Kapitel 4 - "T" wie "Treue"
Mina macht sich auf die Suche. Sie geht zur Polizei und bittet um die Suchakte von damals. Sie geht zu dem Nephrologen, klappert alle Krankenhäuser ab, scheucht das halbe Jugendamt in die Archive - und das ganze wieder zurück, denn oft wird sie genauso vertröstet wie ihre Eltern damals.
"Ihre Schwester war erwachsen. Wir haben keine Handhabe, das unterliegt dem Arztgeheimnis, wir können leider nicht, ... bla bla bla."
Mina lässt nicht locker. Und als sie dem Nierenarzt zum dritten Mal die Bude einrennt, gibt der schließlich klein bei. Er führt nicht nur diese Praxis, er ist auch Belegarzt in dem Krankenhaus, in dem Sumi behandelt wurde, entbunden hat und schließlich trotz aller Bemühungen der Ärzte doch gestorben ist. Sie hat einem kleinen Sohn das Leben geschenkt und noch ein paar Wochen lang glücklich staunen dürfen, wie wunderbar das Leben gemacht ist. Dann hat ihr Körper endgültig aufgegeben, sie ist mit dem Kind im Arm eingeschlafen.
Wütend marschiert Mina wieder zum Jugendamt, legt die Bescheinigung des Arztes, ihren Pass, das Tagebuch und noch ein paar Papiere auf den Tisch und wird energisch. Und siehe da - auf einmal geht alles ganz schnell. Bevor sie genau weiß, wie der Junge heißt oder wo er steckt, hat sie schon alle Formulare in der Hand, um die Vormundschaft zu beantragen, die ihr - so wird ihr sofort zugesichert - garantiert gegeben wird. Mina füllt alle Formulare aus und fährt wieder zum Anwesen. Erstmal rennt sie eine Runde durch den Park, um sich abzuregen. Dann sucht sie im Haus einen dicken Filzstift, schnappt sich im Baumhaus das alte Brett, das sie und Sumi hunderte Male in der Hand gehabt haben, und schreibt groß Sumis Namen, Geburtstag und Todestag darauf. Dieses Brett bringt sie zur Familiengruft, damit es einen Ort gibt, wo sie um Sumi trauern können. Grade mal 23 Jahre alt ist die Schwester geworden. Mina fühlt sich entsetzlich schuldig.
Zurück im Haus telefoniert sie als erstes ganz lange mit John. Der verspricht, noch am Abend zu ihren Eltern zu fahren, damit er bei ihnen sein und sie trösten kann, wenn Mina dort anruft. Es wird ein tränenreiches Telefonat. Aber alle vier sind sich einig, dass es genau richtig ist, dass Mina die Vormundschaft bekommt und das Kind zu sich holt. Das ist sie dem Jungen schuldig. Und Sumi auch. Sumi wollte, dass sie sucht. Also sucht sie jetzt, bis sie die ganze Wahrheit und das Kind gefunden hat.
Unruhig streift sie zwei Tage lang durchs Haus und kann sich kaum aufs Räumen und Ausmisten konzentrieren. Sie will so schnell wie möglich zu dem Jungen. Der Heimflug zu Ostern ist gestrichen, stattdessen wird John danach für ein paar Tage herkommen. Nuri kommt so lange zu Minas Eltern.
Am dritten Tag klingelt ihr Telefon, und sie wird gebeten, ins Jugendamt zu kommen, wo die Papiere des Kindes bereitlägen und sie die Adresse erfahren werde. So schnell war Mina noch nie in einem Auto und an einem Ziel. Atemlos rennt sie die Treppen im Amt hoch und zum Sachbearbeiter. Der erklärt ihr, dass ein Familienrichter im Eilverfahren alle Papiere geprüft und bestätigt habe. Jimin - so der Name - sei nun offiziell ihrer Obhut anvertraut und zurück in den Schoß der Familie gekehrt. Dazu bekommt sie die Adresse eines Kinderdorfes am anderen Ende der Stadt. Jimin sei in der Familiengruppe von Kim Jeri, die gleichzeitig auch gegenüber dem Trägerverein und dem Jugendamt als Heimleitung fungiere.
