13. Kapitel

Poseidon langweilte sich.

Er war der Gott des Meeres, der Herrscher über Fische, Wassermänner, Nixen und Wellen und er langweite sich. In letzter Zeit hatte er nicht einmal mehr Spass an den verheerenden Stürmen und anderen Naturkatastrophen, die er verursachet. Leute schrien, Leute starben und so weiter und so fort. Gähn.

Vielleicht wäre ihm das alles nicht so gleichgültig gewesen, wenn die Menschen nich seine Existenz vergessen hätten. Aber sie diente ihm nicht mehr und sie beteten ihn nicht mehr an, wie es sich geziemt hätte. Dabei hatte er schliesslich selbst mitgeholfen, diese undankbare Spezies zu erschaffen. 

Er liess seine Finger durch das trübe Wasser gleiten, das ihn umgab. Es musste doch irgendetwas geben, mit dem sich seine Langeweile bekämpfen liess. Einen Wirbelsturm oder Tsunami erschaffen - nein. Die letzten paar waren entsetzlich öde gewesen. Einen Krieg anfangen - auch nicht. Zu viel Aufwand für zu wenig Lohn. Seine Gewässer verlassen und im Olymp vorbeischauen - wieder nein. Die anderen Götter waren egoistisch und habgierig und er hatte keine Lust, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. 

Was könnte er bloss anstellen, was könnte er anstellen? Die einzigen Welten, über die er Macht hatte, waren die Erde und Atlantis. Bei diesem Gedanke hob Poseidon den Kopf. Oh, oh, oh. War das nicht ... Ja, genau, das war's! Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit empfand er so etwas wie Aufregung.

An Atlantis und seine Bewohner hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht. Er hatte sich von ihnen abgewandt und angenommen - vielleicht auch gehofft -, sie würden sich gegenseitig zerstören, sodass er diese grässliche Geschöpfe  nie mehr zu Gesicht bekommen musste. Stattdessen waren sie prächtig gediehen und er hatte sie gewähren lassen, weil sie sich an seine Regeln und Vorschriften gehalten hatten. 

Ausserdem hatte Poseidon mit seinen Erdbewohnern schon genug zu tun gehabt und auch deshalb hatte er nicht mehr an die Kreaturen gedacht, die erschaffen worden waren, bevor die Götter die Schöpferformel für den Menschen perfektioniert hatten. 

Ja, es war höchste Zeit, dass er sich wieder einmal um die Atlanter kümmerte.

Poseidon konnte nicht anders. Er musste unwillkürlich grinsen.

Shaya starrte auf Valerians Rücken, während er sie auf dem gleichen Weg durch den Palast zurückführte, auf den sie gekommen waren. Sie wehrte sich nicht. An seinen nackten Schultern sah sie die Muskeln arbeiten. Seine Haut war mit Blut und Dreck verschmiert.

Um ein Haar hätte er jemanden getötet. Noch dazu seinen eigenen Cousin. Vielleicht hatte er ihn tatsächlich auf dem Gewissen, falls Joachims Wunden sich entzündeten. Er hatte zugestochen, ohne zu zögern. Ohne Reue. Und sie hatte zugesehen, ohne mit den Wimpern zu zucken. 

Sie war zu erleichtert gewesen, dass er der Sieger war und überlebt hatte.

Das Ganze war wie im Film gewesen. Valerian hatte sich flink und geschmeidig bewegt, jede seiner gekonnten Bewegungen ebenso elegant wie gefährlich. Wie ein bedrohliches Ballett. Ihr Herz hatte vor Aufregung gehämmert und dann für einen Moment ausgesetzt, als Valerian verwundet wurde. Sie war nicht gefasst gewesen auf die Wut, die sie in diesem Moment auf Joachim gehabt hatte. 

Sie hätte weglaufen und diesem Wahnsinn entkommen können. Aber sie hatte es nicht getan. Sie war geblieben. Nicht weil sie es Valerian versprochen hatte - ein erzwungenes Versprechen war ihrer Meinung nach kein richtiges Versprechen - , sondern weil ihr das Ergebnis des Zweiskampfs als elementar wichtig für ihr eigenes Überleben erschienen war. 

