14. Kapitel
Brenna Johnston band sich die schwarzen Haare mit einem Band zusammen. Wie immer liessen sich ein paar widerspenstige kurze Löckchen nicht bändigen und fielen ihr in die Stirn.
Wie bin ich bloss in diese Situation geraten?
Sie starrte den Mann an, der bewusstlos auf dem saphirblauen Seidenlaken im Bett lag. Seine schönen dunklen Haare fielen ihm über die breiten Schultern. Seine Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen. Seine Nase war ein wenig schief und er hatte volle Lippen.
Er sah aus wie ein gefallener Engel.
Ein sterbender, blutiger, leidender Engel.
Aus den klaffenden Wunden an seiner Brust und am Oberschenkel sickerte Blut. Seine Haut, die zuvor gesund und braun gebrannt ausgesehen hatte, war jetzt, da er sich in einem leichten Schockzustand befand, blass, ja, fast bläulich. Brenna war Chirurgin, aber sie wäre lieber in ihrem Krankenhaus gewesen, mit ihren Instrumenten und ihren Operationsschwestern. Nicht hier in diesem unsterilen Ambiente mit diesen komischen Schälchen voller Öl und Erde und diesem Holzkopf, der an der Tür Wache stand. Aber sie konnte ihren Patienten nicht sterben lassen. Sie würde ihn nicht sterben lassen.
Seit sie von diesen riesigen, muskelbepackten Wilden entführt worden war, hatte sie sich in einem dauerhaften Angstzustand befunden. Aber jetzt fühlte sie sich in dieser ... wo auch immer sie sich gerade befand ... zum ersten Mal als Herrin der Lage. Selbstsicher und in ihrem Element.
Brenna winkte den Türwächter zu sich und erklärte ihm in Zeichensprache, welche Gegenstände er ihr besorgen musste.
Er sah sie verwirrt an und hob abwehrend eine Hand, damit sie zu gestikulieren aufhörte. "Ich verstehe nicht, was du meinst. Kannst du nicht sprechen?"
Sie seufzte. Ihre Stimmbänder waren vor Jahren schwer beschädigt worden. Äusserlich merkte man ihr nichts an; nein, ihre Narben waren innerlich. Sie war damals brutal misshandelt worden und sie konnte zwar sprechen, aber ihre Stimme war ... grässlich. Der Vorfall war eine verschwommene, verdrängte, verhasste Erinnerung, die sie sich jetzt nicht ins Gedächtnis rufen durfte, wenn sie als Ärztin funktionieren wollte.
"Nadel!, krächzte sie. "Faden." So primitiv, wie dieser Typ war, konnte er wahrscheinlich ohnehin ein Skalpell nicht von einem Buttermesser unterscheiden. "Operationsinstrumente."
Beim Klang ihrer brüchigen, rauhen Stimme zuckte er erschrocken zusammen, nickte dann jedoch und eilte davon. Als er wenig später wiederkam, reichte er ihr eine zerfledderte zusammengerollte Tasche. Darin eingeschlagen waren ein Skalpell aus Bronze, lange, dünne Haken und ein paar Eisennadeln.
"Feuer", sagte sie. "Heisses Wasser."
Er nickte, nahm eine brennende Fackel von der Wand und warf sie in den Kamin. Die Holzscheite begann bald zu glühen und wenig später loderte ein knisterndes Feuer. Nachdem er noch eine Schüssel Wasser geholt hatte, erhitzte Brenna die Instrumente über den Flammen.
Als alles so steril war, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war und sie ihre Hände geschrubbt hatte, stellte sie sich neben ihren Patienten. Bis jetzt hatte er sich kein einziges Mal bewegt und auch keinen Ton von sich gegeben. Seine Gesichtszüge waren entspannt und so, als würde er nichts um sich herum mitbekommen.
Brenna fand das gleichermassen beruhigend wie besorgniserregend. In diesem Zustand würde er wenigstens keinen Schmerz empfinden, wenn sie ihn nähte. Andererseits, dieser tiefer Schlaf ... Sie straffte die Schultern und machte sich an die Arbeit. Als Erstes schnitt sie seine Hosen ab und säuberte die klaffende Wunden an seinen Beinen und seiner Brust. Dann bemühte sie sich, das zerfetzte Hautgewebe - das in einem besseren Zustand war , als sie befürchtet hatte - so gut es ging zu nähen.Leichter gesagt als getan. Tatsächlich verbrachte sie Stunden an seine Seite. Brenna stand der Schweiss auf der Stirn und als die Prozedur sich ihrem Ende zuneigte, waren ihre Arme bleischwer vor Müdigkeit.
