Kapitel 3 - "R" wie "Reue"
Entspannt sitzt Mina Turner mit einer Tasse Kaffee auf ihrem großen, gemütlichen Familiensofa und schaut ihrer kleinen Tochter Nuri dabei zu, wie sie zu dem neuesten Hit aus dem Radio eine Tanzshow improvisiert. Ihre Augen leuchten, ihre Wangen glühen, das ganze Kind steht unter Strom und tanzt und tanzt und lacht und tanzt.
Nuri erinnert sie an ihre kleine Schwester Sumi. Die war als Kind auch so unbeschwert und lebendig. Sie hatte immer Hummeln in der Hose und die wirrsten Flausen im Kopf. Mama und Papa haben das gelassen gesehen, aber vor Großmutter war Sumi eigentlich immer auf der Flucht. Die war so streng und verbissen. Manchmal hat Mina Sumi gedeckt, damit sie nicht schon wieder ein höchst großmütterliches Donnerwetter abbekommt. Papas Verhältnis zu seiner Mutter war nicht ganz spannungsfrei. Wenn er eine in ihren Augen falsche Entscheidung getroffen hat, hat sie immer in abfälligem Ton gesagt:"Ganz der Vater ..."
Mina hat schon als Kind gedacht, dass Opa dann ja wohl ein netter Mensch gewesen sein muss. Papa hat immer die Zähne zusammen gebissen und ist rausgegangen. Er war nicht glücklich darüber, dass sie mit Großmutter unter einem Dach gelebt haben.
Das Lied ist zu Ende, und die plötzliche Stille holt Mina zurück in die Gegenwart. Nuri hat das Radio ausgemacht und sich tief vor ihrer Mummy verbeugt. Ihr ganzes Gesicht fragt nach Anerkennung, die Mina ihr gerne gibt.
"Das hast du wundervoll gemacht, mein Schatz! Heute Nachmittag ist wieder Tanztraining. Ich bin gespannt, was du heute lernst."
Nuri winkt ihr zufrieden zu und hüpft durch die weit offene Terrassentür in den Garten. Selbst Ende März ist es in Arizona schon so warm, dass man sich meistens draußen aufhalten kann. Im Sommer wird es dazu schon zu heiß sein.
Eigentlich könnte Mina die Zeit nutzen, um die Sachunterricht-Hefte ihrer Klasse zu kontrollieren, die auf ihrem Schreibtisch warten. Aber ihre Gedanken sind schon wieder weit weg.
Sumi. Wo sie jetzt wohl lebt? Wie es ihr wohl geht? Vielleicht hat sie eine Familie gegründet. Mina wünscht es ihr so sehr. Sie haben nie wieder etwas von ihr gehört, nachdem Sumi sich mit 22 Jahren plötzlich in Luft aufgelöst hatte. Die Familie wusste ja, dass sie so schnell wie möglich ausziehen wollte. Aber sie hinterließ fast ihre gesamte Habe und keine Spuren, die zu ihr hätten führen können. An der Arbeitsstelle hatte sie gekündigt, im Einwohnermeldeamt wurde sie noch mit Großmutters Adresse geführt. Die Sehnsucht nach der gemeinsamen, vertrauten Kindheit, die damals mit Sumi endgültig verschwunden ist, überfällt Mina so plötzlich und unerwartet wie ein wildes Tier.
Großmutter hatte angeblich erstmal gar nichts gemerkt. Erst nach zwei Wochen war sie unruhig geworden, hatte Mama und Papa informiert, und die waren sofort hingeflogen. Mina wäre wohl mitgekommen, aber der Spagat zwischen ihrem Beruf und ihrem dreijährigen Sohn .... hat sie in den Staaten zurückgehalten.
Als Mama und Papa wiederkamen, waren sie sehr besorgt und innerlich aus der Bahn geworfen. Sie haben lange gebraucht, um den seltsamen Verlust der Tochter zu verarbeiten. Großmutter hingegen schien nicht sonderlich beunruhigt und bestürzt. Sie hat das eiskalt ausgesessen, bis sich Wut, Angst und Trauer bei den Eltern gelegt hatten. Papa hat danach nie wieder ein Wort mit seiner Mutter gewechselt, und sie waren auch nie wieder in Korea. Sie haben keinen Kontakt mehr.
