Kapitel 6 - "A" wie "Aufgeben oder Aufgabe?"

Mina ist inzwischen ziemlich erleichtert. Kim Jeri schickt ihr abends eine Nachricht, wie es Jimin geht, wenn sie mit ihm über die Tante Mina redet. Sie berichtet auch, dass der Vorstand tief durchgeatmet hat, als sie ihnen von Minas Angebot erzählt hat. Es wird eine außerordentliche Sitzung für Mittwoch Abend angesetzt, damit es schnell gehen kann.
Die Ostertage bleibt Mina still zu Hause. John hilft ihr immer wieder am Telefon, die Ereignisse zu betrachten und Minas Verhalten zu reflektieren. Das bringt sie weiter. Für Montag früh macht sie einen Termin mit ihrem Anwalt bei der wichtigsten Bank, um ihr Spendenversprechen so schnell wie möglich einlösen zu können. Sonntag Abend dann ruft Kim Jeri direkt an. Jimin sei deutlich ruhiger, darum habe sie ihm für morgen Nachmittag den Besuch der Tante angekündigt, damit sie das erste Treffen nicht auf die lange Bank schieben.
Als sie am nächsten Nachmittag grade losfahren will, bekommt sie jedoch eine Nachricht, dass Jimin leider einen sehr schlechten Tag in der Schule hatte und nun sehr verängstigt sei. Sie möge bitte trotzdem kommen, aber sie müsse damit rechnen, dass er das nicht länger als eine halbe Stunde durchhalte. Mina sackt das Herz in die Hose. Sie fühlt sich so hilflos!

Ein bisschen weiche Knie hat Mina, als sie auf die Haustür zugeht. Was erwartet sie jetzt dort oben? Als sie auf den Klingelknopf drückt, hört sie kurz darauf von oben durch ein Fenster mit lautem Gepolter einen Stuhl umkippen. Es dauert eine Weile, bis der Türsummer ertönt und Mina die Treppe hinaufsteigen kann. Oben nimmt sie ein älterer Jugendlicher in Empfang und bringt sie zu Jimins Zimmertür. Mina muss all ihren Mut zusammennehmen, um an die Tür zu klopfen. Die Antwort von innen ist - ein Schrei von Jimin. Ihr schießen die Tränen in die Augen. Dann folgt eine erwachsene Stimme:"Kommen Sie herein, Mrs. Turner."

Mit zitternden Händen öffnet Mina die Tür und findet Kim Jeri auf Jimins Schreibtischstuhl. Der Junge klammert sich an sie und weint laut. Am liebsten möchte sie jetzt sofort wieder wegrennen. Aber in dieser Familie ist schon viel zu viel weggerannt worden. Es reicht! Entschlossen richtet sie sich auf, schaut sich nach einer Sitzgelegenheit um und hockt sich schließlich auf eine Spielkiste mit Deckel. Jimins Bett ist tabu, das muss sein Rückzugsort bleiben.
Eine Weile schweigen sie alle. Nur Jimins Weinen und Schniefen ist zu hören. Mina fühlt sich unwohl in ihrer Haut. So hat wirklich noch nie ein Mensch auf sie reagiert. Wenn sie nicht wüsste, was Jimin alles belastet, sie wäre vermutlich schockiert von seinem Verhalten. Quatsch! Sie IST schockiert.

Schließlich bricht Kim Jeri das Schweigen. Sie begrüßt Mina herzlich und entschuldigt sich für den seltsamen Empfang. Dann wendet sie sich leise an Jimin.
"Jimin, deine Tante ist jetzt da. Sie sitzt da ziemlich unbequem auf deiner Spielkiste. Wenn wir beide rüber gehen zu deinem Bett, dann kann sie sich hier auf den Stuhl setzen. Das ist bequemer und höflicher."
Der ganze Junge bebt und schüttelt heftig den Kopf.
"Also ich gehe jetzt jedenfalls rüber zum Bett. Da kannst du wieder mit mir kuscheln."
Sanft aber bestimmt schiebt Kim Jeri das klammernde Kind von ihrem Schoß und steht auf. Mit Jimin am Bein ist Laufen nicht ganz einfach, aber sie zieht es durch und setzt sich schließlich auf das ordentlich gemachte Bett. Kaum hat sie sich niedergelassen, kriecht Jimin förmlich in sie hinein und dreht wieder seinen Kopf weg. Er wirkt so klein und jung. Dafür sieht sein verweintes Gesicht viel zu erwachsen und ernst aus. Obwohl Mina weiß, dass Jimin nicht reagieren wird, lächelt sie ihn an, weil sie es sonst selbst nicht aushält. Dann wechselt Mina schnell auf den höheren Stuhl und hält dabei immer genug Abstand.

Kim Jeri streicht Jimin ein paar mal beruhigend über den Rücken.
"Jimin, du hast mir vorhin versprochen, dass du mindestens eine halbe Stunde Zeit mit uns verbringst. Jetzt grade bist du aber nur verkrochen. Deine Tante wird dich heute nicht mitnehmen und auch die nächsten Male nicht. Aber ich möchte, dass du dich umdrehst und ordentlich hinsetzt. Und ich möchte, dass du dich selbst vorstellst."
Wieder wird der kleine Kopf heftig geschüttelt. Aber Jimin scheint am Tonfall gehört zu haben, dass weiterer Widerstand zwecklos ist. In Mina drin tut das alles furchtbar weh. Der Moment, in dem sie ihren Neffen wird in die Arme schließen dürfen, rückt in immer weitere Ferne.