Dann gehört Shaya Octavia Holling hiermit offiziell mir. Sie ist meine Gefährtin. Eure Königin. 

Seine Worte liessen sie immer noch innerlich beben. Als Valerian sie ausgesprochen hatte, hatte ihr das nicht so viel ausgemacht, wie es sollte. Tatsächlich hatte es ihr überhaupt nichts ausgemacht. In Wahrheit hatte sie - und sie stöhnte, als es ihr bewusst wurde - so etwas wie Freude empfunden.

Triumph.

Valerian stolperte gerade über seine eigenen Füsse. Er richtete sich rasch wieder auf, doch der Vorfall brachte Shaya in die Gegenwart zurück. "Du bist verletzte", sagte sie, als wüsste sie das nicht längst.  "Du brauchst einen Arzt."

Er drehte sich kurz zu ihr um. "Du wirst meine Heilerin sein."

Der Gedanke war ebenso reizvoll wie beunruhigend. "Ich verstehe nichts von Wundversorgung."

"Ich habe Vertrauen in dich."

Warum? Sie hatte kein Vertrauen in sich. Nicht in seiner Gegenwart. "Ich richte vielleicht mehr Schaden an, als zu helfen."

"Shaya", sagte er sichtlich gereizt. "Du bist die Einzige, von der ich mich überhaupt anfassen lasse."

So gesehen ... "Na schön. Aber wenn du stirbst, kannst du dem lieben Gott ausrichten, dass ich dich gewarnt habe."

Seine Schultern bebten und Shaya hörte ihn lachen. Sie musste unwillkürlich lächeln und vergass ihre Bedenken. Ihr gefiel, dass sie ihn zum Lachen gebracht hatte.

"Hast du ihn absichtlich am Leben gelassen", fragte sie, "oder sein Herz zufällig nicht getroffen?"

Die Frage liess ihn erstarren. "Ich verfehle nie meine Ziel."

Männlicher Stolz war bei Nymphen offenbar ein ähnlich sensibles Thema wie bei Menschen. "Was ist, wenn er dich noch einmal zu einem Kampf herausfordert? Und was ist, wenn er nächstes Mal schummelt und dich in einem unerwarteten Moment angreift?"

"Das tut er nicht."

"Wie kannst du dir da so sicher sein?"

"Joachim hat verloren. Alle haben gesehen, dass er mir unterlegen ist. Unabhängig davon, ob er mich umbringt oder nicht - er wird nie als Herrscher akzeptiert werden."

"Oh." Sie brachte das kurze Wort kaum über die Lippen, so entsetzt war sie über den Gedanken, Valerian könnte irgendwann sterben.

"Ausserdem", fuhr er fort, ohne zu merken, was ihr gerade durch den Kopf ging. "war es nicht notwenig ihn zu töten, damit du meine Frau wirst. Und das war der Hauptgrund, warum ich gegen ihn gekämpft habe."

Ein Schauer durchfuhr sie. "Ich bin nicht deine Frau."

"Hör auf, dich dagegen zu wehren, Moon. das wird  dir später nur peinlich sein, wenn du endlich zugibst, das du mich liebst."

Sie schnaubte, verächtlich, wechselte jedoch rasch das Thema. Seine Worte waren ein wenig zu ... prophetisch. "Wohin bringst du mich?", fragte sie und sah sich um. Der von Fackeln beleuchtete Gang mit seinen beschädigten Wänden, aus denen offensichtlich Edelsteine herausgeschlagen worden waren, kam ihr bekannt vor. Plötzlich wusste sie die Antwort und es verschlug ihr für einen Moment den Atem. "Nein!"

Schweigen. Ein Seufzer. "In meinem Schlafzimmer", gab er zögernd zu. "Ja."

Uhr wurde plötzlich ganz flau vor Aufregung. Valerian. Bett. Nein, zur Hölle!