Mina weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Sie ist völlig durcheinander, überlegt nicht lange sondern fährt auf direktem Wege zu diesem Heim. Sumis Junge lebt. Er ist gesund. Und sie wird ihn gleich sehen! Sie wird Sumis Kind in die Arme schließen können. Irgendwo in ihrem Hinterkopf flüstert die Sonderpädagogin in ihr, dass sie es bitte nicht überstürzen sondern dem Kind Zeit geben solle. Der Junge wüsste ja gar nichts von ihr, da müsste doch sinnvollerweise eine Kennenlernphase stattfinden. Unbequem. Und Mina weiß, dass ihre innere Sonderpädagogin leider, leider recht hat. Aber bremsen kann sie sich trotzdem nicht.
Nach einer Weile kommt sie in einen Stadtteil, der offensichtlich gemischtes Milieu hat, weder Schickimicki noch sozialer Brennpunkt und um eine nette alte Ortsmitte gewachsen ist. Das Kinderdorf liegt am Rand, fast am Wald. Vier Häuser sind auf dem Gelände verteilt. Schon von der Straße kann Mina einen schönen, gepflegten Garten mit ganz vielen Spielmöglichkeiten erkennen. Die Häuser sehen freundlich aus, irgendwo quietscht vergnügt ein kleines Kind. Sie parkt ihr Auto, geht auf das erste Haus zu, aus dem grade eine Frau rauskommt, und fragt sich durch zu dem Gebäude, in dem Kim Jeri die Familienmutter ist.
Als Mina zu der schon etwas älteren Heimleiterin geführt wird und ihr Anliegen vorgebracht hat, erkennt sie Misstrauen im Gesicht der anderen. Sie spürt, dass sie nicht willkommen ist. Das Gespräch ist mühsam, beide liegen auf der Lauer und versuchen, die andere zu durchschauen. Kim Jeri schaut kaum auf die Papiere, die Mina und ihren Anspruch legitimieren. Sie schaut nur Mina an und spricht sehr deutlich.
"Mrs. Turner, ich muss Sie um sehr viel Geduld bitten. Jimin ist ein schwer traumatisiertes Kind, das einen engen, bekannten Rahmen, Abstand, Sicherheit und Vertrauensbeweise braucht. Ich muss darauf bestehen, dass ich den Jungen erst darauf vorbereiten kann, dass sie da sind. Alles andere wäre ein grober Überfall und würde ihn nur in Panik stürzen. Und - so leid es mir tut - aber ich kann den Kontakt erst zulassen, wenn ich die Benachrichtigung vom Jugendamt habe. Ich zweifle nicht an der Echtheit Ihres Dokuments, aber ich bin an die Vorschriften gebunden."
Mina beißt die Zähne zusammen. Was ist das denn für ein Drachen? Sie will grade zum Gegenschlag ausholen, als auf dem Flur schnelle Kinderschritte zu hören sind. Die Tür springt auf, und ein hübscher Junge flitzt gleich bis zu Kim Jeri durch.
"Ich hab dich überall gesucht, Mama Jeri. Du hast nicht am Fenster gestanden. Ich muss dich doch begrüßen."
Kim Jeri lächelt den Jungen zwar an, tadelt ihn aber auch dafür, dass er einfach hereingeplatzt ist. Und dabei nennt sie ihn Jimin.
Mama Jeri also. Mina kann nicht mehr klar denken. Sie hat nur noch das Gefühl, dass hier etwas schiefläuft. Und dass sie JETZT dieses Kind kennen lernen will. Sie wendet sich dem Jungen zu und spricht ihn an. Der weicht vor ihr zurück. Kim Jeri macht Handzeichen, die sie wohl zum Schweigen bringen sollen, aber das sieht Mina ja gar nicht ein. Sie redet einfach weiter. Die Heimleiterin wedelt noch hektischer mit den Händen und schaut Mina sehr grimmig an.
Mina steht auf und will Jimin die Hand geben.
"... dass ich dich in unserer Familie willkommen heißen darf."