Jimin reißt sich zusammen und rutscht seitlich von Kim Jeris Schoß auf sein Bett. Wie mit Zentnerlast beladen dreht er sich ganz langsam um. Und noch eine Weile dauert es, bis er den Kopf hebt und sie anschaut. Beim Anblick dieser flehenden Augen möchte Mina am liebsten losheulen. Noch nie hat sie etwas so Trauriges gesehen wie diesen Jungen.
Dann passiert etwas Erstaunliches. Jimin hebt den Kopf noch ein bisschen mehr und schaut sie grade an.
"Ich heiße Jimin. Und Sie sehen eigentlich ganz nett aus. Aber ich hab trotzdem Angst vor Ihnen."
Rumms klappt die Auster wieder zu. Mina und Kim Jeri wechseln einen erstaunten Blick. Das war mutig! Mina unterdrückt die Tränen und schöpft neue Hoffnung.
"Und ich bin Mina Turner, die Schwester von deiner Mama Sumi. Ich bin ganz unglücklich, dass ich nicht viel früher erfahren habe, dass Sumi ein Baby bekommen hat. Jetzt möchte ich dich kennen lernen. Und ich möchte, dass du bestimmst, wo wir dabei sind, was wir machen und wie lange wir Zeit miteinander verbringen. Es fühlt sich für mich ganz schrecklich an, dass du Angst vor mir hast. Aber ich werde geduldig warten, bis deine Angst immer kleiner wird."

Keine Antwort. Jimin wendet sich an seine Ziehmutter.
"Mama Jeri, wann ist die halbe Stunde rum?"
"Noch nicht, mein Lieber. Und ich finde diese Frage ausgesprochen unhöflich. Das möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich schaue für dich auf die Uhr, du musst dich überhaupt nicht darum kümmern."
Jimin nickt. Dann ist es wieder sehr still. Mina nimmt einen neuen Anlauf.
"Möchtest du, dass ich dir etwas über mich erzähle? Vielleicht hast du ja Fragen an mich."
Kopfschütteln.
"Soll ich dir etwas über deine Mama erzählen?"
"Über Mama Jeri weiß ich schon alles."
Das bringt das Fass zum Überlaufen. Mina schießen die Tränen aus den Augen. Hilflos blickt sie Kim Jeri an, die auch völlig entsetzt ist.
"Jimin! Es ist in Ordnung, dass du Angst hast. Aber das war sehr gemein. Schau, was du angerichtet hast. Das willst du für dich selbst auch nicht."
Erst schüttelt Jimin wieder den Kopf. Dann dreht er sich zu Mina um und macht große, staunende Augen.

"W... warum ... Ich ... w... warum weinen Sie?"
Mina versucht, sich zu fassen und holt sich ein Taschentuch aus der Handtasche. Sie schnäuzt sich die Nase und schaut Jimin dann direkt an.
"Weil ich deine Mama Sumi sehr, sehr lieb gehabt habe. Und ich möchte dich lieb haben dürfen. Es tut mir weh, dass du das wohl nicht möchtest."
Jimins Augen werden noch größer und noch runder. Ungläubig schüttelt er den Kopf, und Mina fängt wieder an zu weinen. Sie hat nicht gewusst, dass es etwas gibt, das so weh tut. Es fühlt sich an, als würde ihr eines ihrer eigenen Kinder weggenommen.

Kim Jeri schaut auf ihre Uhr.
"Jimin, die halbe Stunde ist um. Möchtest du dich noch weiter mit unserem Gast unterhalten?"
Kaum ist der Satz zu Ende gesprochen, springt Jimin von ihrem Schoß.
"Darf ich jetzt ins Baumhaus?"
Mina schlägt die Hände vors Gesicht, Kim Jeri seufzt.
"Ja, darfst du. Stoooop! Du wirst dich ordentlich verabschieden, dich sehr warm anziehen und von alleine wieder reinkommen, direkt zu mir, bevor es ganz dunkel ist."
Unschlüssig knibbelt Jimin an seinen Fingern und schielt zu Mina rüber. Die hält einfach nur die Luft an und wartet ab. Zögernd macht Jimin einen Schritt auf sie zu - und dann gleich wieder zurück. Mina kann kaum normal atmen und schielt zwischen ihren Fingern durch zu dem Jungen. Verwirrung und Verletzung brennen in ihrer Seele. Jimin holt tief Luft, macht noch einen Schritt vorwärts und rattert die Worte runter, die er sich wohl grade zurecht gelegt hat.
"Entschuldigung, dass ich Angst vor Ihnen habe. Bis zum nächsten Mal!"
Bevor Kim Jeri reagieren kann, ist Jimin zur Tür raus und den Flur entlang gerannt.

Die Gruppenmutter macht leise die Tür wieder zu und geht zu der weinenden Mina. Sie nimmt sie einfach in die Arme und harrt mit ihr aus.
Mina fühlt sich neben dem Schmerz doch auch getröstet. Jimin wird hier nicht in Watte gepackt. Er darf Angst haben, das versteht sie ja sehr gut. Aber er muss dennoch dabei höflich bleiben, da ist seine Ziehmutter sehr strikt. Überhaupt gefällt ihr alles, was sie hier sieht und erlebt. Langsam kann sie sich beruhigen und etwas aufrechter hinsetzen.
"Wollen wir rüber gehen in mein Büro?"
Mina nickt und rappelt sich auf.
"Danke! ... Bei Ihnen möchte ich auch gerne Kind sein. Sie machen das alles so wunderbar."
Kim Jeri lächelt ihr aufmunternd zu und geht voraus zu ihrem Büro. Mina dreht sich in der Zimmertür noch einmal um und schaut zutiefst verunsichert zurück.