Ihre Tochter holt sie aus den tiefen, schweren Gedanken.
"Mama, wir müssen bald los. Ich mag nicht zu spät kommen zum Training."
Kleine, geliebte Drängelbacke! Mina muss schmunzeln und lässt die Schwere von sich gehen. Gemeinsam sammeln sie ihr Trainingszeug zusammen und fahren los zur Tanzschule. Auf der Rückfahrt macht Mina wie immer ihren Wocheneinkauf. Ein bisschen Unterricht für morgen kann sie noch vorbereiten, bevor John mit Nuri nach Hause kommt und sie gemeinsam zu Abend essen werden. Der Große ist schon fünfzehn und übernachtet heute bei einem Freund.
Aber statt ins Arbeitszimmer zu gehen, landet sie zu Hause wieder im Wohnzimmer. Sie betrachtet entspannt das Familienfoto auf dem Kaminsims, das am Tag von Johns Habilitation als ordentlicher Professor für Mathematik aufgenommen wurde. John hatte ja genau wie sie auf Lehramt studiert, allerdings mit den Fächern Mathematik und Amerikanisch für Ausländer. Den Sprachunterricht hat er dann ein paar Jahre an der UNI-eigenen Schule gehalten für Studenten, die hier ein Auslandssemester machen wollten. Aber die mathematische Fakultät hat ihn dadurch nicht aus den Augen verloren, und schließlich haben sie sich John "zurückgeschnappt".
Minas Blick fällt auf das Foto daneben, und schon driften ihre Gedanken wieder ab. Die Hochzeit. Dieser wundervolle Tag! Sumi hatte sich so seltsam verhalten. Eifrig bemüht, aber menschlich meilenweit entfernt war sie gewesen. Sumi war Brautjungfer und war darum eine Woche früher schon gekommen. Die acht Tage und viel Zweisamkeit hatten ihre beiden Welten nicht wieder zusammenführen können. Sumi war ... fast auf der Flucht vor Mina gewesen in diesen Tagen. Und danach hatten sie sich nie wieder gesehen. Mina war so enttäuscht gewesen, dass ihre Schwester sich so distanziert hatte. Das tat richtig weh. Also hat sie sich selbst geschützt - und Sumi fortan in Ruhe gelassen. Dann eben nicht.
Energisch reißt sich Mina aus ihren Gedanken und geht in ihr Arbeitszimmer. Die Hefte für den Sachunterricht. Es dauert noch eine Weile, bis sie sich wirklich konzentrieren kann. Eine Stunde später fegt ihr kleiner Wirbelwind zur offenen Bürotür herein und sprudelt über vor Begeisterung, hopst dazu immer wieder die selben Schritte und scheint ihr offensichtlich etwas erklären zu wollen. Hinter ihrer Tochter taucht ihr Mann John auf und bändigt das aufgedrehte Kind.
"Nuri, du weißt, dass du Mummy nicht stören sollst, wenn sie arbeitet. Geh bitte noch spielen bis zum Abendbrot."
Nuri nimmt das gelassen hin. Sie verschwindet mit einem fröhlichen "ich spiele mit Hunter" nach draußen. Der große, bunte Mischling Hunter, der bereits durch den Flur herankommt, um die Ursache der plötzlichen Unruhe auszumachen, stellt fest, dass alles in Ordnung ist und folgt Nuri in den Garten. Nuris Eltern sehen ihnen mit einem Lächeln nach, bis sie verschwunden sind.
Sofort schließt John die Tür von innen.
"Warst du heute noch gar nicht am Briefkasten, Minny? Das könnte wichtig sein."
Mit diesen Worten hält er Mina einen großen, dicken Briefumschlag hin. Sie greift danach, schaut auf den koreanischen Absender und erstarrt.
"Alles in Ordnung, Mina?"
"Das ... das ist ... von Großmutters Hausanwalt."
Unschlüssig pulen ihre Finger an der Lasche des Umschlags herum. John nimmt sich einen zweiten Stuhl, setzt sich neben seine Frau und nimmt ihr sanft den Brief aus der Hand.
"Was brauchst du jetzt, Liebes? Was könnte darin stehen?"
