Kapitel 9 - "N" wie "Nachholbedarf"
Mina fühlt sich im Traum bei ihrem Namen gerufen. Dann wacht sie davon auf, dass jemand neben ihr flüstert. Als sie die Augen aufklappt, schaut sie direkt in die leuchtend braunen Augen von Jimin, der neben ihr hockt und schüchtern versucht, sie zu wecken. Er erschrickt ein bisschen, weil sie sich so nahe sind. Aber Mina ja auch. Dann lachen beide, und Jimin zeigt auf Minas Hände.
"Warum hast du die Schafe im Arm? Und was ist das für ein Brief, den du da zerknitterst?"
Erschrocken fährt Mina hoch und glättet den Umschlag mit dem wertvollen Inhalt.
"Hallo, Jimin! Hab ich so lange geschlafen, bis du von der Schule nach Hause gekommen bist? Oder bist du früher gekommen?"
"Nö. Ganz normal. Mama Jeri hat mir gesagt, dass du in meinem Zimmer bist und auf mich wartest. Aber du hast gar nicht gewartet. Du hast geschlafen. Und ich weiß, dass du jetzt auch Mama Jeri sagst."
Jimin kichert ein bisschen, weil das natürlich komisch ist für ihn.
Mina setzt sich erstmal richtig hin. Dabei überlegt sie fieberhaft, wie um Himmels Willen sie Jimin die Wahrheit schonend beibringen soll. Und wieviel davon.
"Jimin, warst du schon irgendwann mal in einem Krankenhaus, also - nicht als Baby?"
"Nö. Aber ich weiß aus dem Fernseher, wie es da ist. Da sind ganz viele Ärzte und noch viel mehr Krankenschwestern. Und am allermeisten kranke Leute."
"Genau. Als du damals geboren wurdest, war da auch eine Krankenschwester. Die hat in den Wochen, bis Sumi gestorben ist und du zu Mama Jeri gekommen bist, rund um die Uhr auf dich und deine Mama aufgepasst. Im Grunde war sie deine zweite Mama, und Mama Jeri erst die dritte. Und als die Ärzte Sumi gesagt haben, dass sie sie nicht retten können, da hat sie mir einen Brief geschrieben in der Hoffnung, dass ich dich eines Tages finden werde. Die Krankenschwester von damals hat den Brief bekommen und seitdem jeden Monat in all den Jahren dort angerufen und gefragt, ob ich gekommen bin. Bis letzte Woche. Da hat sie erfahren, dass ich da bin, hat den Brief gesucht und ist gestern zu mir gekommen, um ihn mir zu geben."
"Darf ... ich den Brief ... auch lesen?"
"Das ist schwierig. Deine Mami schreibt in dem Brief mit so, so viel Liebe von Dir, das würde ich dir gerne vorlesen. Aber sie schreibt auch von uns beiden von früher und von ihrem Sterben und ihren Gedanken, und das ... ich glaube einfach, dass du dafür ein bisschen älter sein musst. Ein paar Jahre."
Mina sieht wohl, dass Jimin nicht einverstanden ist, aber da wird sie eisern bleiben.
"Ich habe ein großes schlechtes Gewissen, dass ich damals, als deine Mama bei Großmutter abgehauen ist, nicht sofort nach ihr gesucht habe, denn tatsächlich konnte nur ich sie finden. Jetzt ist es für Dich wunderbar, aber für Sumi und mich ist es zu spät. Und darum habe ich gestern Abend vor lauter schlechtem Gewissen sehr viel geweint und sehr wenig geschlafen. Deshalb musste ich einfach schon heute Vormittag kommen, und deshalb bin ich auch auf deinem Bett eingeschlafen."
Jimin macht große Augen und ein sehr nachdenkliches Gesicht. Dann setzt er sich neben Mina auf sein Bett und schaut sie grade an.
"Glaubst du, dass du Schuld bist, dass meine Mama gestorben ist? Ich ... ich hab das nämlich lange geglaubt. Dass meine Mama tot ist, weil ich irgendwie nicht richtig war. Aber Mama Jeri hat mir gesagt, dass Mama Sumi wusste, dass sie vielleicht sterben wird. Und dass ich ihr wichtiger war. Sie wollte, dass ich auf der Welt bin. Also kann ich ja nicht Schuld sein. Stimmts?"
Mina schickt ein kleines Dankgebet zum Himmel für diese wunderbare Frau.
"Da hat Mama Jeri absolut recht. DU hast deine Mutter nicht getötet. Sie hat sich so auf dich gefreut und dich so sehr geliebt."
"Dann bist du aber auch nicht Schuld! Dann hat Mama Sumi das ohne dich und ohne mich entschieden und erlebt."
Mina schießen schon wieder die Tränen in die Augen. Dieses einzigartige, kluge, sensible Kind! Jimin wundert sich gar nicht über ihre Tränen. Er klettert einfach auf Minas Schoß und nimmt sie in den Arm.
"Vielleicht hat Mama Sumi ja gewollt, dass wir beide uns gegenseitig trösten. Du bist lieb, Tante Mina."
"Du auch, Jimin. Du auch! Komm, ich lese dir jetzt gleich die Sätze vor, die sie über dich geschrieben hat."
"Eigentlich ... sollte ich dich zur Teerunde holen. Aber die haben jetzt bestimmt schon ohne uns angefangen."