Bei einer großen Kanne Tee verdaut Mina gemeinsam mit Kim Jeri, was da grade alles passiert ist. Mina gibt ihr die Akte zurück, und sie unterhalten sich lange über Jimin und sein bisher ziemlich verkorkstes Leben.
Ab und zu klopft eines der Kinder, weil es eine Frage oder Bitte hat, ansonsten sind sie ungestört.
"Haben Sie jetzt nicht ganz viel mit der Gruppe zu tun?"
"Eigentlich schon, aber Selbständigkeit wird hier groß geschrieben. Die Kinder nehmen sich als Familie, als solidarische Gemeinschaft wahr. Einander zu helfen, ist selbstverständlich. Mich zu entlasten, wenn mich meine Tätigkeit als Leiterin beschäftigt, gehört zu den normalen Aufgaben der Großen.
Schauen Sie nicht so mutlos. Ich hatte gestern Abend die Wahl zwischen 'Jimin gut vorbereiten' oder 'Jimin einen nervösen Vormittag ersparen'. Ich habe mich offensichtlich für die falsche Option entschieden. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, wie wir das in Zukunft handhaben wollen. Und wenn Jimin gleich wieder reinkommt, mute ich ihm zu, dass wir eine gemeinsame Entscheidung für zukünftige Treffen fällen."
Mina staunt und schöpft wieder Hoffnung.
"Meinen Sie, er lässt das mit sich machen?"
"Im Zusammenhang mit Menschen ist nichts sicher. Das haben wir ja grade erlebt. Aber Jimin kennt meine Toleranzgrenze, und ich kenne seine Schmerzgrenze. Ich hoffe, dass ich das gleich gut steuern kann."

Als nächstes berichtet Mina ausführlich von ihrem Vormittag bei der Bank. Ihre Großmutter hatte das Familienvermögen weitgehend angelegt. Aber sie hatte auch immer eine erstaunlich hohe Summe einfach so auf einem "Haushaltskonto" rumliegen. Und diese bewegliche Masse ist so hoch, dass die Unterstützung des Heimes von diesem Konto locker mit drin ist.
"Wenn Ihr Vereinsvorstand alles weitere vorbereitet, können wir bald eine schriftliche Vereinbarung treffen, oder?"
"Der Notar sitzt dran. Ich denke, dass wir Ihnen schon morgen die Unterlagen zur Prüfung schicken können. Sie ahnen nicht, was für eine Last Sie uns mit Ihrer Großzügigkeit von den Schultern nehmen. Die Kinder werden es erst am Freitag erfahren, damit sie sich übers Wochenende wieder beruhigen können. Es erleichtert mich sehr, dass ich ihnen mit der schlimmen Botschaft auch gleich die Entwarnung geben darf. Wir können uns für sie alle Zeit lassen, um nach der besten Lösung zu suchen, weil die Finanzierung gesichert ist bis August."
"Oh, gerne auch darüber hinaus."
"Das wäre schön, ist aber leider nicht machbar, denn inzwischen haben wir auch die Kündigung für das Gebäude und das Gelände erhalten. Am 31.8. ist definitiv Schluss. Und ein halbes Jahr später steht hier schon eine hochmoderne, luxuriöse Altenwohnanlage. Damit lässt sich inzwischen mehr Geld verdienen."
Kim Jeri schaut für einen winzigen Moment verbittert aus, hat sich aber schnell wieder im Griff.
"Luxus statt Kinderlachen."

Draußen fängt es an zu dämmern, und kurz darauf hören sie Kinderschritte auf dem Flur, die vor der Bürotür anhalten. Jimin klopft an und betritt das Büro. Als er Mina sieht, macht er einen großen Satz zur Seite und will schon wieder weglaufen, aber Kim Jeri hindert ihn daran.
"Jimin! Bleib hier. Komm bitte zu mir, dir passiert nichts."
Mina fühlt sich schon wieder wie ein Monster, als Jimin einen großen Bogen um sie macht und zu seiner Ziehmutter eilt.
"So, mein lieber Jimin. Konntest du dich draußen etwas beruhigen?"
Jimin nickt und schielt misstrauisch zu Mina.
"Gut, das freut mich. Dann kannst du ja jetzt mit beraten, wie wir das in Zukunft besser hinkriegen. Denn so wie vorhin kanns nicht bleiben."
Sanft aber bestimmt steuert Kim Jeri das Gespräch und bringt Jimin schließlich dazu, einer Vereinbarung zuzustimmen, die ihm die Nervosität nehmen soll. Denn wenn er weiß, dass Mina ab jetzt jeden Nachmittag nach dem Teetrinken herkommen wird, dann gibt es hoffentlich keine so große Aufregung mehr in der Schule wie heute. Außerdem sollen die Treffen jeden Tag etwas länger dauern.
"Und jetzt hast du glaube ich Tischdienst fürs Abendessen heute. Also ab mit dir in die Küche."
Jimin dreht sich langsam zu Mina um und sagt ganz leise:"... T... ... Tschüß bis morgen."
Dann geht er um Mina drumrum aus dem Büro und steuert die Küche an.