"Dass du mich ganz festhältst. Denn ... weil ... Großmutter wird nächstes Jahr neunzig. Oder würde ... Ich verstehe nur nicht, warum ein derart dicker Brief an mich geht. Und nicht an Daddy."
John nickt. Mina hat nie sehr an ihrer Großmutter gehangen. Er war der alten Dame einmal vorgestellt worden, und hatte vielmehr einen strengen Feldwebel als eine liebende Oma erlebt. Dennoch ist der Tod einer so nahestehenden Verwandten etwas, was einen innehalten lässt.
"Du oder ich?"
"Mach du auf, ich trau mich nicht."
Noch immer ganz starr vor Schreck schaut Mina zu, wie John den Umschlag aufschlitzt, einen umfangreichen Packen hochoffiziell aussehender Papiere hervorzieht und die erste Seite überfliegt. Seine Stimme wird weich und leise.
"Es tut mir sehr leid, Schatz. Deine Befürchtung bestätigt sich. Deine Großmutter ist vor ..."
Er wirft einen schnellen Blick aufs Handy und dann nochmal in den Brief.
"... vor sechs Tagen gestorben. Du bist Alleinerbin und wirst gebeten, so schnell wie möglich nach Korea zu kommen, Zeit mitzubringen und alle Angelegenheiten zu regeln."
Mina hat keine Tränen für ihre Großmutter. Dazu war die innerlich und äußerlich viel zu weit weg. Sie stürzt sich sofort in die Vorbereitungen. Der organisatorische Aufwand für einen längeren Aufenthalt in Korea innerhalb von zwei Tagen ist allerdings enorm. Mina und John organisieren ein Kindermädchen für Nuri, eine Vertretung in der Sonderschule, den Flug, diverse Papiere - es nimmt kein Ende. Doch schließlich verabschiedet sie sich von ihrer Familie und tritt die Reise in die Vergangenheit an.
Mina hat keine Ahnung, was sie erwartet. Die sehr alte Dame hat alleine in diesem riesigen Haus gelebt. Sind noch alle Räume eingerichtet? Ist das Haus in gutem Zustand? Wird der Park noch gepflegt? Und steht das Baumhaus noch? In welcher Form ist das Vermögen angelegt, das sie zweifelsohne erwartet? Was für mehr oder weniger durchführbare Wünsvhe wird Großmutter wohl festgehalten haben? Völlig erschöpft und übermüdet krabbelt Mina schließlich in Korea aus dem Flieger, klaubt ihr Gepäck zusammen und ist heilfroh, dass der Familienanwalt ihr einen Fahrer geschickt hat. Der ist bald gefunden, fährt sie routiniert zum Anwesen und versichert ihr, dass das Haus in sehr gutem Zustand und schon alles für ihre Ankunft vorbereitet sei.
Damit sie nicht in die Jetlag-Falle tappt, krämpelt Mina gleich nach der Ankunft die Ärmel hoch, bittet den Anwalt, mit allen Unterlagen zu ihr zu kommen, und macht in der Zwischenzeit einen ersten Gang durchs Haus. Die Räume von Großmutter sind unverändert wie vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Die Wohnung ihrer Eltern dagegen ist seltsam leer und fremd. Die Schritte hallen von den hohen Wänden wider, auf Böden und Fensterbrettern liegt eine dicke Staubschicht, Mina kriegt eine Gänsehaut beim Durchlaufen und möchte am liebsten flüchten. Vor der Tür zu Sumis altem Zimmer macht sie schließlich eine Vollbremsung. Sie schafft es einfach nicht, da rein zu gehen, so sehr sie es auch versucht. Sie fürchtet sich vor dem, was sie dort finden wird - oder auch nicht.
Zum Glück fährt in dem Moment der Anwalt vor und braucht ihre Aufmerksamkeit. Schnell eilt Mina wieder rüber in die Räume von Großmutter. In den folgenden Stunden stopft der gutmütige Mann mit einer Engelsgeduld Firmenanteile, Sachwerte, Geldanlagen, Immobilienpreise, Testamentsbedingungen und Beerdigungsformalitäten in ihr müdes Gehirn. Irgendwann merkt er selbst, dass sie nichts mehr aufnehmen kann, wünscht ihr eine gute Nachtruhe und verspricht, ihr am nächsten Morgen wieder den Fahrer zu schicken, der sie zum Beerdigungsinstitut bringen wird. Die wenigen verbliebenen Angestellten kümmern sich gut um sie, und nach einem Telefonat mit John hört sie auf, sich gegen den Schlaf zu wehren. Sie schlüpft in ihrem alten Kinderzimmer in ihr altes Bett und ist schnell weggedämmert.