Erneut erschauerte sie. "Sperrst du mich ein?", fragte sie mit bebender Stimme.

"Nein."

Shaya hatte noch nie soviel Entschlossenheit aus einem einzigen Wort herausgehört. "Was ... was hast du vor mit mir?" Insgeheim ahnte sie die Antwort bereits.

"Dich lieben, Moon. Ich werde mit dir schlafen."

"Nein. Nein!" Sie blieb angewurzelt stehen. "Ich weigere mich. Hast du gehört? Ich weigere mich!"

Ohne ihre Hand loszulassen, drehte er sich langsam zu ihr um. Er hatte einen entschiedenen Zug um seinen schönen Mund und seine harten Gesichtszüge waren wie in Stein gemeisselt. "Ich bin verwundet", sagte er, als ob sie wissen müsste, warum das jetzt eine Rolle spielte.

Sie sah ihn finster an. "Das weiss ich selbst. Ich habe dich doch eben noch daran erinnert. Aber du kannst dir sicher sein, dass du dir noch mehr Verletzungen zuziehen wirst, wenn du versuchst, mich in dein Bett zu kriegen."

"Ich bin verwundet", wiederholte er. "Sex gibt mir Kraft. Ich werde schneller heilen, sobald ich in dich eingedrungen bin."

Sie japste erschrocken nach Luft. "Ähm ... von mir aus kannst du sterben. Ich lasse nicht zu, dass du ... ", sie fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum. "... in mich eindringst."

"Du wirst sehen, ich bin ein wunderbarer Liebhaber." Er wirkte gekränkt. "Das kann ich dir versprechen."

"Nein."

"Shaya", flötete er. "Süsse Mondscheinfrau."

"Valerian"; blaffte sie zurück. "Unverbesserlicher Frauenheld."

Unter seinem Auge zuckte ein Muskel. "Ich habe deinetwegen alle anderen Frauen abgewiesen. Ich habe offiziell bekannt gegeben, dass ich dich zu meiner Königin mache."

"Und ich sage dir offiziell und zum Mitschreiben, dass mich das einen feuchten Dreck interessiert und meine Antwort Nein ist."

Sein Blick wurde eisig. Seine Nasenflügel bebten. Seine Wangenknochen traten scharf hervor.  "Ich kann dich so weit bringen, dass du darum bettelst."

Sie zitterte innerlich vor Unruhe, liess es jedoch nicht anmerken. "Ich bettle nie."

Eine Weile betrachtete er sie schweigend, dann fuhr er sich durch die Haare, sodass ihm ein paar blonde Strähnen ins Gesicht fielen. Irgendetwas in Shaya - ein unvertrauter Teil ihrer selbst, der sich in letzter Zeit immer öfter zeigte - hatte das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und Valerian die zerzausten Haare aus de r Stirn zu streichen. Na gut, er konnte sie dazu bringen zu betteln. So. Sie hatte es zugegeben. Sie spürte immer noch den Druck auf ihren Lippen auf ihrem Mund. Sein Kuss hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Aber sie musste ihm widerstehen. Sie musste sich wehren.

Und sie musste ihm jetzt endlich entkommen.

Noch ehe sie einen Schritt machen konnte, kam er auf sie zu und leckte sich über die Lippen, ganz so, als ahnte er - als wüsste er, verdammt - , was für unanständige Gedanken ihr durch den Kopf gingen und wollte auf jede erdenkliche Weise davon profitieren. Alle Gedanken an Flucht lösten sich in Luft auf.

"Ich brauche dich, Shaya. Mehr, als ich jemals irgendjemanden gebraucht habe."

Nur Valerian redete in diesem Ton mit ihr. Seine Stimme war rau und gleichzeitig sanft und weich, wie warmer Honig. Er klang, als wäre Shaya in seiner Vorstellung  bereits nackt und er schon in ihr. Sie hatte keine Antwort darauf, zumindest keine, die ihr behagt hätte.

Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen; diesmal war es ein wissendes Schweigen. Ein bedeutsames Schweigen. Ein verlockendes Schweigen. Er wartete, während ihr Verstand und ihr Herz miteinander kämpften. Bleib stark. Gib nicht nach. Wenn er sie berührte ... Moment. Er berührte sie ja und es fühlte sich wunderbar an. 

Sie befreite sich aus seiner Umarmung und machte ein paar Schritte zurück. Es war ihr egal, wenn er sie für feige hielt. "Ich versorge deine Wunden, aber das war's dann. Mehr gibt es nicht. Hast du verstanden?"

Er sah sie nachdenklich an, als versuchte er, ihren inneren Konflikt zu ergründen. "Hast du Angst, mich an dich heranzulassen, weil ich fast jemanden getötet hätte?"

"Nein."

"Was ist es dann? Manche Frauen finden Gewalt abstossend. Andere erregt es." Er kam näher, immer näher. "Wie ist es bei dir?"

"Weder noch." Sie stiess mit dem Rücken an die Wand und erschrak. "Es ist einfach so, dass ich dich ... " Sag es! Tu ihm weh!   " ... nicht mag."

Er erstarrte und sah sie entgeistert an. Vielleicht hatte sie ihm wehgetan, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall hatte sie sich selbst wehgetan. Immer wenn sie log, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen und sie hatte das Gefühl, als würde es ihr die Kehle zuschnüren. 

"Wie du meinst", sagte er mit ausdrucksloser Miene. "Ich erlaube dir, dich um meine Verletzungen zu kümmern. Ich bin an beiden Armen verwundet worden."

Locker bleiben. Nichts anmerken lassen. "Oh, du erlaubst es mir! Herzlichen Dank." Sie schnaubte und hoffte, einigermassen gleichgültig zu wirken.  Würde er sie rein zufällig berühren, währen sie sich um seine Verletzungen kümmerte? Würde er ihr seinen warmen Atem ins Ohr hauchen, ihn über ihre Haut streifen lassen und sie mit seinem feurigen Blick regelrecht verschlingen? "Aber kein ... Rumknutschen, okay?"

Die wichtige Frage war allerdings: Würde sie ihm widerstehen können?

Ihre Selbstbeherrschung war schon jetzt stark gefordert. 

Daher waren Doktorspiele vielleicht keine besonders gute Idee. Es bedeutete, dass sie die ganze Zeit auf der Hut sein musste. Sie vermutete, dass mit Valerian zu schlafen so ähnlich sein würde, wie sich einen Schuss Heroin zu verpassen. Süchtig machend, tödlich und absolut dumm. Wenn es ihr gelang, es gar nicht erst auszuprobieren, würde sie sich später nicht mit Entzugserscheinungen herumschlagen müssen. Und wenn sie ihn verarztet hatte, konnte sie ihn mit gutem Gewissen verlassen.

Mach dir doch nichts vor. Du hast es bereits ausprobiert. Da war dieser wahnsinnig leidenschaftliche Kuss, schon vergessen? - Halt einfach die Klappe!

"Während du mir hilfst", sagte er, "wird es zu keinen Zärtlichkeiten kommen. Falls du es dir aber mittendrin anders überlegen solltest, brauchst du es nur zu sagen."

Ohne ihr die Gelegenheit zu geben, etwas einzuwenden, nahm er sie an der Hand, drehte sich um und ging weiter. Shaya, der das, was er gerade gesagt hatte, immer noch durch den Kopf ging, war sich jeder winzigen Berührung bewusst.

Weiche Handfläche in rauher Handfläche.

"Hast du Neosporin?", fragte sie in der Hoffnung, dadurch auf andere Gedanken zu kommen, die rein gar nichts mit Sex zu tun hatten.

"Ich habe keine Ahnung, da ich nicht mal weiss, was das ist."

Wenn seine Haare nass waren wie jetzt, stellte Shaya fest, waren sie leicht gewellt. Sie runzelte die Stirn. Warum interessierten sie seine doofen Haare? "Es ist eine Salbe für deine Wunden."