Eine Weile ist es ganz still im Büro. Mina fühlt sich so erschöpft, als wäre sie einen Marathon gelaufen. So schwer hatte sie sich das nun wirklich nicht vorgestellt. Was für eine Gefühlsachterbahn!
"Kopf hoch, Mrs. Turner. Da ist noch nicht aller Tage Abend. Wir haben viel Zeit bis zur Schließung. Ich schlage vor, dass Sie jetzt nach Hause fahren, mit ihrem Mann telefonieren und sich dann irgendwie ablenken. Das war heute sehr anstrengend."
Mina nickt und verabschiedet sich. Das Telefonat mit John tut gut. Aber das mit dem Ablenken, das funktioniert überhaupt nicht. Unaufhörlich kreisen ihre Gedanken um Jimin, während sie die Kleidung ihrer Großmutter sichtet und sortiert nach Müll, Altkleider, Oxfam oder - in ganz seltenen Fällen - behalten. Zudem muss sie dabei an jeden Kragen, in jede Tasche schauen, ob irgendwo noch eine Brosche dran steckt oder Geld gebunkert ist. Neben ihr wächst ein kleiner Haufen von Wertgegenständen und Tand. Totmüde fällt sie schließlich ins Bett.

Am Dienstag Vormittag ist Mina zum Glück beschäftigt. Die Auktionshäuser und Antiquare haben inzwischen eine ganze Reihe von Gutachten und Preiseinschätzungen abgeben. Alle entsprechenden Stücke sind in zwei Räume gebracht worden. Dennoch sind Unmengen von Büchern, Hausrat und anderem übrig geblieben. Heute kommen nun die nächsten Fachleute und sichten den großen verbliebenen Rest.
Mina will sich langsam von Luxus bis wertlos durcharbeiten, damit am Ende alles Unverkäufliche in irgendwelchen Alt-irgendwas-Sammlungen landen kann und das Haus wirklich leer ist. Darum steht sie früh auf und geht in die Bibliothek. Staub tanzt im Licht, das durch das hohe Fenster scheint. Jedes einzelne Buch zieht sie aus dem Regal, schaut nach einer Widmung oder einem Begleitbrief, findet manchmal auch einen Kassenbon als Lesezeichen, ein gesticktes Taschentuch, Rechnungen, Umschläge mit Geld, ein altes, sorgfältig abgelöstes Weinflaschenettikett. Später hilft ihr ein Zimmermädchen dabei. Sie staunen nicht schlecht über ihre Fundstücke. Was man so alles in ein Buch stecken und dort vergessen kann!
Allmählich wandern Unmengen von Büchern von einem Regal ins nächste. Als dann die Fachleute eintreffen, können sie sofort aussuchen und eine ganze Menge einpacken. Mina ist froh über jede Schublade, jedes Regal, jeden Raum, der leer wird und sie ihrem Ziel näher bringt.

Der Anrichteraum neben der Küche ist gefüllt mit alten und noch älteren Gegenständen, die Mina zum Teil noch nie gesehen hat. Die Köchin muss ihr manchmal erklären, wozu man so einen Gegenstand früher benutzt hat. Allmählich hat Mina den Verdacht, sie hätte einfach aus der ganzen vollgestopften Hütte ein Museum für Alltagskunst des zwanzigsten Jahrhunderts machen und Eintritt nehmen sollen. Bis zum Mittag sind Mina und ihre Helferin über und über mit Staub und Spinnweben bedeckt und reif für die Dusche. Das Haus ist wieder ein ganzes Stück leerer geworden, und nebenbei war Mina abgelenkt.

Nach dem Mittagessen geht sie hoch in Sumis Zimmer. Sie schaut sich um und fragt sich, ob es hier irgendetwas gibt, das sie Jimin von seiner Mutter mitbringen könnte. Im Regal ist ein ganzes Fach voller alter Kuscheltiere, die Sumi schon beim Umzug in die USA zurückgelassen hatte. Mina fällt das Schaf ins Auge, mit dem Sumi als Kind immer gespielt hat. Es ist eine aus echter Wolle gestrickte Handpuppe. Hatte Jimin nicht ein Schäfchen im Bett sitzen? Ihrer Intuition gehorchend, nimmt sie die Handpuppe an sich. Gleich daneben steht eine alte Schneekugel, in der man einen winzigen koreanischen Palast zwischen Bäumen sieht. Das besondere an der Schneekugel ist, dass man sie nicht nur schütteln und es schneien lassen kann. Im Boden ist außerdem eine Batterie eingelassen, mit der man das Haus von innen beleuchten kann. Die Batterie ist natürlich leer nach so langer Zeit, aber Mina nimmt auch die Kugel an sich in der Hoffnung, sie wieder in Betrieb setzen zu können.
Sie fährt etwas früher los und steuert einen Elektroladen an. Leider funktioniert das Licht auch mit frischer Batterie und Glühbirne nicht. Mina muss also die Schneekugel da lassen zur Reparatur. Aber immerhin hat sie das Schaf. Vielleicht kommt sie ja damit in Kontakt zu Jimin. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Als Mina auf das Haus zugeht, schaut sie an der Fassade hoch und überlegt, welches Fenster wohl zu Jimins Zimmer gehören könnte. Es liegt jedenfalls zur Straße, so viel hat sie gestern gesehen. Als ihr Blick wieder nach unten zur Haustür wandert, nimmt sie am Treppenfenster eine Bewegung wahr. Ihr Herz macht einen kleinen Hoffnungshüpfer. Ob das Jimin war? Ob da wohl jemand neugierig ist? Hoffentlich! Sie wünscht es sich so sehr.
Heute wird Mina von Kim Jeri begrüßt. Auch das spricht dafür, dass das da eben am Fenster Jimin war. Sie gehen zu Jimins Zimmer, wo der Junge auf seinem Bett ganz an der Wand sitzt und versucht, tapfer und stark auszusehen. Der Anblick tut weh. Beim Schreibtisch steht nun ein zweiter Stuhl, auf den sich zu Jimins offensichtlichem Entsetzen nun Kim Jeri niederlässt, Mina Tee anbietet und Jimin fragt, ob er Saft haben möchte. Der nickt erst, aber dann weiten sich seine Augen, er schüttelt den Kopf, wird ganz klein dabei vor Angst. Die beiden kennen sich wirklich gut. Auch Mina durchschaut das, denn um den Saft zu bekommen, müsste er zu den beiden Frauen hingehen. Jimin bleibt im Bett - die Angst hat gesiegt.