Das muss genügen. Sie hätte ihm gern eine Bluttransfusion gegeben, doch sie wusste, dass es so etwas hier nicht gab. Shivawn, der Mann, der sie gestern Abend ausgewählt hatte, hatte ihr erklärt, wo sie war und warum man sie hierhergebracht hatte. Er hatte ihr damit ihre Angst nehmen wollen, aber natürlich das genaue Gegenteil bewirkt.
Nymphen. Atlantis. Sex. Zuerst hatte sie ihm nicht glauben wollen. Nach allem, was sie heute gesehen hatte, konnte sie allerdings die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschliessen. Schwertkämpfe und Juwelen an den Wänden. Seidenkissen in allen Gängen und Krieger, die darauf Sex hatten. Meerjungfrauen und eine Kuppel aus Kristallprismen, die Licht spendeten. Frauen, die den Verstand verloren und ständig Sex wollten.
Shivawn hatte damit gerechnet, dass sie genauso reagieren würde wie die anderen und noch dazu mit Begeisterung. Wie überrascht er gewesen war, als sie sich mit Händen und Füssen - und, wie sie peinlicherweise zugeben musste, lautem Schluchzen - gewehrt hatte ... Aber schliesslich hatte er sie in Ruhe gelassen. Er war insgesamt seltsam ... nett gewesen.
Überraschend fürsorglich.
Aber wahrscheinlich bereute er seine Wahl schon. Heute Morgen hatte Brenna vom Gang aus andere (nackte) Männer mit ihren (ebenfalls nackten) Auserwählten in ihren Betten liegen sehen. Ein paar hatten ... nicht geschlafen. Bestimmt wollte Shivawn das Gleiche, aber sie konnte es ihm nicht geben. Sie konnte einfach nicht.
Brenna hatte sich nur deshalb von ihm auswählen lassen, damit er sie von der Meute der anderen Männer wegbrachte. Gegen einen Krieger konnte sie sich (theoretisch) wehren. Gegen alle? Keine Chance.
Sie seufzte. Dann setzte sie sich ans Bett des bewusstlosen Mannes - er hiess Joachim, wie ihr einfiel - und tupfte ihm mit einem feuchten, warmen Tuch die Stirn ab. In den nächsten Stunden versuchte sie, es ihm so angenehm wie möglich zu machen und dafür zu sorgen, dass er sich nicht erkältete. Bei dem Blutverlust, den er hatte, war er anfällig für eine Hypothermie.
"Brenna", hörte sie Shivawn plötzlich von der Schwelle her sagen. Er klang hoffnungsvoll. "Es wird Zeit, dass ich dich auf mein Zimmer bringe."
Ihr Herz begann zu rasen. Ganz ruhig bleiben. Langsam drehte sie sich zu ihm um. Er stand neben dem Wachposten, der so tat, als würde er interessiert die Wand betrachten. Shivawn war mit seinen braunen Haaren und den grünen Augen ein gut aussehender Mann und Brenna wünschte insgeheim, sie wäre eine normale Frau, die sich zu jemandem wie ihm hingezogen fühlen konnte. Zugegeben, sie spürte bei seinem Anblick so etwas wie ein ... schmerzhaftes Sehnen.
Aber es durfte nicht sein. Sie schüttelte den Kopf.
Er liess die Schultern hängen und presste die Lippen zusammen. "Warum weist du mich ständig zurück? Habe ich dich irgendwie gekränkt? Dich verletzt?"
Sie schüttelte ein zweites Mal den Kopf. Hatte er nicht und darüber war sie eigentlich immer noch schockiert.
Er machte einen Schritt auf sie zu. "Ich möchte dich doch nur glücklich machen."
Erneutes Kopfschütteln. "Ich bleibe."
Er wusste bereits, wie ihre Stimme klang, darum zuckte er nicht mehr zusammen wie am Anfang. Würde er irgendwann aggressiv werden, wenn sie ihn weiterhin abwies? Würde er versuchen, sie zu zwingen, mit ihm zu schlafen? Sich vom netten Mann in ein Monster verwandeln? Sie begann, am ganzen Körper zu zittern und ihr Magen zog sich zusammen.
Shivawns Miene wurde sanft, als er sie jetzt ansah. "Du verstehst das Wesen der Nymphen nicht. Wir müssen mit Frauen schlafen, sonst schwinden unsere Kräfte", erklärte er so geduldig, als würde er mit einem Kind reden. "Meine Kräfte schwinden, während alle anderen immer stärker werden."