"Na, dann gehen wir natürlich erst da hin, und dann lesen wir nachher. Okay?"
Jimin nimmt Minas Hand, zieht sie von Bett hoch und zur Tür. Sie weiß gar nicht, wie sie sich fühlen soll. Dass Jimin ihr gegenüber jetzt so frei und ohne Angst ist, ist ein Geschenk des Himmels. Und er hat recht. Dass er jetzt in ihrem Leben ist, und dass Sumi das so gewollt hat - das versöhnt sie ein bisschen mit ihrer Schuld, die sie durchaus noch fühlt. Aber vielleicht liegt ja da der Schlüssel, dass auch sie eines Tages das alles loslassen kann.
Die Teerunde hat tatsächlich schon angefangen, aber Mama Jeri winkt sie nur zu zwei leeren Stühlen und lässt weiter alle erzählen. Die anderen Kinder haben Jimins Tante Mina schon so oft gesehen, dass sie einfach ganz normal weiter erzählen. Das Vertrauen der Kinder wärmt sie ein bisschen von innen.
Nach der Teestunde muss Jimin wie die meisten anderen auch einige Hausaufgaben machen, aber er darf sie mit Mina in seinem Zimmer machen. Mina schaut ihm über die Schulter, staunt, was er in der fünften Klasse alles schon lernen muss, erklärt ihm, was er noch nicht verstanden hat, und bemerkt wieder, dass er sich ganz besonders für das Fach Biologie interessiert. Alles, was lebt, scheint ihn magisch anzuziehen.
"Sag mal, Jimin. Magst du mich mal besuchen? Dann zeige ich dir das Kinderzimmer von deiner Mama und unser Baumhaus und die Lieblingsplätze von deiner Mama im Park. Und ich finde, wenn ich dir ein paar Sachen zeige, die sie ganz besonders lieb gehabt hat; dann darfst du dir alles aussuchen, was du als Erinnerung haben magst."
Jimin schweigt einen Moment, während er seine Hefte und Bücher zurück in den Ranzen räumt für morgen.
"Hm. Ich glaube, ich mag das. Ich mag, dass du mir ganz viel von meiner Mama Sumi erzählst und zeigst, damit ich sie ein winziges Bisschen kennen lerne. Und ich mag auf jeden Fall mal in das Baumhaus klettern."
"Das freut mich sehr. Vielleicht machen wir das am kommenden Wochenende, oder? Dann haben wir genug Zeit dafür.
Ich werde vermutlich in der nächsten Woche nach Amerika zurückfliegen, denn ..."
Jimin wird stocksteif neben Mina und schaut sie entsetzt an.
"Muss ich ... muss ich dann ... ich ... will noch nicht! ..."
Einen Moment lang muss Mina überlegen, was ihn so erschreckt haben könnte, aber dann fällt es ihr selbst auf. Sie hat echt ungeschickt angefangen.
"Nein, Jimin, natürlich nicht! Ich habe jetzt über zwei Monate lang ganz viel gearbeitet und erledigt und entschieden hier - und unseren wunderbaren Jimin kennen gelernt. In der ganzen Zeit hat meine kleine Tochter auf mich verzichtet. Darum fliege ich ein bisschen nach Hause, ihr geht es nämlich grade nicht so gut damit. Aber ich komme wieder, denn hier ist noch viel mehr Arbeit.
Du wirst hier noch das Schuljahr beenden und ein tolles Zeugnis bekommen. Ich werde so schnell wie möglich mit Nuri zusammen wieder hierher kommen. John kommt nach, sobald er von der Uni frei hat. Unser Sohn Youngjun wird so lange zu Hause bleiben mit unserem Hund Hunter. So lernst du immer nur eine neue Person kennen, hast nicht so viel Angst und kannst dich dran gewöhnen. Du kannst bei Mama Jeri bleiben, bis wir miteinander beschließen, dass du bereit bist für den Sprung über das große Meer."
Jimin atmet einmal tief durch.
"Ich ... glaube, ich mag dich und Onkel John jetzt so dolle, dass ich mich trauen werde. Aber Angst hab ich trotzdem. Ich kann doch kein Wort Amerikanisch. Wie soll ich da denn in die Schule gehen und lernen? Und wie soll ich mit deinen Kindern reden?"
"Das ist ganz einfach. Du weißt ja schon, dass John Koreanisch gelernt hat. Und unsere beiden Kinder haben vom ersten Lebenstag an von mir nur Koreanisch und von John nur Amerikanisch gehört. Darum sprechen sie beide Sprachen fließend. Sie können dich immer verstehen und auch überall für dich übersetzen, wenn du etwas nicht verstehst. Außerdem können wir schon jetzt anfangen, dir Amerikanisch beizubringen. Was denkst du?"
Wieder holt Jimin tief Luft. Seine Stimme ist leise und zaghaft.
"Damit ist es beschlossen, oder? Muss ich?"
"Nochmal nein. Damit lernst du eine neue Sprache und hast in egal welchem Land auf der Welt einen Vorteil in der Schule dadurch. Und was meinst du, wie die anderen kucken, wenn wir jetzt schon heimlich damit anfangen und du dann in den Ferien schon ganze kleine Sätze sagen kannst!"