Das ist ihre Gelegenheit. Mina gehorcht wieder ihrer Intuition, holt das Schaf aus der Handtasche, stülpt es sich auf die Hand und spricht einfach mit dem Tier.
"Hallo, Mama Schaf. Wann bist du denn heimlich in meine Tasche gehüpft? Du gehörst doch in Sumis Bett."
Kim Jeri schaltet und antwortet als Schaf. Mina könnte jubeln vor Freude.
"Hallo, Mina. Ne, ich konnte da nicht hocken bleiben. Ich wollte doch auch den Jungen kennen lernen. Hat er auch ein Schaf im Bett?"
"Du, das weiß ich gar nicht. Aber du kannst ihn ja selbst fragen."
Minas Hand dreht sich zum Bett, von wo aus Jimin das Mama-Schaf mit angehaltenem Atem beobachtet. Kim Jeri spielt weiter mit und rattert ganz viele Fragen runter.
"Hallo du! Ich bin Mama Schaf. Und wer bist du, und hast du auch ein Schaf, und warum sitzt du im Bett und schaust mich so komisch an, und warum hast du dir deinen Saft nicht geholt? Hast du Angst, dass ich dich beiße?"
Die letzte Frage kann Jimin am besten beantworten. Stumm nickt er Mama Schaf zu.
"Aber Schafe beißen doch nicht. Schafe fressen nur Gras, sonst bekommen sie Bauchweh. Ich will kein Bauchweh. Also beiße ich nicht. Also - hast du nun ein Schaf?"
Wieder nickt Jimin. Und seine Hand tastet unter der Bettdecke rauf zum Kopfkissen.
"Au ja, au ja, au ja. Zeig mal, ich möchte so gern dein Schaf sehen. Ist das auch so weich wie ich? Darf ich mal dran schnuppern?"

Jimins Hand greift etwas und wandert damit zurück zu ihm. Zögernd zieht er sein kleines Kuschelschaf unter der Decke hervor und presst es an sich. Gleichzeitig kann er seine Verblüffung über diese seltsame letzte Frage nicht verbergen.
"Schnuppern? Warum willst du daran schnuppern?"
"Wenn ich dein Schaf rieche, dann weiß ich auch, wie du riechst, und dann weiß ich, ob du nett bist. Schafe machen das so!"
Witzige Idee! Jetzt ist Mina gespannt. Wird Jimin zulassen, dass ihre Hand mit dem Schaf näher kommt? Jimin hält sein Schaf jetzt so, dass es über seinen angewinkelten Arm lugt, und wackelt mit dem Kopf hin und her.
"Nö. Vielleicht beißt du doch."
Intuitiv schiebt Mina die "Hände" vom Schaf vor dessen Gesicht und tut so, als ob es weint.
"Uhuhuhuuuu. Jetzt war ich so lange allein. Und jetzt ist da endlich noch ein Schaf. Und jetzt darf ich nicht dran schnuppern! Uhuhuuuu. Dann können wir doch gar nicht zusammen spielen. Wenn Schafe spielen wollen, müssen sie erst schnuppern!"
Mama Schaf verkriecht sich jetzt hinter Minas Arm. Jimin dagegen schaut sein Schaf an und ringt mit sich. Tausend Gefühle jagen über sein Gesicht. Die Entscheidung ist so schwer! Er lässt sein Kuscheltier für sich reden.
"Aber wenn das große Schaf da doch beißt?"
Kim Jeri antwortet, bevor Jimin es tun kann, und Mina spielt mit.
"Hei, kleines Schaf. Hast du Jimin schon mal gebissen, oder warum hat er davor solche Angst?"
Jetzt schaut Jimin zu Minas Handpuppe.
"Nö! Mein Schaf beißt doch nicht!"
"Juchuuuu! Dann können wir ja schnuppern. Komm her!"
"Nö! Du hast längere Beine. Komm du doch."