Was nun passiert, verblüfft Mina dermaßen, dass ihr die Kinnlade herunter fällt. Mit einem gellenden, panischen Schrei ist Jimin zur Tür raus und verschwunden. Gleichzeitig springt Kim Jeri von ihrem Stuhl und blafft sie mit Todesblicken an.
"Sie setzen sich jetzt sofort da auf den Stuhl und rühren sich nicht. Ich kann nur hoffen, dass Jimin sich in seiner Panik an die Regel hält. Sonst dürfen wir nämlich eine hübsche Suchaktion in der ganzen Stadt veranstalten. Und Jimin ist schnell!"
Kim Jeri geht ans Fenster und schaut auf einen bestimmten Punkt im Garten. Mina will aufstehen, aber die scharfe Stimme der Frau ist sehr deutlich.
"Sitzen bleiben!"
In Mina kocht die Wut. Und um so mehr, als sich ihre innere Sonderpädagogin wieder zu Wort meldet. Sehr unbequem. Aber jetzt ist sie so in Fahrt, dass sie sich wehrt.
"Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden. Ich bin der Vormund dieses Kindes, und lasse mir nicht den Mund verbieten. Sie holen jetzt Jimin her, damit ich ihn kennen lernen kann."
Kim Jeri starrt immer noch angespannt aus dem Fenster, seufzt dann erleichtert auf und dreht sich zu Mina um.
"Mrs. Turner. Ich entschuldige mich dafür, dass ich eben so grob zu Ihnen war. Aber wenn sie mir jetzt nicht zuhören, dann stürzen sie Jimin in eine Katastrophe, der wir vielleicht nie wieder Herr werden."
Mina presst ihre Lippen zusammen, verschränkt die Arme vor der Brust und hebt trotzig das Kinn. Sie fühlt sich zu unrecht gemaßregelt wie ein kleines Kind. Fast wie ihre achtjährige Tochter, wenn die am Abend nicht nochmal mit dem Fahrrad raus darf. Kim Jeri bleibt am Fenster stehen und atmet ein paar mal tief durch.
"Jimin ist bei mir fast seit seiner Geburt. Er war immer ein fröhlicher, lebhafter, schlauer und gerechtigkeitsliebender Bursche. Aber das hiesige Jugendamt will Geld sparen und vermittelt darum dauernd Kinder in irgendwelche Familien, die nicht richtig geprüft werden. Jimin war sieben Jahre alt, als er in eine Familie mit einem kleinen Prinzesschen kam, für die er als billiges Spielzeug missbraucht wurde. Nach einem halben Jahr kam er zurück und war vollkommen verändert. Hungrig, beinahe verwahrlost, nach Strich und Faden als kostenlose Haushaltshilfe und als Punching Ball der Kleinen ausgenutzt. Ein Jahr später gab es das gleiche Spiel, diesmal kam er in eine Familie mit einem aufmüpfigen älteren Sohn, dem Jimin immer als leuchtendes Beispiel hingestellt wurde. Nach einem Jahr ist dem Großen die Birne durchgebrannt, und er hat den hauseigenen Wachhund auf Jimin gehetzt. Dann hat er ihn gezwungen, sich auszuziehen und war kurz davor, sich an dem Kleinen zu vergehen, als sein Vater das grade noch verhindern konnte. Da war Jimin neun Jahre alt.
Seitdem spricht er fast nicht mehr. Manchmal, wenn er etwas sagen soll oder will und sich nicht traut, dann dauert es mehrere Minuten, bis das erste Wort raus ist. Verstehen Sie? Jimin hat Angst. Vor allem. Vor kleinen Schwestern, großen Brüdern, ignoranten Eltern, großen Hunden, fiesen Klassenkameraden, vor lauten Stimmen, vielen Menschen, Berührungen und sogar vor dem Konstrukt 'Familie' ansich. Jimin traut nichts und niemandem mehr außer mir. Ich will Ihnen nicht ihren Neffen wegnehmen, aber ich muss das Ganze steuern können, sonst zerbricht er vollkommen. Und das werde ich nicht zulassen."
Mina steht nun auch wieder auf.