"Ich besorge dir alles, was du brauchst." Sie waren bei der Tür zu seinem Schlafzimmer angekommen und er schob mit seiner freien Hand den dünnen weissen Vorhang zur Seite.

Er ging hinein, sie folgte  ihm. Das Zimmer gehörte zwar zur selben Suite wie das, in dem sie übernachtet hatte, war jedoch maskuliner eingerichtet und hatte eine irgendwie kriegerische und gleichzeitig gemütliche Atmosphäre. An der hinteren Wand stand ein grosses Bett mit zerwühlter goldfarbener und violetter Bettwäsche. Auf dem Laken sah man, dass ein grosser Männerkörper dort gelegen hatte. An den Wänden hingen an rubinroten Haken goldene Rüstungen und ein ganzes Arsenal an Waffen. Edelsteine im Mauerwerk reflektierten Licht in allen Farben des Regenbogens. 

In einer Nische des Raumes befand sich ein dampfendes Badebecken, in dem Blütenblätter schwammen. Das Ganze hatte einen äusserst femininen Touch und Shaya war sofort klar, das Valerian dafür nicht verantwortlich war. Eine seiner vielen Geliebten musste das Becken vorbereitet haben.

"Hier schläfst du also?", fragte sie.

"Ja." Er liess ihre Hand los.

Sie drehte sich langsam um die eigene Achse und sah sich genauer um. "Mir ist aufgefallen, dass in ein paar Wänden im Palast Löcher sind. Es sieht aus, als hätte jemand etwas herausgestemmt. Juwelen, stimmt's? So wie die hier?"

"Stimmt."

"Warum ist in diesem Zimmer nichts beschädigt? Und in dem anderen, in dem ich geschlafen habe, auch nicht?"

"Nachdem wir den Palast erobert  hatten, habe ich dafür gesorgt, dass meine Räumlichkeiten meiner würdig sind."

In seinen Worten hatte weder Arroganz noch Stolz mitgeschwungen. Nicht einmal ansatzweise. Er hatte einfach die Wahrheit gesagt. "Wie ich sehe, hast du ja überhaupt keine hohe Meinung von dir", zog sie ihn auf.

Valerian stand bloss da und sah sie an. Er konnte sich an ihrer Schönheit einfach nicht sattsehen. Dann wanderte sein Blick zu dem Bett. Gross und einladend. Violette, goldene gesäumte Bettwäsche. Er wollte Shaya dort liegen sehen. Sie berühren. In diesem Zimmer zu sein, in der Nähe seines Bettes und Shaya in seiner Reichweite zu haben erwies sich als ultimative Herausforderung für seine Selbstbeherrschung.

Warum hatte er versprochen, sie nicht anzurühren, während sie sich um seine Verletzungen kümmerte? 

Er hatte noch nie zuvor eine Frau verführen müssen. Frauen begehrten ihn und mussten ihn nie ermuntert werden, mit ihm  zu schlafen. Shaya verunsicherte ihn. Während er sich danach sehnte, sie zu spüren, stiess sie ihn ständig weg. Dabei sollte von allen Frauen gerade sie ihn am meisten begehren.

Wie lange würde sein Körper diese Zurückweisungen noch aushalten?

Nicht mehr lange, vermutete er.

Er holte saubere Tücher, eine Schüssel heisses Wasser, ein Schälchen mit Reinigungsöl und eine Flasche Heilerde aus dem Drachenwald. Während er damit beschäftigt  war, horchte er die ganze Zeit, ob Shaya vielleicht  einen Fluchtversuch unternahm. Überraschenderweise geschah nichts dergleichen.

Sie blieb genau dort stehen, wo er sie alleine gelassen hatte - in der Mitte seines Zimmers. 

Als er wieder zu ihr ging, trafen sich ihre Blicke. Götter, sie sah bezaubernd aus. Ihre hellen Haare fielen ihr wie ein verführerischer Schleier über die Schultern. Küss sie. Statt ihr das Tablett zu reichen, beugte er sich zu ihr hinunter - langsam, damit sie merkte, was er vorhatte. 