Jimins Gesicht hellt sich auf, und Mina kann ihre Anspannung auch ein bisschen loslassen. Jimins Mut heute heißt noch lange nicht, dass das in zwei Monaten dann alles glatt geht. Aber es macht auch Mina ein bisschen Mut, dass sie diese Hürde gemeinsam überwinden können.
"Dann muss ich gleich anfangen, oder?"
"Das können wir machen, wenn du möchtest."
"Hmmmmmmm - ja, ich glaub, ich mag anfangen. Warte ... Ich zeig auf Sachen im Zimmer, und du sagst mir das amerikanische Wort?"
"Abgemacht."
Mina fühlt mal wieder "Jimin macht mich glücklich"-Gefühle und notiert sich sofort alle Wörter, die sie Jimin sagt. Der legt munter los, streift durch sein Zimmer und zeigt auf alles Mögliche. Der Klang der Wörter ist ihm völlig fremd, aber er versucht, jedes Wort ein paarmal auszusprechen. Mina korrigiert und lobt ihn mit einer Engelsgeduld und tiefer Freude im Herzen.
"Du hast ein gutes Ohr für den Klang, Jimin. Das geht ja ganz schnell bei dir!"
Jimin strahlt. Dann geht er zurück zu den Sachen, die er schon gehört hat. So schnell bleiben Wörter natürlich nicht hängen, aber Mina stellt fest, dass er sich offenbar Eselsbrücken für den Klang gebaut hat.
"Das ist ein Bu... Bu... Ich kann das Geräusch am Ende nicht! Es ist nicht G."
"Das hast du gut beobachtet. Im Koreanischen haben wir einen Laut, der ist irgendwo zwischen K und G, je nach Dialekt. Im Amerikanischen haben wir beides. Das G ist ganz weich, und das K ist ganz hart. Was du da in der Hand hast, ist ein 'booK' mit dem harten K. Beim G hebst du hinten im Mund die Zunge ein bisschen an, merkst du das? Und beim K bleibt die Zunge unten."
Jimin probiert noch ein bisschen rum, und dann beschließen sie, Lego zu bauen.
Mina nimmt sich vor, am Abend alle Gegenstände aus diesem Zimmer und dazu die aus der Küche und dem Bad in den Computer zu tippen, immer mit dem koreanischen Wort und dem Englischen Wort. Diese Zettel kann sie dann in den nächsten Tagen zusammen mit Jimin überall drankleben, damit er auch in ihrer Abwesenheit Wörter üben kann.
Als Mina am nächsten Tag die vielen, vielen Zettel mitbringt, versucht Jimin sofort, sie zu lesen, aber er kann ja die lateinischen Buchstaben nicht. Also machen sie heute nach den Hausaufgaben eine Liste zu den Buchstaben und den jeweiligen Gegenstücken in der anderen Schrift. Dann gehen sie gemeinsam mit den Zetteln und einer Rolle Tesafilm durch Jimins Zimmer und kleben die Wörter überall an die Gegenstände dran, sofern das möglich ist.
"Und in den anderen Zimmern? Es gibt noch sooooo viele Sachen, die ich nicht weiß."
"Das stimmt. Aber du kannst das ja nicht alles in zwei Tagen lernen. Und für alle anderen Räume müssen wir auch Mama Jeri und die Kinder fragen, ob sie einverstanden sind. Wir können ja nicht die ganze Wohnung vollkleben, wenn die anderen das nervig finden."
"Können wir gleich fragen?"
Und bevor Mina antworten kann, ist Jimin schon ungeduldig zur Tür raus und auf dem Weg zum Büro. Mina muss schmunzeln. Das war wohl grade ein winziger Zipfel vom fröhlichen, neugierigen Jimin von früher. Und von Sumi von früher auch.
Jimin kommt mit Mama Jeri im Schlepptau wieder und zeigt ihr seine ganzen Vokabelzettel.
"Und jetzt wollen wir wissen, ob wir überall in der Wohnung solche Zettel aufhängen dürfen."
Mama Jeri kuckt etwas skeptisch, denn es sind hier wirklich viele Zettel, und die sind auch nicht ganz klein.
"Ist es möglich, dass die Zettel kleiner sind? Wir haben ein Mädchen in dieser Kinderfamilie, die jetzt ihr erstes Jahr Englisch hinter sich hat. Für sie wäre das auch nicht schlecht, aber es sollte nicht alles vollhängen. Geht das?"
"Klar geht das, danke. Wir schneiden die Zettel rundrum kleiner und überlegen dann, welche wir aufhängen wollen. Komm, Jimin, wir brauchen zwei Scheren."
Die folgende halbe Stunde werden viele, viele kleine Zettel noch kleiner geschnitten, und dann ziehen sie los. Als erstes kleben sie an jede Zimmertür ein Wort. "Kitchen", "bathroom", "living room". In der Küche schauen sie in alle Schränke und kleben jeweils ein paar Zettel daran, was in diesem Schrank drin ist. An der Garderobe bekommen einige von Jimins Sachen Zettel.
"So, mein lieber Jimin. Und jetzt hat dein Kopf für heute genug gedacht. Ich bin dafür, dass du ein bisschen mit den andern spielst. Und ich fahre nach Hause und arbeite weiter an meinem Kram."
