übungen nicht so klappten, wie ich das wollte, ließ mich meine Bewegungen noch schlampiger ausführen und sorgte letztlich dafür, dass ich einen frustrierten Laut ausstieß und mein Schwert entmutigt und sauer sinken ließ und es ins Gras schmiss. Ich schloss meine Augen und  raufte mir aufgebracht die Haare. "Das kann doch alles nicht wahr sein!", stieß ich aus und spürte den Zorn in mir, der sich gegen mich selbst richtete. 

Die Situation war im Moment zu verzwickt für mein Gefühlschaos und ich musste mich irgendwie auf andere Gedanken bringen, mein Körper wieder unter meine Kontrolle stellen und mich beruhigen, dann würde ich es erneut versuchen. 

Ich wollte mich gerade ins Gras setzen, als eine Stimme hinter mir ertönte. 

"Man sollte niemals aufgebracht trainieren."

Ich drehte mich um und sah in nur drei Metern Entfernung Albedo im Gras stehen. Ich hatte ihn nicht Mal kommen hören, doch jetzt, wo er da war, wurde mir bewusst, dass ich mich über seine Anwesenheit freute und das eine willkommene Abwechslung war. Also schluckte ich den Ärger auf mich selbst herunter, damit Albedo meine dunklen Gefühle nicht abkriegte. 

"Was machst du hier?", fragte ich stattdessen, ohne auf das vorher Gesagte einzugehen, denn ich wusste selbst, dass das Training mit solchen Gefühlen nicht effektiv war. 

Albedo zuckte mit den Schultern und ich konnte seine Gesichtszüge nicht richtig erkennen, da es schlichtweg einfach zu dunkel war. Der Mond schien in dieser Nacht nur ab und zu durch die schweren Wolken, die sich immer wieder hartnäckig vor ihn drängten. 

"Ich konnte nicht schlafen", gab er mir die halbherzige Antwort und ich schloss daraus, dass es ihm ähnlich wie mir ergangen sein musste. Wie er mich trotzdem hier im Dunkeln hatte finden können, war mir noch ein Rätsel, doch die Lösung dazu interessierte mich im Moment nicht im geringsten. Ein Seufzer verließ meine Lippen und ich erklärte, dass es mir genau so ging. Nach einer kurzen Pause des Schweigens trat Albedo näher an mich heran und sah mir ins Gesicht. 

"Du musst dich erst einmal ein wenig beruhigen", erklärte er mir sachlich und ich nickte ergeben. Ich wusste, dass Albedo recht hatte. "Schließ deine Augen und atme dreimal tief durch", wies er mich ohne große Umschweife an und ich tat was er mir sagte. Ich wusste, dass Albedo ein guter Kämpfer sein musste und dass er meistens Ruhe bewahrte. Seine Tipps könnten mir also nützlich sein. 

Nachdem ich meine Augen geschlossen und dreimal tief durchgeatmet hatte, ging es mir schon ein wenig besser. Mein aufgewühltes Inneres, dass einem rasenden Sturm glich, beruhigte sich allmählich. "Und jetzt sag mir, was du hörst", bat er mich und ich begann, bewusst auf meine Umgebung zu achten. 

Noch immer mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich auf die Geräusche. Das erste was ich wahrnahm, war ein Rascheln der Blätter an den Bäumen. "Da ist Wind, der mit den Blättern spielt", sagte ich und lauschte weiter, ohne eine Antwort von Albedo abzuwarten. "Und ein Knacken von Ästen. Vielleicht ein Wildschwein", mutmaßte ich und setzte das Hörspiel fort. 

"Das Heulen eines Wolfes", fügte ich nur wenig später hinzu, kurz nach dem der jaulende Ruf des wilden Tieres in weiter Ferne erklungen war. Unmittelbar musste ich an die Geschichte von Boreas denken, die Albedo mir erzählt hatte, während wir auf Mission gewesen waren. 