"Ach. Und jetzt glauben Sie, dass unsere Familie genauso schlimm ist wie die beiden anderen, und dass es dem Jungen bei uns schlecht gehen wird. Das ist eine Unverschämtheit! Ich bin Pädagogin und weiß durchaus, wie ich so eine Situation händeln muss. Er ist der Sohn meiner Schwester, und Sie können mir nicht ..."
"Dass Sie Pädagogin sind, habe ich eben erlebt ..."
Mina schnappt nach Luft, greift sich ihre Papiere und stürzt zur Tür. Noch nie in ihrem ganzen Leben ist ein Mensch ihr gegenüber so energisch und beleidigend aufgetreten. Sie merkt genau, dass sie heute nicht an dieser Frau vorbei kommt, zumal sie keine Ahnung hat, wo Jimin hingerannt sein könnte. Der Garten ist groß. Im Türrahmen dreht sie sich nochmal um und mustert die Heimleiterin von oben bis unten.
"Das wird ein Nachspiel haben!"
Es ist ein Wunder, dass Mina heile beim Anwesen angekommt. Sie braucht Stunden, um sich zu beruhigen. Allmählich liegen die Nerven blank, so viel ist passiert in den fast drei Wochen, die sie hier ist. Mina sehnt sich nach John wie noch selten in ihrem Leben. Sie kann das nicht mehr alleine tragen. Wieder wird sehr lange telefoniert, seine ruhige Stimme tut ihr gut. Dann macht sie einen langen Spaziergang im Park, klettert ungelenk auf Sumis Lieblingsbaum, läuft unruhig und ziellos weiter. Irgendwas muss Mina anders machen, sonst frisst das hier sie innerlich auf. Das schlechte Gewissen schreit nach dem Kind, Sumi weint um Hilfe, die innere Sonderpädagogin flüstert unbequeme Wahrheiten, ihr Körper und Geist flehen um Ruhe.
Was soll sie jetzt bloß tun? Soll sie Kim Jeri mit dem Jugendamt oder der Polizei auf den Leib rücken? Aber sie kann doch das verschreckte Kind nicht mit der Polizei da rausholen! Soll sie das alles lassen, weil sie sich überfordert hat, das Kind hier lassen und die Vergangenheit ruhen lassen? Das bringt sie nicht über sich. Gibt es irgendeine Möglichkeit, an dem Drachen vorbei und vernünftig an das Kind ranzukommen? So, wie die drauf war, sicher nicht!
Überhaupt. Was sollten diese haarsträubenden Geschichten von schlechten Pflegefamilien? Das war ja wohl ziemlich dick aufgetragen. Sie lässt sich doch nichts unterstellen! Doch dann drängt sich das verängstigte Gesicht ihres Schülers Dwayn in den Vordergrund. Dwayn ist bei ihr in der Sonderschule, weil er jahrelang vom eigenen Vater missbraucht worden war. Er ist verstummt und hat sich vollkommen abgekapselt. Sie hat lange gebraucht, bis sie an den Kleinen rangekommen war.
Nach zwei Tagen ringt Mina immer noch mit sich, aber die innere Sonderpädagogin gewinnt allmählich die Oberhand. Sie war im Eifer des Gefechts zu forsch. Und wohl auch zu unhöflich. Und darum sollte sie keine Zeit verlieren sondern einen zweiten Anlauf nehmen.
Am nächsten Morgen ruft sie im Kinderdorf an, fragt nach einem Termin und wird eingeladen zu kommen, so lange Jimin noch in der Schule sei. Nichts lieber als das! Mina macht sich sofort auf den Weg. Da sie schon einmal da war, kann sie sehr zielstrebig zum Büro der Leiterin gehen, anklopfen und eintreten.
Zu ihrer Verblüffung sitzt Kim Jeri hinter ihrem ordentlichen Schreibtisch, hat zwei geöffnete Briefe vor sich liegen - und weint. Beim Anblick von Mina steht sie erschrocken auf, dreht sich zum Fenster und verharrt dort schweigend. Mehrere Minuten passiert gar nichts, und Mina überlegt fieberhaft, was der Auslöser für die Tränen sein könnte. Wie sie die Schutzmauer der Frau durchdringen könnte. Da hört sie ihre Stimme, sehr leise.