Mit Mama Jeri verabredet Mina noch, dass sie Jimin am Samstag Vormittag abholt und ihm das Anwesen zeigt. Sie will genau drauf achten, wie es Jimin dabei geht, und ob er vielleicht wieder ins Kinderdorf will, wenn es ihm zu viel wird. Dann fährt sie endlich nach Hause.
Mina und Jimin üben nun jeden Nachmittag Wörter, Buchstaben und kleine Sätze. Mina hat ihm ein Vokabelheft mit drei Spalten mitgebracht, das Jimin Seite um Seite füllt mit den Wörtern, die überall in der Wohnung kleben. Dass sie natürlich John davon erzählt hat, mit welchem Eifer er Amerikanisch lernt, verrät sie Jimin nicht. Aber von ihm bekommt sie jede Menge Tipps, wie sie es anstellen muss, damit Jimin schnell und effizient lernen kann. Es macht sie glücklich, dass Jimin sich jetzt so leicht auf alles einlässt.
Mina und Jimin sind jeden Tag ein bisschen aufgeregter, weil es das erste Mal sein wird, dass Jimin allein mit Mina wegfährt. Aber genau das sind die kleinen Schritte, die Jimin später hoffentlich helfen werden, dass die Hürde nicht so hoch ist.
Am Samstag Morgen wacht Mina ganz früh auf, weil sie sich so auf Jimin freut. Sie hofft so sehr, dass alles gut geht und Jimin mit allem klar kommt. Es wäre eine tolle Bestätigung für sein Selbstbewusstsein. Und für ihres eigentlich auch, denn am Anfang hatte sie ja schon fast verzweifelt und überlegt, ob sie nicht besser aufgeben sollte. Zu ihrer Freude steht Jimin bereits vor dem Haus, als sie beim Kinderdorf ankommt. Er hat beide Schafe in der Hand und sein Vokabelheft. Mina geht trotzdem erst nach oben und sagt Mama Jeri Bescheid, dass sie und Jimin nun weg sind.
Die Fahrt durch die Stadt macht Spaß. Es ist warm, sie haben beide Fenster weit offen und singen aus voller Kehle irgendwelche Songs aus dem Radio mit. Als sie durch das große Tor in den Park rollen, verstummt Jimin. Mit großen Augen schaut er hierhin und dorthin und scheint alle Eindrücke aufzusaugen wie ein trockener Schwamm. Mina fährt langsam bis zum Haus und lässt Jimin Zeit. Sie parkt das Auto, und die beiden steigen aus. Es dauert eine ganze Weile, bis Jimin seine Sprache wieder findet.
"Tante Mina, ist das das Haus, in dem du und meine Mama Kinder waren? Da sind sooo viele Fenster, woher weiß man denn da, wo man wohnt?"
Mina muss lachen bei der Frage.
"Das ist eigentlich ganz einfach. Hier an der Seite ist die Eingangstür zu unserer Wohnung. Die Wohnung geht über beide Etagen und hört ungefähr bei der Regenrinne da vorne auf. Der ganze Rest vom Haus war für Großmutter alleine da. Aber jetzt sag mal, was du als erstes sehen willst. Einfach das Haus, Sumis Zimmer, die alten Fotoalben, das Baumhaus?"
Jimin schaut unsicher, aber dann entscheidet er sich für das Baumhaus. Mina führt ihn weiter rein in den Park, bis sie unter dem Baum stehen.
"Das ist ja viel größer als das im Kinderdorf. Darf ich raufklettern?"
"Natürlich darfst du. Das Baumhaus haben unser Papa und der Gärtner zusammen gebaut. Da drinnen ist so viel Platz, dass wir als Kinder da sogar mal drin übernachtet haben. Du kannst ruhig hochklettern."
Das lässt sich Jimin nicht zweimal sagen. Flink wie ein Äffchen ist er oben und in dem Haus verschwunden. Schnell taucht sein Kopf wieder auf.
"Komm auch hoch, Tante Mina. Erzähl mir von euch als Kinder."
Bald darauf sitzen die beiden im Baumhaus, Mina erzählt Jimin von seiner fröhlichen, wilden Mama und zeigt ihm, wo das gemeinsame Tagebuch immer gesteckt hat.
"Habt ihr in Amerika auch ein Baumhaus?"
"Leider nein. Und soooo groß wie dieser ist unser Garten auch gar nicht."
Dann gehen sie ins Haus. Jimin will in jeden Raum, will wissen, wer dort gewohnt hat, was dort gemacht wurde. Unauffällig lotst Mina den Jungen in Großmutters Wohnbereich, denn nun ist es allmählich Zeit für das Mittagessen. Die Köchin hat typisches Kinder-Lieblingsessen gekocht, und zum Nachtisch gibt es Eis.
Aber dann wird Jimin auf einmal ganz still.
"Alles in Ordnung mit dir? Worüber denkst du nach, Jimin? Sags mir einfach."
Erst schüttelt Jimin den Kopf. Dann ringt er stumm um Worte, bis er sich schließlich überwinden kann.
"Jetzt hab ich hier gegessen. Das war lecker. Aber - muss ich jetzt schon hier bleiben? Mama Jeri wartet bestimmt auf mich."
Scheu schielt Jimin zu Mina rüber.
Der wird ganz anders bei dieser ängstlichen Frage.