"Nein." Wenn sie irgendwann einmal beschloss, mit einem Mann zu schlafen, würde es einer sein, der nicht so ... Furcht einflössend war. Einer, der ihr nicht mit links das Genick brechen konnte. Ausserdem hatte sie hier zu tun. Sie zeigte auf ihren Patienten. "Braucht mich."
Shivawn sah sie lange an. Über sein Gesicht huschte eine Vielzahl von Emotionen. Enttäuschung. Bedauern. Entschlossenheit. Dann drehte er sich abrupt um und ging. Brenna atmete erleichtert und - erschreckenderweise - auch ein wenig enttäuscht auf.
Konzentrier dich auf deine Arbeit, Johnston. Sie wandte sich wieder dem verwundeten Krieger zu und strich ihm über die allzu kalte Stirn. Würde er überleben? Er hatte sehr viel Blut verloren.
Joachim war grösser als Shivawn. Wahrscheinlich auch stärker. Mit Sicherheit gefährlicher. Dennoch beugte sie sich jetzt dicht über ihn. Es war wie ein Zwang. So, als würde eine Macht, die stärker war als sie selbst, sie zu ihm hinziehen. Sie gab ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. Sie hasste es, jemanden leiden zu sehen. Niemand wusste besser als sie, was es bedeutete, zerschunden und misshandelt in einem Bett zu liegen. Dem Tode nahe.
Er blinzelte und öffnete die Augen, als hätte der zarte Kuss ihm Kraft eingehaucht. Er sah sie dort über sich gebeugt und runzelte die Stirn. Brenna richtete sich hastig auf.
"Bin ich tot?", hörte sie ihn sagen.
Seine Stimme war schwach, das Sprechen strengte ihn sichtlich an. Trotzdem musste Brenna sich beherrschen, nicht vor Angst aufzuspringen. Er ist geschwächt. Er kann dir nicht wehtun. Mit zitternder Hand strich sie ihm wieder über die Stirn. Seine Lider waren hab geschlossen, dennoch konnte sie den Schmerzen in seinen saphirblauen Augen erkennen.
"Bin ich in den Olymp aufgestiegen?"
Sie schüttelte den Kopf.
Er sah sich im Zimmer um. "Warum bist du hier? Warum bin ich ..." Er brach ab. "Valerian", knurrte er. "Der Kampf. Verloren. Ich habe verloren." Er versuchte, sich aufzusetzen.
Brenna drückte ihn sanft zurück und strich ihm die Haare aus dem Gesicht, um ihn zu beruhigen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn er sich wehrte. Überraschenderweise schien ihn ihre Berührung jedoch zu besänftigen. Er entspannte sich.
Er holte tief Atem und hob dann seinen Arm, um nach ihrem Handgelenk zu greifen. Bleib ganz ruhig, bleib ganz ruhig. Sie versuchte, sich loszumachen, doch er hielt sie fest.
"Was tust du hier, Frau von Shivawn?"
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie auf seine Verbände zeigte.
Er betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. "Du bist eine Heilerin?"
Brenna nickte und versuchte wieder, sich loszumachen, doch er liess ihr Handgelenk nicht los. Woher nahm er diese Kraft? Eigentlich hätte er doch schwach wie ein Baby sein müssen.
"Kannst du nicht sprechen?", fragte er.
"Kaputt." Sie deutete mit ihrer freien Hand auf ihren Hals.
Zu ihrem Erstaunen schien ihn der Klang ihrer Stimme überhaupt nicht zu irritieren. Er liess ihre Hand los und strich mit den Fingern über ihren Hals, als würde er nach einer Verletzung suchen. Brenna zitterte vor Angst, aber auch vor Erregung. Was war bloss los mit ihr? Sie hatte seit Jahren nichts mehr für einen Mann empfunden. Warum heute? Und warum gleich bei zwei Männern?
"Wie ist das passiert?"
Die Leute fragten sie das ständig. Ganz so, als würden sie sich nach dem Winter erkundigen oder danach, wo sie ihre Schuhe gekauft hatte. Anfangs hatte diese Frage sie jedes Mal entsetzlich aufgewühlt und die grauenhaften Erinnerungen daran wachgerüttelt, wie ihr vor Eifersucht kochender Freund sie gewürgt hatte. Mittlerweile antwortete sie immer mit einem beiläufigen "Autounfall", aber sie bezweifelte, dass dieser archaische Krieger wusste, was das bedeutete.
Brenna biss sich auf die Lippen und beugte sich über ihn. Zögernd legte sie ihm eine Hand um den Hals, tat so, als würde sie ihn würgen und zeigte dann auf ihren Hals.