"Was noch?", fragte der Aschblonde leise. "Gras" sagte ich. "Jemand läuft durch das Gras", erweiterte ich meine Aussage und wusste, dass nur Albedo es sein konnte, der dieses Geräusch erzeugte. Es war das seichte Rascheln, wenn das Gras an etwas entlang streifte. Als das sanfte Rascheln aufgehört hatte, öffnete ich langsam meine Augen und sah Albedo  der mir mein Schwert, was ich ins Gras geworfen hatte, mit dem Griff zu mir hin hielt und mich ansah. Der Himmel, der sich hinter ihm abzeichnete, begann allmählich den dunklen Schleier zu vertreiben und die Dämmerung willkommen zu heißen. 

Langsam nahm ich das Schwert entgegen. Genau in diesem Moment, als ich den Griff in meiner Handfläche spürte, wurde mir plötzlich die Ruhe in meinem Inneren bewusst, die nun meinen Körper ausfüllte. Albedo hatte es geschafft, mich vollkommen zu beruhigen, ohne dass ich es bemerkt hatte und ohne große Tricks. Ich kam nicht umhin, ihn ein wenig erstaunt anzusehen, doch das sah er in der Dunkelheit vermutlich nicht.

"Jetzt versuchen wir es nochmal", gab er in vollkommener Seelenruhe von sich und bevor ich etwas erwidern konnte, war er bereits hinter mich getreten. Sein Körper berührte meinen nicht, er ließ ausreichend Abstand zwischen uns und dennoch spürte ich seine Präsenz so stark, dass meine ganzen Sinne sich auf ihn richteten. Langsam setzte Albedo sich in Bewegung, trat näher an mich heran und nur wenige Sekunden später fühlte ich, wie er seine Hände sanft um meine Handgelenke schloss. Ich spürte den kühlen Stoff seiner Handschuhe auf meiner Haut und den seichten Druck den er ausübte, um meine Arme zu bewegen. 

Er führte meine Arme so, dass er sie in eine präzise Kampfposition brachte und führte dann ganz langsam saubere Kampfbewegungen mit mir aus. Die stillen Anweisungen seiner Hände an meinen Handgelenken wurden von meinem Körper wie automatisch befolgt und ich passte mich, ohne dass ich groß darüber nachdenken musste, an seine Bewegungen an. 

Es fühlte sich an, als würden sein Bewegungen im Kampf, sein Stil mit dem Schwert, seine ganze saubere Präzision auf mich übergehen. Es passierte einfach und mein Körper bewahrte die ganze Zeit diese innere Ruhe. 

Albedo zeigte mir stumm weiterhin Bewegungen und ich folgte den Anweisungen, wiederholte sie, prägte sie mir ein. Ich geriet in eine Art Fluss, in der die Bewegungen alle flüssig ineinander übergingen und irgendwann wurde mir bewusst, dass Albedo mich nicht mehr führte. Er war ein paar Schritte weg getreten und beobachtete mich nun von der Seite und Ich? Ich führte die Kampfbewegungen selbst aus, ohne seine Hilfe. Der Fluss in meinen Bewegungen setzte sich fort.

"Lektion eins", sagte Albedo ruhig. "Eigentlich ist es Lektion zwei", gab ich von mir, ohne meine Bewegungen zu unterbrechen. Mein Kopf erinnerte sich stumm an die erste Lektion, die Suha mir beigebracht hatte. Bleib niemals am Boden liegen, steh immer wieder auf.

"Lektion zwei: Achte immer auf deine Umgebung."

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Ein Update am frühen Morgen! 

Seit ihr eher Frühaufsteher oder Langschläfer? Ich gehöre zur ersten Sorte und liebe die Morgenstunden. Frühs bin ich immer am produktivsten :D. 

Für mich steht heute ein Tag mit sehr viel Shopping und Wege erledigen an. Wie verbringt ihr den Tag? 

Song Empfehlung #10:
Enemy - eaJ

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