"Nein, Jimin, natürlich nicht. Wir haben verabredet, dass du mich hier besuchst und dann wieder nach Hause fährst. Komm mal zu mir."
Jimin weiß nicht so recht. Aber dann rutscht er doch vom Stuhl und geht auf Mina zu.
"Darf ich dich in die Arme nehmen?"
Jimin nickt, und Mina zieht den plötzlich wieder ganz unsicheren Jungen ein bisschen an sich ran.
"Hast du Angst, dass ich dich entführt habe? Dann bist du ganz schön mutig, dass du mir die Frage so ehrlich gestellt hast. Denn das zeigt mir, dass du mir doch schon ein bisschen vertraust. Und dafür danke ich Dir.
Pass auf, ich erklärs dir. Wenn man andere Menschen in ihrem Zuhause besucht, dann ist es normal, dass man etwas zu essen angeboten bekommt und später wieder nach Hause geht. Dem Gastgeber ist es nämlich wichtig, dass der Gast sich willkommen fühlt und nicht etwa ganz lange heimlich Hunger haben muss. Also hat meine Köchin extra etwas gekocht, was dir schmecken könnte, und natürlich fahre ich dich zurück ins Kinderdorf, sobald du das möchtest."
"Jetzt gleich?"
Es gibt Mina einen Stich ins Herz, als Jimin das so schnell fragt.
"Ja, wenn du das möchtest, fahren wir sofort zurück."
"Noch nicht. Erst möchte ich noch der Köchin danke sagen für das tolle Essen. Und wir waren noch nicht bei den Fotoalben und noch nicht in Mama Sumis Zimmer."
Mina ist verblüfft und erleichtert. Jimin wollte nicht sofort weg. Er wollte nur sicher gehen, dass sie ihre Versprechen hält.
"Na, dann auf in die Küche!"
Die Köchin freut sich sehr über den unerwarteten Besuch. Später sucht Mina zwei bestimmte Fotoalben aus dem schon gepackten Karton und geht mit Jimin in Sumis Zimmer. Sehr lange und sehr still schaut er sich um, als wolle er jede Kleinigkeit in sich aufnehmen und abspeichern, damit er sie nie mehr vergisst. Als nächstes schiebt er den Schreibtischstuhl ans Regal und nimmt jedes Kuscheltier einmal in den Arm. Mina muss sich fest die Tränen verkneifen, weil es so rührend ist. Lange hält Jimin ein selbstgenähtes Kissen mit Gesicht im Arm und greift sich dann noch einen Schlüsselanhänger, an dem ein winziger Teddy hängt.
"Möchtest du die beiden Sachen mitnehmen als Andenken?"
Jimin legt den Anhänger zurück und behält das Kissen im Arm.
"Können wir jetzt Fotos kucken?"
"Natürlich, gerne."
Die beiden hocken sich auf Sumis Bett. Mina schnappt die Fotoalben und plaudert und zeigt und erinnert und erklärt. Manchmal müssen sie beide lachen, manchmal muss Mina ein bisschen weinen. Und manchmal starrt Jimin stumm seine Mutter als Kind an. Er hört aufmerksam zu, aber Mina kann an seiner Miene überhaupt nicht ablesen, wie es ihm damit geht. Also fragt sie schließlich nach.
"Woran denkst du grade, Jimin?"
Erst kommt eine Weile nichts, dann antwortet Jimin ganz bedächtig und überlegt.
"Dass es ... doof ist, dass ich nie mit meiner Mama kuscheln oder toben oder lachen konnte."
Und schließlich weint er. Zum ersten Mal weint er um seine Mutter, die ihn geliebt hat, die ihn aber leider alleine lassen musste. Mina zieht ihn auf ihren Schoß und hüllt ihn vorsichtig ein in Geborgenheit und Liebe.
"Eigentlich ... hast du ganz viel mit deiner Mama gekuschelt. Du kannst dich nur nicht mehr erinnern, weil du so klein warst. Aber die Krankenschwester, die bei euch war, hat mir erzählt, dass du eigentlich immer auf Sumis Bauch gelegen hast. Wenn du nicht grade gewickelt oder gewogen wurdest, warst du immer so nah bei ihr, wie das nur möglich war. Sumi hat dich so sehr lieb gehabt, sie wollte keine einzige Sekunde mit dir verpassen."
Eine Weile kuschelt Jimin sich noch an Mina und sucht Halt, aber dann setzt er sich grade hin.
"Du, da war ein Foto, das ich schön fand. Darf ..."
"... ich das haben? Ja, darfst du natürlich, such dir aus, was du behalten möchtest."
Noch einmal blättert Jimin durch das Album mit Kinderbildern, dann sucht er sich nach langer Überlegung drei Bilder aus, und Mina fragt sich, wie er wohl diese Entscheidung getroffen hat. Einen Zusammenhang zwischen den Bildern sieht sie nicht.
"Was möchtest du denn jetzt noch sehen oder erleben? Oder möchtest du langsam nach Hause? Im Kinderdorf ist bald Teezeit."
"Dann ... möchte ich glaube ich nach Hause. Ich hab jetzt so viel gesehen und gehört. Mein Kopf summt wie ein Bienenstock!"
"Dann komm."