"Sie ... haben gewonnen."
Mina antwortet intuitiv.
"Ich wollte nie gewinnen. Ich will mich entschuldigen, denn ich habe total überreagiert. Es geht doch um Jimin und nicht um eine geerbte Vase. ... Möchten Sie, ... dass ich ein andermal wiederkomme? Es ... scheint nicht der passende Zeitpunkt zu sein ..."
Mina hört sich selbst zu und staunt. So klar war das ihr selbst noch nicht gewesen. Aber es klingt richtig in ihren eigenen Ohren.
"Ich finde unvorstellbar, was das Kind alles mitgemacht haben muss. Ich bin erschüttert, dass mir davon auf dem Jugendamt niemand berichtet hat. Und ich möchte zum Wohle des Kindes mit Ihnen zusammen überlegen, ob und wie ein Übergang gestaltet werden könnte."
"Ob? Das ist leider nicht mehr die Frage."
Kim Jeri dreht sich um und schaut sie direkt an.
"In dem einen Brief teilt das Jugendamt mir mit, ich möge bitte Jimins Unterlagen bereithalten und seine Sachen packen, er werde von Ihnen abgeholt. Und die staatlichen Zuschüsse für diesen Heimplatz würden zum Ende des Monats eingestellt. ... Das ist in drei Tagen."
Mina lässt sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch plumpsen.
"In drei Tagen? Wie stellen die sich DAS denn vor!?! Das geht doch viel zu schnell!"
"Es kommt noch schlimmer. Der andere Brief ist vom Vereinsvorstand. Und darin steht, dass die staatlichen Zuschüsse mit Wirkung zum 1.8. so eklatant gekürzt würden, dass dann ein wirtschaftlich sinnvoller Betrieb des Kinderdorfes nicht mehr möglich sei. Bis dahin würden alle Kinder in staatliche Heime oder in Pflegefamilien übermittelt, ich möge dem Jugendamt bitte bei der Organisation behilflich sein."
Sprachlos starren die beiden Frauen sich an. Dann rutscht Mina ein herzhaftes "Shit!" heraus, und Kim Jeri lächelt sie traurig an.
"Das können Sie laut sagen. Wenn Jimin nicht mit Ihnen nach Amerika geht, wird er innerhalb kürzester Zeit in ein anderes Heim gestopft werden. Und damit sein Zuhause, seine Bezugspersonen und jeden Halt verlieren."
"Das ... das ist unglaublich. Die armen Kinder!"
Ein Gedanke schwimmt durch Minas Bewusstsein, der eigentlich ziemlich vernünftig klingt.
"Darf ... ich mich kurz irgendwo hin zurückziehen und telefonieren? Vielleicht habe ich eine brauchbare Idee."
Kim Jeri schaut auf ihre Armbanduhr.
"Sie können in Jimins Zimmer telefonieren. Es wird noch eine Weile dauern, bis er aus der Schule kommt."
Kurz darauf sitzt Mina auf Jimins Kinderstuhl und schaut sich um. Sie sieht ein relativ ordentliches, typisches Jungszimmer. Im Regal stehen einige Sachbücher, die alle etwas mit Natur zu tun haben. Auf dem Kopfkissen sitzt ein kleines, abgeliebtes Kuschelschäfchen. Es gibt eine Kiste mit Legoteilen und eine fertig gebaute Legoinsel, auf der Palmen wachsen und verschiedene Tiere sich tummeln. Der Raum ist hell und freundlich, sein Bewohner fühlt sich hier offensichtlich wohl.
Mina schaut auf ihr Handy. John müsste jetzt mit dem letzten Vormittagsseminar fertig und auf dem Weg zur Mensa sein. Sie ruft ihn an. John geht daraufhin in sein Büro und hört ihr geduldig zu. Von dem Fiasko vor drei Tagen weiß er ja schon. Aber diese neuen äußeren Umstände schockieren auch ihn. Und dann spricht er von sich aus an, was Mina vorhin gedacht hat.