Gut schlafen kann sie allerdings nicht. Sie träumt lauter wirres Zeug von der Beerdigung, die ihr allein bevorsteht, weil ihre Eltern es abgelehnt haben, bei einem öffentlichen Abschied heucheln zu müssen. Erst kam plötzlich Großmutters Stimme aus dem Sarg und beschimpfte Papa, als wäre all ihre Verachtung zu ihren Lebzeiten noch nicht demütigend genug gewesen. Und dann wurden schließlich zwei Särge in das Grab hinabgelassen. Mina wollte das stoppen, wollte rufen:"Das ist einer zuviel!" Aber niemand hörte sie.
Durch die Zeitverschiebung wacht sie sehr früh auf, macht sich schnell fertig für den Tag und wandert wieder ruhelos durchs Haus. Sie versucht zu entscheiden, was sie wegwerfen, was sie selbst behalten und was sie verkaufen will. Und wie sie das organisieren und dann auch körperlich bewerkstelligen soll. Klar ist, dass das Haus mit dem Park verkauft wird, weil Mina und John sich sicher sind, dass sie nicht irgendwann auf Dauer in Korea leben wollen. Die Familie hat ein Sommerhaus, am Ende des Parkes, einsam im Wald. Aber es führt eine richtige Straße dorthin. Dieses kleine Haus wollen sie behalten, vielleicht einen Streifen vom Park abtrennen dorthin. In beiden Häusern stehen unendlich viele, wertvolle Antiquitäten und andere Luxusgegenstände. Ein paar Familienstücke muss sie behalten, weil Großmutter ein Verkaufsverbot geschrieben hat. Aber sie kann sich an nichts erinnern, dazu war sie gestern zu müde. Sie beschließt, im freundlich eingerichteten Gästezimmer ihrer Großmutter zu wohnen, solange sie hier ist. Dann hat sie Küche, Bad, Schlafzimmer, ein kleineres Wohn-Esszimmer und einen als Büro nutzbaren Raum nahe beieinander und muss hier in den nächsten Wochen kein Kilometergeld beantragen.
Nachdem sie gefrühstückt hat, fährt der Wagen vor und bringt sie in die Stadt. Der Bestatter spricht ihr sein Beileid aus und lotst sie sanft durch all die vielen Formalitäten. Den Totenschein gibt es natürlich schon, alle Beerdigungskosten sind aus dem Vermögen bereits bezahlt, das Hausmädchen hat die von der alten Dame gewünschte Kleidung herausgesucht und hergeschickt. Auch für die Trauerpost und die Anzeige in der Zeitung gibt es von Großmutter selbst fertige Formulierungen, die Mina nur abnicken muss. Als sie hört, dass von dem Brief 1000 Exemplare gedruckt werden sollen, reißt sie die Augen auf und fragt spontan, ob denn die Beisetzung auf dem Rollfeld des Flughafens stattfinden solle.
Dann muss Mina selbst einige Entscheidungen treffen. Das Familiengrab muss vorbereitet werden, die Blumen bestellt, ein Kondolenzbuch ausgesucht, der Sarg ausgewählt, die anschließende Bewirtung der Trauergäste geregelt werden. Großmutter hat sich auch gewünscht, dass nicht nur die Beisetzung auf dem Gelände sondern auch die anschließende Verköstigung der Gäste zu Hause stattfinden soll, aber an dem Punkt streikt Mina zum ersten Mal. Fünfhundert Leute passen in die Hütte wohl rein, wenn man sie auf die Räume verteilt. Aber so eine Veranstaltung würde nicht nur sie sondern auch das Personal restlos überfordern. Also sucht sie einen Caterer aus und ordert einige große schlichte Festzelte, die im Park aufgestellt werden sollen. Dann müssen die Gäste nicht weit laufen, kleben ihr aber nicht im Haus, und die Angestellten sind außen vor. Und so geht es noch eine ganze Stunde weiter, bis alles in Auftrag gegeben und entschieden ist. Fünf Tage noch, am sechsten die Beisetzung - dann hat sie es geschafft.