Er konnte nicht widerstehen. Er musste es einfach tun. Kein Rumknutschen, wie sie sich ausgedrückt hatte, bloss ein Kuss. 

Seine Lippen streiften sanft über ihre. Ein zarter Kuss, kein Zungenkuss. Und doch unglaublich erregend. Ihre  alabasterfarbene Haut duftete betörend. "Danke, dass du dich um meine Wunden kümmerst." Seine Stimme war genauso sanft wie der Kuss. 

Ihre Augen hatten sich geweitet und schienen jetzt etwas furchtsam zu schimmern. Hatte sie Angst vor ihm? Oder vor sich selbst? "Ich bin nicht gerade berühmt für meine zarten Hände", warnte sie ihn. Ihre Stimme bebte. "Also bedank dich nicht zu früh."

Er musste sich ein Lächeln verkneifen und richtete sich wieder auf. "Wofür bist du dann berühmt, kleine Moon?"

"Dass ich ein Biest bin." Sie biss sich auf die Lippen, nahm ihm das Tablett ab und drehte sich rasch um.

"Ich nehme an, das ist kein Kompliment, oder?"

Achselzuckend ging sie zu einer Amethysten besetzten Truhe und stelle das Tablett ab. "Für manche Frauen nicht."

Nachdem er ihr erklärt hatte, wie man das Öl und die Heilerde auftragen musste, trug er den einzigen Stuhl im Zimmer zu Shaya hinüber. Das Ding war schwer, aber er versuchte, sich die Anstrengung nicht anmerken zu lassen. "Du willst, dass die Leute dich für kalt und gefühllos halten. Bei mir hast du dich ja auch sehr bemüht, es zu beweisen. Immer wieder. Warum?"

Sie machte einen Schmollmund und deutete auf den Stuhl.

"Setz dich einfach und halt die Klappe. Meine Mom hat mich schon als Kind zu diversen Seelenklempnern geschickt, ich brauche jetzt sicher keine Laiendiagnose."

Er blieb stehen. "Erzähl", bat er. Sie mochte vielleicht glauben, dass sie keine Gefühle hatte, aber er hatte ihre Warmherzigkeit und Sensibilität, die sie so gern verstecken wollte, schon ein paarmal gespürt. Ihm fiel auf, wie sie manchmal zögerte, ehe sie etwas Beleidigendes zu ihm sagte. Fast so, als müsste sie sich zwingen, es auszusprechen. Und jedes Mal, wenn sie von ihrer liebenswürdigen Art  redete, lag da immer diese Wehmut in ihrem Blick, eine Sehnsucht, die sie sich selbst noch nicht eingestanden hatte.

"Da gibt es im Grunde nicht viel zu erzählen. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass Gefühle nichts als Schmerz und Trauer bringen." Shaya legte ihre Hände auf seine Schultern und drückte ihn nach unten, damit er sich hinsetzte. Sie war ihm kräftemässig in keiner Weise  gewachsen, aber er nahm trotzdem Platz.

Mit leicht zittrigen Fingern wischte sie ihm vorsichtig den Schmutz von den Schultern. Obwohl sie aufpasste, dabei seine Wunden nicht zu berühren, spürte Valerian einen stechenden Schmerz durch seinen Körper jagen.

Er runzelte die Stirn. "Ich müsste jetzt nicht so leiden, wenn du einfach das Unvermeidliche akzeptieren und mit mir schlafen würdest."

"Sei kein Weichei. Ich habe dich gewarnt, dass ich in diesen Dingen nicht sehr gut bin." Sie tränkte eines der Tücher in das Öl. "Riecht gut. Was ist das?"

"Ich glaube, bei euch Menschen sagt man Seife dazu."

"Unsere Seife riecht nicht nach Orchideen und mystischen Wasserfällen."

Er legte den Kopf schief und musterte sie. "Du möchtest für abgeklärt und unnahbar gehalten werden und doch erfreust du deine Sinne gern an berauschenden Düften."