Mina hält den Atem an. Dann rutscht sie langsam vom Stuhl auf den Boden, lässt ihre Hand zum Bett hoppeln und achtet darauf, dass die Gruppenmutter sehen kann, was das Schaf tut. Schließlich liegt Mina platt auf dem Boden und lässt das Mama-Schaf vor Jimins Bett auf und ab hüpfen.
"Ich komm da nicht hoch. Das ist dooooof."
Wieder ringt Jimin mit sich.
"Soll ich zu dir runter kommen?"
Vorsichtig legt auch er sich auf den Bauch, schielt über die Kante vom Bett und wackelt dort mit dem kleinen Schaf.
"Au jaaaaaaa! Wenn du runter kommst, können wir schnuppern. Und dann können wir spielen. Und das ist tollllll!"
Jimin scheint jetzt vergessen zu haben, dass an dem großen Schaf noch Mina hängt. Er robbt über sein Bett, bis er gut nach unten schauen kann, und lässt seinen einen Arm vom Bett hängen, während das Schaf in der anderen Hand daran runterrutscht.
"Juchuuuu! Rutsche!"

"Au ja, au ja - darf ich auch mal rutschen?"
"Kannst du das denn?"
Jimins Schaf steht nun vor Minas Schaf und klingt doch ziemlich skeptisch.
Dafür lässt Kim Jeri die ganze Empörung von Mama Schaf durchklingen.
"Natürlich kann ich rutschen. Ich bin doch schon ein Mama-Schaf."
"Na, dann zeigs mir doch."

Jetzt kommt der Test, denn um das Handpuppenschaf an Jimins Arm raufklettern und runter rutschen lassen zu können, muss Mina noch ein ganzes Stück auf Jimin zu rutschen.
Erstmal tut sie also ratlos und schaut mit dem Schaf sich selbst an.
"Kannst du mich da hinbringen?"
Mina antwortet mit ihrer eigenen Stimme.
"Das ist schwierig. Dafür muss ich hier ganz schön viel auf dem Boden rumrutschen, das ist dir klar, oder?"
"Jaaaaa."
Minas Schafhand hopst auf der Stelle. Mina seufzt.
"Was tut man nicht alles für sein Lieblingsschaf."
Dann kriecht sie vorsichtig ein ganzes Stück näher, bis sie mit der Schafhand Jimins Arm erreichen kann. Erst schnuppert Mama Schaf an dem kleinen Schaf. Dann schnuppert Mama Schaf an Jimins Hand.
"Ist das auch sicher? Nicht, dass der mich runterschmeißt."
Jimins Schaf ist empört.
"Mein Jimin schmeißt keine Schafe runter. Stell dich nicht so an!"

Jimins Schafhand schubst Minas Schafhand, und die klettert ganz langsam und umständlich los. Bloß nicht Jimin ansehen, dann könnte er "aufwachen" und zurückschrecken. Die Haltung ist furchtbar unbequem, aber das ist Mina jetzt egal.
"Das ist so ... steil. Das schaff ich nicht."
Mina dreht ihre Hand irgendwie rum und rutscht wieder runter. Kurz vor Schluss lässt sie die Hand zur Seite vom Arm purzeln.
"Auauauauauauaaaaa!"
Schnell ist Jimins Hand da, und er selbst beugt sich noch ein bisschen mehr übers Bett.
"Hast du dir weh getan? Soll ich dir helfen?"
"Ne, geht schon. Uff. Nur hier die Beule."
Mina zeigt mit der einen "Hand" auf die Stirn vom Schaf.
"Soll ich pusten?"
"Au jaaaa. Pusten!"
Mina bleibt fast das Herz stehen. Jimin stellt sein Schaf senkrecht vor ihre Hand und lässt das kleine das große streicheln. Dann rutscht er noch weiter vor und pustet dem großen Schaf auf die Stirn. Ihre Köpfe sind jetzt nicht mal mehr einen halben Meter voneinander entfernt.
"Ohhhh, das tut gut. Danke!"

Ganz still stehen die beiden Schafe voreinander. Kein Geräusch ist im Raum zu hören, und Jimin scheint zu realisieren, was er da grade tut. Kim Jeri kann ihn aber kurz nochmal ablenken.
"Duuuu? Soll ich dir deinen Saft bringen? Du hattest doch Durst vorhin. Oder wollen wir zusammen hingehen?"
Auf einmal rutscht Jimin ganz vom Bett und krabbelt mit seinem Schaf zu Kim Jeri. Die schenkt Saft in ein Glas ein und stellt es neben sich auf den Boden. Mit ziemlichen Verrenkungen krabbelt Mina in dieselbe Richtung und versucht dabei, klein zu bleiben. Als Jimin bei den beiden Stühlen angekommen ist, hockt er sich auf die Knie, schnappt sich das Glas und trinkt. Dann stellt er das Glas zurück.
Plötzlich registriert er Mina nahe bei sich und rutscht schnell zurück zum Bett. Aber er weint nicht, und er schreit nicht. Mina lässt ihr Schaf winken.
"Tschühüüüüüß! Bis zum nächsten Mal!"

Mina richtet sich auf, lässt das große Schaf hinter ihren Rücken hoppeln und setzt sich schließlich wieder auf ihren Stuhl. Verblüfft von sich selbst winkt auch Jimin mit seinem Schaf, bevor er wieder auf sein Bett klettert und Mina mit großen Augen anschaut. Die Angst ist aus seinem Gesicht verschwunden.
Kim Jeri schaut Mina ins Gesicht und fängt leise an zu lachen. Mina wendet sich ihr zu mit fragendem Gesichtsausdruck. Die Ältere zeichnet ein Lächeln in ihr eigenes Gesicht, und da spürt Mina, dass sie selbst strahlt von einem Ohr bis zum anderen.