Um ihren Kopf zu lüften und ihre Garderobe für die nächsten Wochen trauertauglich aufzustocken, was sie in Tucson nicht mehr geschafft hatte, lässt sie sich nun in die Stadt fahren, isst etwas in einem Restaurant, kauft dann ein, was sie vermutlich brauchen wird, und kommt am Nachmittag schließlich wieder zurück zum Anwesen. John hat in USA grade eine Pause zwischen zwei Vorlesungen, also telefonieren sie eine Weile, bis Mina wieder müde genug ist, um diesmal traumlos zu schlafen.
An ihrem dritten Tag in Korea hat Mina noch lange keinen Überblick. Aber nun bekommt sie Listen und Aufstellungen von den Hausangestellten, wo alle Wertgegenstände fein säuberlich nach Räumen sortiert aufgeschrieben sind. Mit diesem Verzeichnis in der Hand geht sie durch alle Räume und sucht gezielt nach Gegenständen, die sie an schöne Momente ihrer Kindheit erinnern, und die bei ihr zu Hause auch zur Einrichtung passen würden. Wieder steht sie vor Sumis verschlossener Tür und geht nicht hinein. Irgendwann wird sie wohl über ihren Schatten springen müssen, denn sie möchte auch irgendein Andenken an Sumi mitnehmen.
Flach gelegte Umzugskartons warten im Erdgeschoss auf Mina. Einen leeren Raum in der elterlichen Wohnung sucht sie aus, um dort alle Kartons und vielleicht Möbelstücke abzustellen, die sie mitnehmen will. Dann stehen die nicht im Weg, und sie behält den Überblick. Als erstes packt sie im Salon alle Fotoalben von der Familie ein. Die Aufnahmen sind bis zu hundert Jahre alt und zeugen sehr eindrücklich von der langen Geschichte der traditionsreichen Familie. Sie findet daneben auch alte Briefe, Ansichtskarten und Souvenirs.
Schnell versinkt Mina wieder in der Vergangenheit, denn die Bilder von ihr und Sumi aus Kindertagen spülen neue Erinnerungen nach oben. Mit einem Mal fängt Mina an, sich zu schämen. Sie versteht selbst nicht mehr, warum sie eigentlich nicht in Sumis Zimmer hineingeht. Entschlossen bringt sie den Karton mit Alben rüber in die Wohnung, steigt die Treppe hinauf - und bleibt doch vor der geschlossenen Tür stehen.
Später am Tag stürzt sie sich in eine wahre Telefonorgie, um Antiquitätenhändler, Antiquare, Kunsthistoriker, Auktionshäuser und schlicht eine gute Reinigungsfirma ausfindig zu machen, die bereit sind, kurz nach der Beerdigung zu kommen und alles von Wert zu begutachten und Preise zu schätzen. Der Gärtner und der Hausdiener helfen ihr, ein paar Möbel umzustellen. Alles, was sie sicher verkaufen will, kommt in die großen repräsentativen Räume, einige wenige Stücke, die sie vielleicht behalten will, lässt sie sich in ihre Räume bringen. So muss sie den Fachleuten dann nichts erklären, die Sortierung ist klar.
Und schließlich gräbt Mina sich durch einen Berg von bereits eingetroffener Kondolenzpost von endlos vielen Menschen, von denen sie noch nie etwas gehört hat. Sie fühlt sich geblendet von Büttenpapier mit Goldschnitt, stöhnt über handgepinselten Schriftzeichen und gruselt sich bei den künstlichen Beileidsbekundungen von ehemaligen Geschäftspartnern ihres Opas.