Gemeinsam bringen sie die beiden Alben zurück zum Karton, Jimin nimmt das Kissen, Mina gibt ihm einen Briefumschlag für die drei Fotos, und dann gehen sie zum Auto. Die Rückfahrt ist stiller. Jimin hat das Kissen fest im Arm und ist ganz in sich gekehrt. Darum lässt Mina ihn in Ruhe. Er hat heute wirklich viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Und so kann sie selbst auch ihren Gedanken über diesen Tag nachhängen. Was für ein Geschenk, dass Sumis Sohn jetzt zu ihrem Leben gehören kann! Es hat gut getan, Jimin so viel von Sumi zu berichten und sein ehrliches Interesse zu spüren.
Sie kommen grade rechtzeitig zur Teerunde. Heute muss Jimin mal ganz viel loswerden. Völlig durcheinander sprudeln einige der wichtigsten Eindrücke aus ihm heraus und er zeigt die Bilder von seiner Mama Sumi. Die anderen Kinder freuen sich mit ihm, dass er jetzt so viel über sich selbst rausgefunden hat. Mina redet noch kurz mit Mama Jeri und informiert sie über die Fragen und Eindrücke, die für Jimin wohl am wichtigsten waren heute. Dann fährt sie nach Hause.
Zu Hause isst sie nur ein paar Reste vom Mittagessen und geht dann in ihr Büro. Sie schnappt sich ihre von Anfang an ständig weiter wachsenden ToDo-Listen und kontrolliert, was sie noch vor der Abreise tun muss, was sie von Amerika aus erledigen kann und was Zeit hat bis danach. Sie schreibt John eine Nachricht, dass sie telefonieren möchte, und geht dann einige Papiere durch, die sie unterschreiben muss.
Als John schließlich anruft, klappt sie ihren PC für heute zu und geht nach nebenan ins Wohnzimmer. Mina lässt ihn teilhaben an all dem Neuen von heute - von den Momenten, in denen Jimin ängstliche Fragen gestellt hat, und denen, wo sie spüren konnte, dass er ihr doch vertraut. Davon, was er selbst dann bei der Teerunde erzählt hat. Und von all dem, was sie dabei gefühlt hat. John hört eine ganze Weile zu, bevor er das Wort ergreift.
"Das klingt im Großen und Ganzen richtig gut. Ich glaube, dass Jimin das im Sommer dann schaffen kann. Aber um dich mache ich mir Sorgen, Minny. Du hast jetzt über zwei Monate lang ununterbrochen gearbeitet, organisiert, geregelt - und ganz viel gefühlt. Du wirkst inzwischen wirklich erschöpft. Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst, Liebling. Du brauchst Abstand und eine Pause. Jimin hast du heute doch gesagt, dass du Montag herfliegst, oder?"
"Ja, hab ich. Er war erst sehr erschrocken, weil er geglaubt hat, dass er auch jetzt schon mit muss. Ich habe ihm gesagt, dass ich zu meiner Tochter muss, weil sie mich sehr vermisst, und dass ich dann in zwei Wochen wiederkomme."
"Du weißt, dass Nuri noch drei Wochen Schule hat, oder? Mir wäre es lieber, du würdest richtig abschalten und erst in drei Wochen zusammen mit Nuri wieder rüberfliegen. Oder hast du die dritte Woche schon wieder voller Termine?"
"In der Woche ist einiges ohne Termin zu tun, denn an dem Samstag dann ist die erste Auktion. ... Hm. ... Meinst du, wir könnten Nuri ein paar Tage eher aus der Schule nehmen? Dann ..."
"O.K. - pass auf, Liebes. Nuri vermisst dich. Youngjun vermisst dich. Hunter vermisst dich. Und ich vermisse dich. Wenn du dann das nächste Mal nach Hause kommst, wirst du Jimin dabei haben, und von da an werden uns anstrengende, spannende Monate bevorstehen. Du wolltest auch wieder anfangen zu arbeiten. Und irgendwann musst du wirklich abschalten. Ich schreibe dir nichts vor. Gar nichts. Aber ich möchte, dass du in Ruhe und mit Vernunft überlegst, wie du das alles in den nächsten drei Monaten unter einen Hut kriegen willst, ohne selbst unter die Räder zu geraten. Denn sonst hat auch Jimin nichts davon. Wir, wir beide müssen stabil in die neue Situation gehen."
Mina muss schlucken bei dieser deutlichen Ansage. Ja, sie hat unglaublich viel stemmen müssen in den letzten Wochen. Und sie war emotional viel stärker gefordert, als es irgendjemand vorher geahnt hat. Letzten Endes fragt John sie grade, ob Jimin so viel wichtiger ist als ihre eigene Familie. Und das heißt dann wohl, dass sie jetzt die Reißleine ziehen muss.
"Danke für deine deutlichen Worte, Schatz. Das hab ich wohl grade gebraucht. Ich glaube, ich kann das nicht mehr heute Abend entscheiden. Aber morgen sortiere ich hier alles, was wirklich nötig ist, versuche, so viel wie möglich vorher zu schaffen oder zu delegieren. Und ich checke die möglichen Flüge. Versprochen. Ich werde versuchen, so viel wie möglich Zeit bei euch zu sein, bevor ich zurück muss. Und ich glaube, deshalb gehe ich jetzt bald ins Bett zum Ab- und Umschalten."
"Na dann - das klingt schon besser. Gute Nacht, Liebes!"