Seine Augen verengten sich und er griff wieder nach ihren Handgelenken, diesmal viel behutsamer. "Jemand hat versucht, dich zu erwürgen?"
Sie nickte.
"Ein Mann?", fragte er leise, dass sie es kaum verstehen konnte .
Sie nickte noch einmal.
"Fass sie nicht an", sagte der Wächter, dem es anscheinend erst jetzt auffiel, dass die beiden sich berührten. "Befehl des Königs. Lass sie los, Joachim."
Brenna hatte den Wachposten ganz vergessen.
Joachims Blick schoss zur Tür und seine Miene verfinsterte sich. Dann lieferten sich die beiden Männer eine hitzige Diskussion in einer Sprache, die Brenna nicht verstand. Während des gesamten Wortwechsel liess Joachim ihre Hände nicht los.
Irgendwann gelang es ihr, sich von ihm loszumachen. Erleichtert massierte sie sich die Handgelenke. Dort, wo er sie berührt hatte, war ihre Haut ganz warm. Empfindlich. Dieser Mann war Furcht einflössend, launisch und gewalttätig. AllesamtEigenschaften, die sie abstossend fand. Sie durfte seine Berührungen nicht als angenehm empfinden.
"Soll ich ihn für dich töten?", fragte Joachim zu ihrer Verblüffung.
Sie guckte ihn verwirrt an und deutete die fragend auf den Wächter.
"Nein, den, der dir wehgetan hat."
Sie zögerte kurz. Dann schüttelte sie den Kopf.
"Stark sein ist gut", sagte er mit plötzlich schwächer werdender Stimme. "Eine Frau wehtun nicht." Ihm fielen die Augen zu, doch er riss sie wieder auf.
Brenna wusste nicht, ob er das, was er gerade gesagt hatte, ernst meinte. Auf jeden Fall kam er ihr wie jemand vor, der sich nicht beherrschen konnte, wenn er wütend war. Nach dem heutigen Zweikampf ...
"Wie heisst du?", wollte er jetzt wissen.
"Brenna."
"Brenna ..." Er liess sich das Wort förmlich auf der Zunge zergehen. Im nächsten Augenblick jedoch hatte er einen grimmigen Zug um den Mund und seine Augen funkelten zornig. "Wo ist Shivawn?"
Sie stand zitternd auf. Joachim war von einer Sekunde auf die andere wütend geworden. Warum? Was hatte sie falsch gemacht?
Er runzelte die Stirn, während ihm erneut die Augen zufielen. "Warum weichst du vor mir zurück? Gehst du etwa zurück zu deinem Liebhaber?" Die letzte Frage klang spöttisch.
Bevor er aufstehen und sie festhalten konnte, drehte sie sich um und lief davon. Wohin sie gehen sollte, wusste sie nicht. Nur, dass sie schleunigst von hier wegmusste. Von ihm wegmusste.
Nachdem Brenna gegangen war, lag Joachim noch lange wach und fluchte vor sich hin. Er war noch nie zuvor so hilflos gewesen und sein Zustand machte ihn wütend. Er wollte nicht, dass Brenna zu Shivawn zurückkehrte. Sie sollte hier sein, bei ihm und mit ihm reden.
Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, wäre er aus dem Bett gesprungen und hätte sie gezwungen zurückzukommen. Er war schliesslich derjenige, der hier das Sagen hatte. Und jetzt konnte er sie nicht einmal mehr trösten oder sich richtig für ihre Hilfe bedanken. Stattdessen kam Shivawn in den Genuss ihrer Gesellschaft. Der allerdings würde Brenna bestimmt nicht dankbar sein, dass sie Joachim geholfen hatte.
"Geh ihr nach, verdammt!", befahl er Broderick, der in der Tür stand. "Sorg dafür, dass sie sicher dort ankommt, wo sie hinwill."
"Hüte dich, mich so herumzukommandieren", knurrte der Krieger, ehe er sich umdrehte und Brenna folgte.
Joachim hätte gern Valerian die Schuld an der misslichen Lage gegeben, in der er steckte. Aber er wusste, dass er selbst dafür verantwortlich war. Er hatte Valerian zum Zweikampf herausgefordert und sein Cousin hatte ihn mit fairen Mitteln besiegt. Als ein Mann, dem Macht und Kontrolle über alles gingen, respektierte Joachim Valerians Sieg. Und jetzt verstand er auch, dass Valerian die blasse Frau unbedingt haben wollte und bereit war, alles dafür zu tun.
Joachim hätte in diesem Augenblick alles dafür getan, dass Brenna ihm gehörte.
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