Zornig klatschte sie ein Tuch auf seine Wunde. Er lache, denn langsam erkannte er das Muster hinter ihren Wutausbrüchen. Immer wenn sie ihre kühle Distanziertheit gefährdet sah, reagierte sie gereizt. 

Sie tupfte vorsichtig die Wundränder ab. "Du hast übrigens ziemlich gut gekämpft."

Valerian war verblüfft, dass ihm das Lachen verging. Ihm entfuhr sogar ein erleichtertes Seufzen. Vielleicht störte sie sich gar nicht so sehr an Gewalt, wie er befürchtet hatte. Das bedeutete, dass sie sich hier, wo Kriege praktisch an der Tagesordnung waren, unter Umständen schneller einleben würde als gedacht. "Ist es Männern in der Oberwelt erlaubt, sich mit Schwertern zu duellieren?"

"Nein. So etwas hat Konsequenzen."

"Was meinst du damit?"

"Wenn in der Oberwelt ein Mann einen anderen so zurichtet, wie du es heute getan hast, wird er festgenommen und weggesperrt. Wenn sein Opfer stirbt, kann es sogar sein, dass ihm die Todesstrafe droht."

Valerian überlegte. "Und wenn der Mann sich selbst  oder die, die er liebt verteidigt?"

"Dann hat das trotzdem Konsequenzen, bloss nicht so schwerwiegende. In meiner Welt verklagen die Leute einander oft wegen der albernsten Dinge, die man sich vorstellen kann. Ich habe von einem Fall gehört, bei dem jemand in ein Haus eingebrochen ist: Der Dieb ist vom Dach gefallen und hat dann gegen den Hausbesitzer geklagt. Er hat den Prozess sogar gewonnen. Idiotisch, oder?"

"Wenn das so ist, möchte ich nicht in der Oberwelt leben, glaube ich."

"Also mir gefällt's dort", sagte sie abwehrend.

Er seufzte.

"Diese Wunde ist ziemlich tief", murmelte sie und befühlte den Wundrand mit den Fingern. "Ich glaube, du musst genäht werden."

Er biss sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerz das Gesicht zu verziehen. Bis jetzt waren Verletzungen für ihn noch nie ein Problem gewesen. Nach einem Kampf hatte er sofort mit einer Frau geschlafen und die Wunden waren von selbst wieder verschwunden. "Was ich brauche, ist Sex." Er wollte es verführerisch klingen lassen, aber es hörte sich wie ein Vorwurf an. "Mit dir."

Mit finsterer Miene, aber sanften Händen trocknete sie die Wunde. "Ich kann dir liebend gern eine andere Frau besorgen."

Nachdem sie es ausgesprochen hatte, presste sie die Lippen zusammen. Über ihr Gesicht huschte ein Ausdruck, den Valerian als eine Mischung aus Ärger und Sorge deutete. Hatte sie etwa Angst, dass er auf ihren Vorschlag einging?

"Ach, Moon, wann begreifst du endlich, dass ich nur dich will?"

Sie entspannte sich und ihre Gesichtszüge wurden wieder sanfter. "Tja, wann begreifst du endlich, dass ich nicht mit jedem in die Kiste springe?"

"Habe ich dir denn nicht schon erklärt, dass du meine Gefährtin bist?" Er wollte nicht schon wieder hören, wie sie es abstritt, deshalb fügte er hinzu: "Deine ständigen Proteste sind lächerlich."

"Eine Gefährtin ist eine Partnerin, die aus freien Stücken mit einem Mann zusammen ist, richtig? Ich glaube, wir wissen beide, dass ich nicht freiwillig bei dir bin. Und ich bin auch nicht deine Partnerin. Oder Königin. Ich bin keine Königin."

Valerian liess seine Finger durch ihre seidigen Haare gleiten. Er konnte einfach nicht anders. Dann roch er an ihnen. Was für ein himmlischer Duft. "Du riechst so gut."

"Das kann man von dir nicht behaupten."