Mina verabschiedet sich - und geht tatsächlich sofort ins Bett. Schlafen kann sie leider trotzdem nicht. Ihr Kopf verarbeitet den Tag, versucht vorauszuahnen, wie es mit Jimin weiter gehen wird, schämt sich ein bisschen, dass sie ihre eigene Familie so vernachlässigt hat. Einschlafen kann sie erst, nachdem sie noch eine Liste für morgen gemacht hat - was sie alles wie umorganisieren kann oder muss, was verschoben werden muss, was sie noch vor der Abreise schaffen muss.
Am nächsten Morgen macht sie sich gleich an die Arbeit und erledigt die vorgezogenen Notwendigkeiten für die Auktion. So richtig powern ist heute die Devise, damit alle repräsentativen Räume leer sind und die Mitarbeiter vom Auktionshaus auch in ihrer Abwesenheit alles aufbauen können. Sie bucht den Heimflug auf Dienstag um und checkt schon mal Flüge für den Rückflug mit Nuri. Sie schickt Mama Jeri eine Nachricht, welche Papiere sie in Kopie über Jimin braucht, damit sie in USA seine Übersiedlung vorbereiten kann. Und sie schreibt ihrer Vertreterin eine Nachricht, wie es ihr denn so ginge, ob sie nach den Ferien gerne noch weiter, ...
Am Nachmittag ist Mina wieder im Kinderdorf. Mama Jeri hat die Kopien gleich alle gemacht und gibt ihr jetzt einen dicken Umschlag. Kurz unterhält sich Mina mit ihr.
"Wie ging es Jimin denn gestern Abend und heute früh nach all dem, was er gestern erlebt hat?"
"Es war sehr viel zu verdauen, entsprechend still war er, heute auch lange im Baumhaus. Er hat mit dem Gesichterkissen im Arm geschlafen. Heute Vormittag hat er Amerikanisch geübt. Und nach dem Mittagessen hat er mich gefragt, wo er denn für die Reise einen Koffer herbekommt. Aber wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich, dass er sich die Tragweite und die Konsequenzen noch gar nicht vorstellen kann. Das wird noch dauern. Bilder von eurem Zuhause, skypen, dass er deine Tochter kennen lernt, die Sprache - das alles wird helfen, ihm realistische Vorstellungen zu vermitteln."
Allmählich wundert sich Mina über gar nichts mehr. Gestern Abend die Sorgen von John, heute bremst Mama Jeri. Hat sie sich denn so sehr vergaloppiert? Es schien doch jetzt alles so gut zu laufen.
"Höre ich da eine Mahnung? Ich ... habe gestern von meinem Mann etwas Ähnliches gespiegelt bekommen. Dass ich grade dabei bin, den Bezug zu meiner eigenen Familie zu verlieren, und dass ich allmählich ziemlich erschöpft bin, ohne es selbst zu merken."
Mama Jeri lächelt.
"Das ist gut. Dann muss ich das nicht sagen. Gib Jimin genug Futter zum Lernen, flieg nach Hause, widme dich deiner Tochter, sonst wird Jimin für sie zum Rivalen. Hab täglich einen Kontakt mit Jimin, egal welcher Art, und bau ihm Brücken. Aber zusammen mit deiner Familie und nur so viel, wie für dich selbst erholsam ist. Und jetzt - schalte deinen Kopf aus und hab einen schönen Nachmittag mit Jimin. Einfach so - ohne Pläne und Konzepte."
Wie recht sie doch hat! Mina atmet tief durch, bedankt sich und macht sich auf die Suche nach Jimin.
Sie findet ihn im Hausaufgabenzimmer, wo er an einem Tisch sitzt und schon mehrere Bilder gemalt hat. Jimin begrüßt sie gut gelaunt und redet sofort los.
"Ich hab mir überlegt, dass ich mein Zuhause hier malen muss, damit ich mich noch erinnere, wie es ausgesehen hat. Kuck mal. Das ist mein Zimmer, und das ist die Küche. Jetzt male ich grade dieses Zimmer hier."
Jimin sieht sich wieder um und malt das nächste Detail ins Bild. Mina setzt sich dazu und schaut sich die zwei fertigen Bilder an. Es ist beeindruckend, wie viele Einzelheiten Jimin erfasst und gemalt hat, was ihm alles besonders wichtig ist. Auf dem Bett in seinem Zimmer zum Beispiel sitzen die beiden Schafe und das Kissen mit Gesicht. Er hat seine Lieblingsbettwäsche gemalt, die mit den Fischen und Korallen drauf. Die Vorhänge haben sogar das richtige Muster. Mina nimmt sich vor, gut auf diese Bilder aufzupassen und sie später in Jimins neues Zimmer zu hängen.
Da Jimin jetzt mit dem Bild fertig zu sein scheint, fragt Mina ihn, ob sie zusammen in den Garten gehen sollen.
"Au ja. Ich muss ja auch den Garten und das Baumhaus malen!"
Schnell packt er Papier, Stifte und eine feste Unterlage zusammen. Mina schnappt sich seine freie Hand, und so ziehen sie in den großen Garten. Dieses Bild malen sie gemeinsam, manchmal sogar gleichzeitig. Dabei überlässt Mina immer Jimin die Führung. Es macht einen riesigen Spaß. Vorm Abendessen gehen sie wieder hoch, und Mina verabschiedet sich von Jimin.