"Schatz, was hast Du eigentlich mit dem unmenschlich hohen Haufen Geld vor, den du nach Hause schleppen wirst? Ich meine ... es geht nicht, dass der Junge da so rausgerissen wird. Es ist dein Geld. Aber ich an deiner Stelle würde das Geld in die Hand nehmen und die Finanzierung des Kinderdorfes bis zur Schließung sicherstellen, damit Jimin und alle anderen Kinder in Ruhe umgewöhnt werden können."
Mina muss nicht lange überlegen. Sofort macht sich Erleichterung in ihr breit. Das fühlt sich richtig an. Sie hat doch alles, was sie braucht. Das Leben hat sie mit so viel beschenkt. Was soll sie mit den angehäuften Reichtümern und Statusobjekten hier in Korea? Etwas Gutes tun!
"Ich liebe dich, mein Schatz. Genau das ist die Lösung! Ich werde das gleich mit der Heimleitung besprechen."
Mina legt auf und eilt zurück zum Büro der Leiterin. Die sitzt an ihrem Schreibtisch, über eine sehr dicke Akte gebeugt, und schreibt etwas von Hand dazu. Sie erschrickt ein bisschen, denn sie hat Minas Klopfen nicht gehört.
Als Mina von ihrer Idee berichtet, geht in Kim Jeris Gesicht die Sonne auf.
"DAS würden Sie tun? Sie ahnen nicht, WIE dankbar ich Ihnen bin. Das wäre für alle Kinder hier ein Segen."
Kim Jeri atmet einmal tief durch. Dann spricht sie eine Bitte aus.
"Die Kinder werden bald aus der Schule kommen und erwarten dann, mich am Fenster stehen zu sehen. Jimin hat sich einigermaßen wieder gefangen, aber er ist sehr unruhig, weil ich ihm natürlich nicht versprechen konnte, dass er nicht mit Ihnen mitgehen muss. Er hat eine unglaubliche Angst vor Ihnen. Wenn ... Sie mir ein bisschen etwas über Ihre Lebensumstände, über Ihre Familie erzählen könnten - dann könnte ich ihn vorbereiten."
Mina schafft es, diese Aufforderung nicht als Vorwurf sondern als Ansporn zu betrachten, und fängt an zu erzählen. Sie zeigt der Heimleiterin auch ein paar Bilder von ihrer Familie.
Kim Jeri stöhnt beim Anblick eines Familienfotos erschrocken auf.
"Das wird schwer. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, und Hindernisse sind dazu da, überwunden zu werden ..."
"Aber?"
"Aber Sie vereinen leider Jimins vier größte Ängste in Ihrer Familie."
Mina ist verwirrt, denn eigentlich findet sie ihre tolle Familie nicht sooo furchterregend.
"Nämlich?"
"Jimins größte Ängste beziehen sich auf ... intakte Familien, in denen er das fünfte Rad am Wagen ist, kleine Schwestern, große Brüder und große, schwarze Hunde."
Mina ist sprachlos. Ihr Blick fällt zurück auf das Bild. Na wunderbar. Wie soll DAS denn gehen!?!
"Und jetzt?"
"Jetzt gehen Sie nach Hause und lassen das alles sacken, während ich die Kinder begrüße. Heute Abend muss ich den Kollegen diese 'tollen' neuen Nachrichten verkünden und von ihrem Angebot berichten. Ich muss den Vorstand informieren. Und dann werde ich versuchen, Jimins ängstliches Herz ein wenig mutiger zu machen. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ein erstes Treffen möglich ist. Wie lange werden Sie noch in Korea bleiben?"
Schon wieder hat Mina das Gefühl, dass alles gleichzeitig viel zu schnell und viel zu langsam geht. Was für ein Wirbel!
"Ich bin noch eine Weile hier. Und nach diesen neuen Entwicklungen um so mehr. Mein Mann wird nächste Woche für ein paar Tage kommen. Ich ... ich bin froh, dass wir jetzt diese Ebene miteinander gefunden haben. Ich danke Ihnen."
Schnell schreibt Mina ihre Telefonnummern auf und verabschiedet sich dann. Als sie schon an der Tür ist, hält Kim Jeri sie zurück.