Die tausend Briefe sind tatsächlich fast alle verschickt worden, nachdem das Bestattungsunternehmen Großmutters Liste abgearbeitet hatte. Heute steht die Beerdigung an, und Mina freut sich schon beim Frühstück darauf, dass dieser Tag irgendwann vorüber ist. Aber sie zwingt sich, vor dem Ansturm der Gäste eine Weile still in der Familiengruft zu sitzen und darüber nachzudenken, welche positiven Seiten Großmutter hatte. Sie war doch nicht immer so ein Drachen. Oder? Ein paar Dinge und Eigenschaften fallen ihr ein, und so geht sie mit etwas weniger schlechtem Gewissen hinaus in den kalten Frühlingstag, um den Marathon zu bestehen. Die Beisetzung ist sehr feierlich, die viel zu vielen Reden sehr würdevoll und Mina schüttelt einer nicht enden wollenden Schlange von Menschen die Hand. Die Gäste, die mit Schütteln und Heucheln fertig sind, schlendern über den Rasen zu den Zelten und stärken sich. Bis Mina schließlich die letzte Hand Beileidsbekundung würdevoll entgegengenommen hat und sich auch dorthin aufmachen kann, ist das Buffet schon fast leer gegessen.
Aber was Mina am meisten nervt, sind die geschäftstüchtigen Leute, die allen Ernstes bereits heute versuchen, Mina auf sich aufmerksam zu machen, sich als gute alte Freunde darzustellen und beiläufig fallen zu lassen, welches Stück vom Kuchen sie denn gerne abbekämen. Mina ist inzwischen Amerikanerin genug, um diese Leute lächelnd auflaufen zu lassen. So weit kommts noch! Ein Hausmädchen begleitet Mina den ganzen Tag, falls sie etwas braucht oder etwas notiert werden muss. In deren Blazerjacke sammeln sich im Laufe der Stunden diverse Visitenkarten, auf die Mina heimlich ein großes X gemalt hat - damit sie dran denkt, dass sie sich um die als letztes kümmern will.
Schon am nächsten Morgen geht der Telefonterror los. Kurz entschlossen lässt sie die Nummer ihrer Großmutter sperren und den Anschluss auf eine völlig andere neue Nummer umstellen. Diese Nummer bekommen dann nur die Leute, denen sie selbst die gibt. Ans Tor kommt ein großes Schild mit der Aufschrift "Zutritt nur für Personen, die von Mrs. Mina Turner persönlich eingeladen wurden."
In aller Ruhe bespricht sie mit dem Anwalt die nächsten Schritte, geht mit den Kunstexperten durchs Haus, bestellt Gutachten und macht Termine. Alles läuft so glatt und gut, dass sie vielleicht über Ostern nach Hause fliegen kann. Nuri fragt sehr oft nach ihr, und sie vermisst ihre Familie ganz schrecklich.
Eine Woche nach der Beerdigung sieht Mina allmählich Land, weiß immer mehr, was sie selbst will, alle an der Erbabwicklung beteiligten Unternehmen machen einen guten Job, Termine für Auktionen und andere Verkäufe werden festgeklopft. Ein Umzugsunternehmen räumt in ihrem Beisein das Waldhaus aus und bringt alles zum Anwesen, was einen Wert hat und verkauft werden soll. Die Kinderzimmer von Sumi und Mina sind die einzigen Räume, die von der Reinigungsfirma nicht auf Vordermann gebracht werden, der Rest des Hauses wird geputzt, gebohnert und gewienert. Wenn die Makler erstmal Kaufinteressenten anschleppen, soll alles blitzen und blinken. Und noch immer ist sie nicht in Sumis Zimmer gewesen.
Als die letzten Fachleute und Handwerker das Haus verlassen haben, kehrt wieder Ruhe ein. Allmählich kann Mina zur Besinnung kommen. Sie lässt sich zwei Tage dafür Zeit, wandert durch den Park bis zum Bach, genießt die endlich einkehrende Frühlingswärme und denkt über die nächsten Schritte nach. Als sie am alten Baumhaus vorüber geht, wird sie nervös. Und dann beschließt sie, dass es keinen Sinn hat, noch weiter davor wegzulaufen. Sie macht kehrt, geht ins Haus, die Treppe hoch und öffnet Sumis Zimmertür, bevor sie wieder davor zurückschrecken kann.
Mina weiß nicht, was sie eigentlich erwartet hat. Jedenfalls nicht, dass alles so verblüffend normal aussieht. Das Bett ist mit Sumis Lieblingsbettwäsche bezogen und ordentlich gemacht. Der Schreibtisch ist blank und leer, Bücher und Spielzeug stehen in Reih und Glied im Regal. Der Raum wirkt gleichzeitig bewohnt und strahlt doch Kälte und Leere aus. Zögernd setzt Mina sich auf Sumis Bett und schaut sich um. Langsam formen sich Worte in ihrem Kopf.