"Lass uns mal besprechen, wie es in den nächsten Wochen weitergeht. Ich muss morgen gaaaaaaanz viel im Haus erledigen und ungefähr 1387 Telefonate führen. Am Dienstag fliege ich zurück nach Amerika zu meiner Familie. Es wird etwa drei Wochen dauern, bis ..."
Jimin rutscht an Mina ran und schaut ihr direkt in die Augen.
"Aber du kommst doch wieder, oder? Versprichst du mir das? Ich mag noch viel, viel mehr über meine Mama Sumi hören. Und ... und Nuri kennen lernen. Und ... "
Jimin verstummt, er traut sich nicht weiter.
Mina nimmt ihn in die Arme.
"Ganz genau. Nuri hat noch so lange Schule, aber sobald sie damit fertig ist, werde ich mit ihr zusammen wieder herkommen. Dann könnt ihr miteinander spielen. Vielleicht kann sie dir sogar viel besser als ich beschreiben, wie es bei uns in Amerika ist. Wir sagen jetzt Tschüß und versuchen einfach, jeden Tag miteinander zu telefonieren oder zu skypen, wie wäre das? Einmal am Tag sehen oder hören wir uns und verabreden dann immer zusammen mit Mama Jeri, wann wir das am nächsten Tag tun werden."
Auf einmal stehen Jimin Tränen in den Augen. Ganz, ganz fest umarmt er Mina.
"Ich hab dich lieb, Tante Mina. Ich freu mich drauf, dass du bald wieder da bist."
Dann springt er plötzlich auf und rennt in den Garten.
Mina erklärt schnell noch Mama Jeri die Situation.
"Jimin sitzt jetzt vermutlich im Baumhaus. Wir haben uns gerade für drei Wochen verabschiedet, und das ist ihm seltsam schwer gefallen."
Mina geht, und sie hat das Gefühl, dass sie ein Stück von sich zurücklässt im Kinderdorf. Bei Jimin, Sumis wunderbarem Sohn.
Zurück auf dem Anwesen stürzt sie sich in einen zweitägigen Wirbel von Aktivitäten, packt sich einen Koffer, hastet zum Flughafen und hat bei all dem so ihren Biorhythmus außer Kraft gesetzt, dass sie den Jetlag wahrscheinlich kaum merken wird. Sie verschläft den kompletten Flug.
Am Flughafen in Tucson hört sie schon, bevor sie durch die letzte Sperre läuft, den lauten Ruf ihrer Tochter.
"Maaaamaaaaaaa!"
Wenige Sekunden später klemmt Nuri an ihren Beinen.
"Endlich! Ich hab schon gedacht, dass du gar nicht mehr zu uns zurück willst."
Mina begreift sofort, was Mama Jeri am Sonntag gemeint hat. Für Nuri wurde es höchste Eisenbahn. Also lässt sie ihren Koffer los und hebt ihre Tochter hoch. John kommt dazu, gibt ihr ein Küsschen und übernimmt das Gepäck. Gemeinsam laufen sie zum Auto.
Dort setzt sie sich mit Nuri zusammen auf die Rückbank und öffnet ihr Seitenfenster.
"Würde es dir was ausmachen, nicht so schnell zu fahren? Dann kann ich den Weg vom Flughafen nach Hause filmen."
"Ich frag jetzt nicht, wozu."
Gemächlich rollen sie die zehn Kilometer nach Hause, und Mina hält die ganze Zeit ihr Handy aus dem Fenster, filmt Straßen, besondere Häuser und Kreuzungen. Gleichzeitig hält sie ganz fest Nuris Hand und hört ihrer Tochter bei deren Redeschwall zu. Da hat jemand ganz doll Nachholbedarf!
Zu Hause erwarten sie Hunter und Youngjun und begrüßen sie ähnlich stürmisch wie Nuri am Flughafen. Hunter wirkt sehr zufrieden, als er immer im Kreis um sein kleines "Rudel" läuft. Endlich ist seine Welt wieder vollständig!
Mina stellt ihr Handy ganz aus und geht mit den anderen in den Garten. Dort lassen sie sich einfach auf den Rasen plumpsen, und Mina tut für die nächsten Stunden nichts anderes mehr, als zuzuhören und zu erzählen. Dieser Tag gehört ganz ihrer Familie, und sie machen alles miteinander, was zu ihren liebsten Familienritualen gehört. Sie beschließt auch, ihren Eltern nur wenig zu erzählen und ihnen den Brief von Sumi noch nicht zu zeigen. Das alles arbeitet noch in ihr. Es soll in diesen drei Wochen in Ruhe reifen. Sonst müsste sie sich doch sehr ihren Eltern widmen und könnte wieder nicht abschalten.
Als sie nach dem Abendessen schließlich ihren großen Sohn mit einer Umarmung ins Zimmer schickt und Nuri ein Schlaflied singt, fühlt sie sich wieder ganz zu Hause. Dank des Jetlag kann sie jetzt auch noch ein bisschen Zeit mit John verbringen. Er hat ihr die ganze Zeit den Rücken frei gehalten. Diese stillen Abendmomente zu zweit hat sie in den letzten Wochen sehr vermisst.
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22.9.2021 - 16.8.2022
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