Er nahm es ihr nicht übel. "Ich muss tatsächlich dringend ein Bad nehmen. Möchtest du dich mir vielleicht anschliessen?"

Shaya durchlief ein Zittern und ihr fiel das Tuch aus der Hand. "Hör auf, so zu reden, verdammt."

"Warum? Ich will dich. Und ich gehöre nicht zu denen, die ihre sexuellen Wünsche leugnen."

"Ja, das habe ich schon begriffen." Sie hob das Tuch auf und warf es in den kalten Kamin. Dann nahm sie einen sauberen Lappen und befeuchtete ihn mit Heilerde. "Dir ist klar, dass ich gleich Erde in eine offene Wunde gebe, ja?"

"Ja."

"Und du willst immer noch, dass ich das mache?"

Er zog die Augenbrauen hoch. "Natürlich."

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. "Wie du meinst. Es ist deine Infektion", sagte sie dann achselzuckend und begann - allerdings erst nach kurzem Zögern - , die grobkörnige Erde auf seine Verletzung zu schmieren.

Eine Weile sagte er nichts. Er konzentrierte sich auf ihren Atem, der sanft über seine Schultern streifte. Er konzentrierte sich auf ihre Zähne, die sich in ihre Unterlippen gruben. Sein Penis wurde zusehends steifer.

"Sexuelle Wünsche sind etwas ganz Natürliches, Moon", sagte er. "Je mehr du sie unterdrückst, desto stärker werden sie. Und irgendwann sind sie so stark, dass du an nichts anderes mehr denken kannst."

"Jetzt ist aber Schluss." An ihrer bebenden Stimme erkannte Valerian dass seine Worte sie nicht kaltliessen. Ihre Nippel pressten sich hart gegen den Stoff ihres Hemds. "Versuch nicht, mich in ein Gespräch über sexuelle Wünsche zu verwickeln, okay? Das interessiert mich nicht."

Er griff nach ihrem Handgelenk, umfasste energisch und gleichzeitig besänftigend ihre zarten Knochen. Immer noch kein Rumknutschen, beruhigte er sich. Er zog sie zu sich. Ihr Blick fiel zuerst auf seinen Mund, dann auf seine Erektion. Sie schnappte nach Luft.

"Du hast recht", sagte er. Er sehnte sich danach, mit ihr zu schlafen. "Wir sollten nicht darüber reden. Ich sollte es dir zeigen. Sag, dass ich es dir zeigen soll, Shaya. Sag es."

Plötzlich in Panik geraten, machte sie einen Satz zur Wand und griff sich eines der kleinen Schwerter. Sie richtete es drohend auf ihn und wirkte dabei ganz wie die Kriegerkönigin, die sie leugnete zu sein. "Nein. Nein! Hast du verstanden?"

Shaya hatte gegen ihr fast glühendes Verlangen angekämpft, seit Valerian sich hingesetzt hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn berührt hatte, wenn er sie angesehen oder mir ihr geredet hatte, war ihr Widerstand ein bisschen schwächer geworden.

Er erstarrte und seine Miene wurde plötzlich verschlossen. Nur seine Augen verrieten, was in ihm vorging. In ihnen funkelte Leidenschaft, Zorn und Enttäuschung.

"Also gut", sagte er. "Heute Nacht sollst du deinen Willen bekommen. Ich werde dich nicht anfassen."

Nein, heulte ihr Körper auf.  Hör nicht auf mich. Kämpf um mich. "Danke." Sie musste stark bleiben. Sie durfte nicht klein beigeben. Die Auswirkungen wären einfach zu weitreichend.

Sie starrten sich schweigend an, als würden sie einen stillen Kampf ausfechten. "Morgen allerdings geschieht dann, was ich will. Morgen wirst du mich nicht mehr zurückweisen. Hast du verstanden?"

Sie schluckte nur. Wagte kein Wort zu erwidern.

"Wenn du versuchst, dieses Zimmer zu verlassen, wirst du es bereuen." Er stand auf und ging, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach ihr umzudrehen.

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