"Wo bist du, Sumi? Warum hast du dich versteckt? Ich vermisse dich! Lass uns einen Neuanfang wagen."
Ihre Augen wandern über die gepflegte Einrichtung. So hat Sumis Zimmer noch NIE ausgesehen. Sumi konnte als Kind das Wort Ordnung nicht mal buchstabieren. Mit einem wehmütigen Lächeln schüttelt sie den Kopf. Ohne drüber nachzudenken, fischt sie mit einer schnellen Bewegung den einzigen Zettel vom Fußboden, der wohl irgendwann mal unter den Schreibtisch gesegelt und übersehen worden sein muss.
Was sie in der Hand hält, verblüfft sie. Es ist ein Rezept für irgendein Medikament, ausgestellt von einem ... Nephrologen? Mina sucht nach einem Datum. Das Rezept muss da schon seit zwölf Jahren liegen! Sie ist schlagartig hellwach. Sie stellt schnell fest, dass ein Nephrologe ein Nierenspezialist ist. Und dass das verschriebene Medikament ein ziemlich heftiges Mittel ist, das die Nierenfunktion stabilisieren soll.
Aufgeregt und zunehmend besorgt gräbt Mina das ganze Zimmer systematisch um, lässt keine Schublade, kein Buch, keine Teppichfalte aus auf der Suche nach ... was auch immer. Nach IRGENDEINER Spur, die ihr verrät, wo Sumi hingegangen sein könnte, warum sie gegangen sein könnte, und was es mit dem alten Rezept auf sich haben könnte. Frustriert steht sie schließlich am Fenster und starrt in den dämmrigen Park. Sie hat NICHTS gefunden, absolut nichts! Auch das Tagebuch nicht. Wollte Sumi wirklich nicht gefunden werden? Mit tiefem Entsetzen begreift Mina, dass damit ihr letztes Band zu ihrer Schwester gerissen ist. Sumi wollte nicht gefunden werden! Sie hat selbst dafür gesorgt. Oder?
Später ist Mina der festen Überzeugung, dass nicht sie auf die Idee gekommen ist, im Baumhaus zu suchen. In ihrer Sehnsucht meint sie, Sumis Stimme zu hören. Die Stimme ist müde, klingt verzweifelt.
"Du weißt, wo du mich suchen musst."
Immer wieder denkt Mina diesen einen Satz, bis bei ihr ankommt, was er bedeutet. Sie macht auf dem Absatz kehrt, stürmt aus dem Zimmer, die Treppe runter und fleht innerlich, dass sie sich jetzt nicht umsonst Hoffnungen macht. Ohne Jacke rennt sie durch den Nieselregen in den inzwischen völlig dunklen Park. Es ist ihr egal. Sie kennt den Weg blind, unzählige Male sind sie dort hin und her geschlichen. Mina rennt zum Baumhaus, stürmt die alte, morsche Leiter hoch und ist noch nicht halb drin, als sie schon das Brett in der Ecke umkippt. Das Tagebuch. Nein, die Tagebücher. In der Tüte stecken drei dicke Notizbücher. Sumi hat sie da gelassen. Mit zitternden Händen greift Mina nach der Tüte, klettert wieder runter und stolpert zurück durchs Dunkel ins Haus.
Gibt es doch noch eine Chance? Sumi hat dieses Tagebuch zurückgelassen. Im alten, nur Mina bekannten Versteck. Sie wollte nicht von Großmutter gefunden werden. Aber vielleicht doch von ihr? Hatte sie gehofft, Mina würde für die Suche mitkommen und sie mit Hilfe des Tagebuchs finden? Mina schluchzt auf. Hat sie damals vor zwölf Jahren ihre kleine Schwester im Stich gelassen? Weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt und irgendwie auch noch von der Hochzeit beleidigt war? Wenn sie Sumi jetzt nicht findet, wird diese Schuld ewig auf ihr lasten.