Kim Jeri richtet sich nun mit ihrer normalen Stimme an Jimin.
"Ich freue mich grade so über dich, Jimin. Ihr habt jetzt die ganze Zeit für heute verspielt, und du hast nicht einmal nach der Uhr gefragt. Hast du denn jetzt noch Hausaufgaben, oder magst du vielleicht ein bisschen nach draußen gehen?"
Scheu nickt Jimin, setzt sein kleines Schaf sorgfältig auf sein Kissen und rutscht vom Bett.
Ganz kurz winkt er in Minas Richtung und flüstert.
"Tschüß, Mama Schaf. ... Tschüß, ... Tante Mina."
Dann ist er weg.

Die beiden Frauen schauen sich lange an. Mina findet schließlich zuerst die Sprache wieder.
"Was war das denn? War das dasselbe Kind wie gestern?"
Kim Jeri lacht wieder.
"Sie können sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Dieses Hand-Schaf war eine geniale Idee. Sie sind ja eine geborene Puppenspielerin!"
"Eigentlich ... Das Schaf hat meiner Schwester gehört. Ich habe es rein intuitiv eingesteckt. Aber dass es so wunderbar eine Brücke zu Jimin schlagen würde - damit habe ich selbst nicht gerechnet."
Mina hat das Gefühl, jemand hätte alle Fenster ganz weit geöffnet. Da ist Licht, da ist die Hoffnung, dass Jimin und sie eine Chance haben. Und das fühlt sich herrlich leicht an.

"Wollen wir nochmal kurz sachlich werden?"
Nur mühsam reißen sich beide von dem schönen Moment los.
"Wird Ihr Mann morgen mitkommen?"
"Ja, sicher. Ich bringe morgen auch alle Papiere von der Bank mit. Der Vertrag, den Sie mir gemailt haben, ist schon beim Anwalt. Er wird mir morgen Rückmeldung geben. Das bringe ich dann auch mit."
...
"... Heute bin ich so glücklich. Das war schön!"
"Ja, das war es. Dann werde ich Jimin darauf vorbereiten, dass Mama Schaf morgen auch noch einen Onkel mitbringt. Packen Sie sich heute nicht mehr viel oben drauf. Genießen Sie einfach die Erinnerung an diesen schönen Nachmittag."

Wie auf Wolken schwebt Mina nach Hause. John ist jetzt schon auf dem Weg zum Flughafen. Sie schickt ihm eine lange Sprachnachricht, weil ihre ganze Freude raus muss. Und dann geht sie einfach ins Bett. Mina schläft tief und fest in dieser Nacht. Sie hat wieder Hoffnung.
Am nächsten Morgen will Mina ganz früh aufstehen. John landet in den frühen Morgenstunden, und wenn er schnell auscheckt, kommen sie vor dem großen Berufsverkehr nach Hause. Es ist noch dunkel draußen, als sie sich auf den Weg macht. Sie ist so froh, dass sie für ein paar Tage nicht allein ist mit dieser Gefühlsachterbahn.
John kommt ihr mit einem Lächeln entgegen. Bald sind sie zurück beim Anwesen. Sie frühstücken in Ruhe, dann schaut sich John an, was Mina schon alles geschafft hat, und schließlich spazieren sie durch den großen Park. Mina erzählt von Jimin.

Vor der Fahrt zum Kinderdorf macht John ein Nickerchen, damit er abends länger durchhält.
Mina ist heute entspannter, als sie mit ihrem Mann die Treppe raufgeht. Oben an der Tür steht Jimin. Als er aber den großen Amerikaner neben seiner Tante sieht, nimmt er doch reißaus. Und in seinem Zimmer bietet sich das alte Bild. Kim Jeri hat heute drei Stühle bereitgestellt und begrüßt John sehr freundlich. Aber Jimin ist unter seine Bettdecke gekrochen und weint. Selbst die Gruppenmutter schafft es nur, dass er einmal kurz den Kopf rausstreckt und guten Tag sagt. Und schwupp ist er wieder verschwunden.

John setzt sich mit seinem Stuhl hinter die beiden Frauen. Mina holt das Mama-Schaf heraus. Sie wollen versuchen, ob es heute wieder klappt.
"Duuuuuuu, Mina? Wo ist denn das kleine Schaf? Ich will spielen!"
"Das weiß ich auch nicht. Ich glaube, da müssen wir Jimin fragen. Der weiß das bestimmt."
Die Bettdecke wackelt heftig, weil Jimin wahrscheinlich den Kopf schüttelt wie immer, wenn er kein Wort rausbringt.
Mina hockt sich auf den Boden vorm Bett und lässt Mama Schaf am Rand auf der Decke hüpfen.
"Kleines Schaaaaf, kleines Schaf, bist du daaaa?"
Jimin hört auf zu weinen, sonst passiert nichts.
"Kleines Schaf, komm raus, ich will mit dir spielen."
Neben der großen Beule, unter der Jimins Kopf ist, bewegt sich etwas. Ganz langsam wandert eine kleine Beule zum Rand. Aber das kleine Schaf kommt nicht ganz raus.