"Warten Sie. Ich darf das zwar nicht, aber das ist mir jetzt egal. Bitte nehmen Sie diese Akte mit. Es sind alle Unterlagen über Jimin, auch mein Tagebuch, was ich von klein auf über ihn geführt habe. Das alles wird Ihnen helfen, mehr zu verstehen und dem Jungen gerecht zu werden."
Mina nimmt den dicken Aktendeckel und steckt ihn ein.
"Danke. Wirklich! Danke für Ihr Vertrauen und Ihre Kooperationsbereitschaft."
Kaum ist Mina zu Hause, stellt sie das Telefon ab, besorgt sich etwas zu essen, kopiert die komplette Akte und macht es sich in ihrem kleinen Büro gemütlich. Sie legt sich Stift und Papier bereit für mögliche Notizen. Die Originalakte packt sie gleich beiseite. Und dann versinkt sie für die nächsten Stunden in den Kopien. Darin kann sie rumschripseln, die Blätter nach Relevanz sortieren, wichtige Informationen dick anstreichen. Nach und nach entsteht das Bild eines fröhlichen kleinen Jungen, der wirklich gut aufgehoben und geborgen war, bis unsinnige Sparmaßnahmen ihn aus der Bahn geworfen haben. In der Akte und im Tagebuch findet sie auch jede Menge Berichte über Mobbing-Vorfälle in der Schule, über die große Diskrepanz zwischen den Leistungen zu Hause und in der Schule, über die vergeblichen Versuche, einen widerspenstigen Klassenlehrer zu zähmen. Kim Jeri hat bei allen Vorfällen, manchmal täglich, sehr genau Jimins Berichte festgehalten und dann für sich eine Einschätzung notiert.
So sehr Minas Herz blutet für ihren gequälten Neffen - die empathische und gleichzeitig sehr sachliche Berichterstattung hilft ihr enorm, endlich innerlich die Sonderpädagogin zum Zuge kommen zu lassen. Sie schaltet auf professionell und versucht, sich ein möglichst genaues Bild von der Persönlichkeit und von den Traumata ihres Neffen zu machen. Dann findet sie einen Hinweis über eine Therapie, die nach dem zweiten Fiasko eingerichtet worden war. Leider vergeblich, denn der Therapeut konnte nie Jimins Misstrauen überwinden und zu seiner Seele vordringen. Darum wurde die Maßnahme nach einem Jahr wieder eingestellt.
Alles in allem sieht das nicht sehr hoffnungsvoll aus. Mina begreift, warum Jimin so an "Mama Jeri" hängt. Weil diese Frau tatsächlich die einzige ist, die IMMER für ihn da war, IMMER verlässlich und einschätzbar war, ihm IMMER geglaubt hat und IMMER für ihn gekämpft hat. Dabei hat Mina durchaus das Gefühl, dass Kim Jeri das für jedes ihrer Gruppenkinder getan hat oder tun würde. Sie gewinnt Hochachtung vor der Frau, die ihr ganzes Leben und Lieben dafür einsetzt, das es den ihr anvertrauten Kindern gut geht. Sie spürt anhand des Tagebuchs auch, dass Jimin bei aller Neutralität einen besonderen Platz in ihrem Herzen hat. Das berührt sie besonders. Und es macht sie froh, dass sie sich mit Kim Jeri wieder vertragen hat. Die Frau ist der Schlüssel zu Jimin.
Wie schwer muss es dieser Ziehmutter fallen, jetzt hilflos zuzusehen, wie das Jugendamt ihr Lebenswerk an den verbliebenen Kindern einfach in Stücke reißt. Und wie groß muss die Angst sein, dass Jimin noch einmal in falsche Hände gerät! Mina beginnt zu verstehen, warum das erste Treffen so furchtbar schief gegangen ist. Sie selbst war völlig von der Rolle und viel zu unsensibel. Und Kim Jeri hat das mit Mutterinstinkt sofort gewittert und energisch dagegen gehalten, um ihr Küken zu beschützen. Eigentlich gut so.
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5.9.2021 - 15.8.2022
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