Nun zögert Mina nicht mehr. Sie hat nichts mehr zu verlieren. Sie packt das älteste Tagebuch aus und macht erstmal Daumenkino. Direkt nach ihrem letzten grünen Eintrag stoppt sie, hockt sich wieder auf Sumis Bett, holt tief Luft und fängt an, all das zu lesen, was ihre Schwester seit dem Rückgang nach Korea erlebt, gedacht, gefühlt und gelitten hat. Mina weint viel in dieser Nacht. Irgendwann schläft sie dann mit dem zweiten Notizbuch im Arm ein. Morgens rappelt sie sich wieder auf, isst kaum etwas und liest sofort weiter. All das Auf und Ab, das Sumi allein mit sich ausmachen musste, weil sie, Mina, nicht mehr für ihre Schwester da war.
Im dritten Buch wird sie dann allmählich nervös. Sumi hat grade ihre Ausbildung beendet, und dann kommt der schwärmerische Bericht von jenem verhängnisvollen Abend, als ihr Chef alle Zurückhaltung aufgegeben hat. Mina wird es kalt und heiß. Sumi wird doch nicht ... Doch. Sie hat. Über ein Jahr lang.
Allmählich nähert sich Mina dem Ende der Eintragungen. Sumi hat geschrieben, dass ihre gesundheitlichen Probleme stärker geworden sind und sie deshalb einen Arzt aufsuchen will. Jetzt kann Mina das alte Rezept auch einsortieren. Aber wenn sie krank war - warum um Himmels Willen ist sie dann gegangen? Statt sich Hilfe zu holen. Kopfschüttelnd liest Mina weiter. Verstehen kann sie das alles noch nicht.
Dann kommt der Arztbesuch, und Mina fällt fast das Buch aus der Hand. So krank? Und ... schwanger? Sumi klingt zwischen den Zeilen nur noch verzweifelt. Das letzte Blatt mag Mina gar nicht umblättern. Aber da steht es. Sie hat den Kindsvater informiert, der hat sie eiskalt abserviert, und Sumi hat beschlossen, den Rest ihres Weges nun allein zu gehen. Mina meint, heraushören zu können, dass Sumi versuchen wollte, das Kind zu retten. Aber wie wollte sie das denn schaffen ohne Job oder andere Unterstützung? So krank?
Die letzten beiden, eindeutig hastig hingekritzelten Sätze reißen Mina endgültig den Boden unter den Füßen weg.
"Mina - Ich habe eine fortgeschrittene Niereninsuffizienz. Und ich bin schwanger."
Sumi hat sich direkt an sie gewandt mit einer eindeutigen Bitte um Hilfe. Die nie gekommen ist.
Mina tritt ans Fenster und starrt in den dunklen Garten. Irgendwo da draußen ist Sumi. Die geliebte kleine Schwester. Lebt sie? Oder ist sie tot? Immerhin war sie krank, als sie ging. Irgendwo da draußen ist ein Kind. Ein Mädchen wie Nuri. Oder ein Junge wie Youngjun, Elf Jahre alt. Lebt dieses Kind? Oder ist es mit seiner Mutter vor der Zeit gestorben, weil die Krankheit stärker war als das Leben?
Eine winzige Hoffnung lässt Minas Herz erzittern. Sie war schwanger. Irgendwo muss Sumi dieses Kind bekommen haben. Eine Schwangerschaft dauert nicht zwölf Jahre! Sie muss sich auf die Suche machen. Irgendetwas müssen die Eltern damals übersehen haben. Einen Vorteil hat sie - das Tagebuch. Nein, zwei. Auch das Rezept. Drei. Das Wissen, dass Sumi krank und schwanger war. Mina beschließt, zu kämpfen um ihre kleine Schwester. Das hätte sie damals schon tun sollen. Kämpfen, Sumi nicht aufgeben. Nicht Enttäuschung und Distanzierung hätten ihre Reaktionen auf Sumis Verhalten bei der Hochzeit sein müssen. Ehrliches Interesse, ein Besuch in Korea, entschlossenes Bemühen und ein neues Band der geschwisterlichen Liebe hätten all diese Einsamkeit und Not verhindern können.
Das schlechte Gewissen brüllt aus allen Ecken. Sumi hat sich in die Einsamkeit verkrochen wie ein sterbender Hund im Wald. Aber eigentlich war das ein Hilfeschrei nach ihr, nach der großen Schwester Mina, die viel zu weit weg war. Auf der anderen Seite des Pazifik - und im Herzen.
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3.9.2021 - 15.8.2022
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