"Komm doch zu mir, da draußen ist es mir zu gefährlich."
"Gefährlich? Was ist hier denn gefährlich? Muss ich mich in Acht nehmen?"
"Naja, da ist auf einmal ein großer Berg in meinem Zimmer. Und der könnte auf dich drauffallen. Oder auf mich. Komm schnell und versteck dich hier!"
"Huch. Berg, bleib weg! Kleines Schaf, wo ist denn der Eingang zu deiner Höhle?"
Nun schiebt sich Jimins Hand mit dem Plüschtier ganz an den Rand vom Bett und wackelt dort unter der Decke.
Mina gibt sich ganz viel Mühe, möglichst umständlich und ungeschickt unter die Decke zu krabbeln, denn eigentlich will sie ja, dass Jimin sich raustraut. Der wird langsam ungeduldig. Also lugt jetzt doch das kleine Schaf heraus.
"Komm schnell!"
"Ist es dunkel darinnen? Ich ... ich ... hab nämlich A... Angst vorm Dunklen. Dann muss ich immer weinen."

Das kleine Schaf kommt ganz raus.
"Seit wann haben denn Mamas Angst vorm Dunklen?"
"Schon immer! Auch Mamas können Angst haben. Sogar Papas können Angst haben. Angst haben ist doch normal. Du hast ja auch Angst vor dem Berg, obwohl der ganz hinten sitzt und gaaaaanz freundlich kuckt."
Das kleine Schaf steht ganz still.
Dann fängt der Deckenhaufen an zu beben, und schließlich steckt Jimin hinten an der Wand seinen Kopf nur so weit raus, dass er so grade eben über die Kante lunzen kann. Schweigend mustert er die drei Erwachsenen mit gerunzelter Stirn.
"Mama Jeri? Darf ich dich was fragen?"
"Natürlich darfst du, Jimin. Dafür bin ich da."
"W... warum ... ist der Onkel so groß? Und warum hat er gar keine normalen Augen? U... und was ist, wenn er mich haut?"

Kurz wechseln Kim Jeri und John einen Blick. Mina hält den Atem an - und John antwortet Jimin direkt. Ganz leise, ruhig und klar.
"Jimin?"
Schwupp ist das Kind verschwunden.
"Ich heiße Onkel John, und ich bin der Ehemann von Tante Mina. Tante Mina hat mir in den letzten Tagen vorgeschwärmt, was für ein tolles Kerlchen du bist. Deshalb bin ich hergeflogen. Ich kann das alles gar nicht glauben, WIE toll du sein sollst.
Ich habe keine asiatischen Vorfahren so wie ihr alle. Ich komme aus Amerika, wo es alle möglichen Menschen durcheinander gibt. Ich habe eben andere Augen, und ich habe auch leider ganz lange nicht aufgehört zu wachsen. Beim Basketballspielen ist das toll, da komme ich besser an den Korb. Aber wenn mir was runtergefallen ist, dann muss ich meine langen Beine zusammenfalten wie eine Giraffe, damit ich auf dem Boden danach suchen kann. Da hast du es dann leichter. Aber so klein bist du doch gar nicht. Da steckt ganz schön viel Jimin unter der Decke."
Die großen Kulleraugen schielen wieder über den Rand der Decke, und jetzt schüttelt Jimin den Kopf.
"Ich ... ich bin ganz klein. Alle anderen sind größer. Und sie lachen mich deshalb aus. Das ist doof."

"Na, unsere kleine Tochter ist bestimmt kleiner als du."
John hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da ist Jimin mit einem Schrei aus dem Bett und aus der Tür geschossen.
"Himmel, ist der schnell!"
"Ja, mein Lieber, das ist er. Und du scheinst müder zu sein, als du zugeben willst. Jimin weiß noch nichts von unseren Kindern und dem Hund. Hast du das vergessen?"
John schaut Mina schuldbewusst an.
"Sieht so aus. Ach, Mist. Ich hatte ihn fast."

Mina und Kim Jeri tauschen noch ein paar Papiere aus wegen der Spende, für die Sitzung heute Abend. Mina zögert einen Moment lang. Dann macht sie Jimins Bett und setzt beide Schafe nebeneinander auf das Kopfkissen. Die Gruppenmutter bittet darum, dass Mina morgen nochmal allein kommt, damit wenigstens dieser Faden nicht abreißt. Mina und John willigen ein, dann fahren die beiden still und nachdenklich nach Hause. Mina weint sich in den Schlaf.
An den nächsten beiden Tagen fährt Mina wieder alleine hin. Jimin hat sich halb tot gefreut über Mama Schaf, und die beiden spielen ausdauernd miteinander. Nach John oder der kleinen Tochter fragt Jimin nicht, und Mina baut erstmal ihr eigenes Verhältnis zu ihm aus.

Am Samstag kommen wieder beide. Sie wollen versuchen, Jimin zum Eisessen einzuladen. Aber da ist überhaupt nichts zu wollen. Jimin macht dicht und verkriecht sich. Mina und John warten ab. Erst nach einer ganzen Weile fängt Jimin an zu reden.
"Wie alt ist die Tochter? Und ist die lieb, oder ist die eine Zicke? Und habt ihr vielleicht auch noch einen Sohn? Und einen Hund? Ich hab Angst vor kleinen Mädchen, großen Jungs und schlimmen Hunden. Da geh ich niiieeeeeee hin!"
Mina sitzt wieder direkt neben Jimins Bett. Sie schließt kurz die Augen, holt tief Luft und versucht dann, Jimin von der ganzen Familie zu erzählen. Jimin hört zu, aber er ist nicht aufnahmefähig. Sein Gesicht ist gezeichnet von Angst. Und schließlich flüstert er:"Das kann ich nicht. Das ist zu gefährlich. Ich kann das nicht."
Dem Jungen stehen die Tränen in den Augen, und Mina möchte am liebsten mitweinen. So wird das nie was!

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11.9.2021    -    16.8.2022

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