Kapitel 2 - "E" wie "Entscheidung"
Sumi ist zwölf Jahre alt, und ihre Schwester Mina ist sogar sechzehn. Dennoch lieben es die beiden Mädchen, wie zu Kinderzeiten im alten Baumhaus zu sitzen, zu reden, zu picknicken, Geheimnisse zu teilen, einfach beieinander zu hocken, ein gutes Buch zu lesen oder im Tagebuch zu schreiben.
Es ist ungewöhnlich, aber inzwischen ganz eingespielt. Sie haben ein gemeinsames Tagebuch, in dem sie mit verschiedenen Farben schreiben. Mina schreibt mit einem kühlen Grün, ihre Schrift ist leicht nach rechts geneigt und beginnt, wie die Schrift einer Erwachsenen auszusehen. Sumi schreibt mit flammendem Rot ihre noch kindliche Schrift, die ein bisschen kreuz und quer geht. Aber die Mädchen sind sich einig darüber, dass Mama und die Lehrer nicht recht haben. Das wichtigste an einer Schrift ist, dass man sie lesen kann, oder?
Vor allem Mina wird von ihrer konservativen Großmutter öfter mal gefragt, ob sie nicht zu alt dafür sei. Sie möge doch bitte langsam mal einen Rock anziehen und ihr Augenmerk etwas mehr auf hausfrauliche Qualitäten lenken. Sumi hingegen macht sowieso meistens einen Bogen um Großmutter, weil sie viel zu viel Bewegungsdrang und verrückte Ideen hat, um freiwillig bei der alten Dame still zu sitzen und Benimmregeln über sich ergehen zu lassen. Ständig unternimmt sie irgendwelche spannenden Sachen, hat große Träume, streunert durch den alten Park des Anwesens - und weiß ganz genau, dass die nächste Gardinenpredigt auf sie wartet, wenn sie nach Hause kommt. Irgendwas ist IMMER verkehrt. Und wenn es nur der dreckige Hosenboden ist, weil sie unbedingt das Steilufer zum Bach runter rutschen musste, bevor der Frosch weghüpft. Von Beulen und Kratzern und Spinnweben im Haar ganz zu schweigen ... Manchmal wartet Mina auf sie und schleust sie ins Haus, damit Großmutter sie nicht sieht. Oder sie nimmt sogar eine verrückte Aktion ganz auf ihre Kappe, damit Sumi nicht IMMER alles abkriegt. Sumi liebt Mina dafür. Und für tausend andere Sachen auch. Mina ist die beste Schwester der Welt!
Und genau das ist der Grund, warum die beiden so oft dort oben im Baumhaus hocken und ihre Eltern ihnen nie sagen, sie seien zu alt dafür. Die Familie lebt mit Papas Mutter unter einem Dach. Das Haus ist groß, der Garten noch größer. Aber kein Anwesen der Welt könnte groß genug sein, um den Argusaugen oder der spitzen Zunge von Großmutter zu entgehen.
Ihr Papa hatte spätestens dann die Achtung seiner Mutter verloren, als er sich für einen Studiengang entschied, mit dem er unmissverständlich klar machte, dass er nicht die Firma der Familie übernehmen würde. Er wollte nicht Wirtschaftsbonze werden und seine Mutter bis zu ihrem letzten Atemzug im Nacken sitzen haben. Stattdessen ist er ein sehr erfolgreicher und in der ganzen Welt gehörter Makrobiologe geworden und hat eine hoch dotierte Professur an einer der besten Universitäten des Landes inne. Seine Mutter ist noch heute, über zwanzig Jahre danach, beleidigt, hält alle Menschen, die freiwillig in der Erde wühlen oder durch ein Okular starren, für billige Gärtner und Würmchenpuler und lässt ihren Sohn das auch täglich spüren. Entsprechend angespannt ist die Situation im Haus, wenn die alte Dame mal wieder in Fahrt ist. So wie heute. Heute ist es wieder besonders schlimm, also sind die Mädchen in ihr Versteck geflohen.
Ein Motor ist von der weit geschwungenen Einfahrt her zu hören, und Sumi unterbricht ihr Schreiben, um durch die Ritzen zwischen den Brettern zu schielen. Ungewöhnlich beschwingt steigt Papa aus seinem Mercedes aus und schlendert zu seiner Haustür an der Seite des großzügigen Anwesens. Kurz winkt er seinen Töchtern zu, weil er genau weiß, wo die grade stecken. Dann betritt er mit federnden Schritten das Haus durch die Seitentür und ist verschwunden.
"Du, Mina. Irgendwas ist mit Papa, der hat so gute Laune. Wollen wir lauschen gehen?"
Mina schüttelt lächelnd den Kopf und klappt ihr Buch zu.
"Wahrscheinlich war er grade tanken und freut sich, dass der Spritpreis gesunken ist."
Ein bisschen Spott schwingt in ihrer Stimme mit. Aber natürlich kommt sie mit, wenn Sumi unbedingt ihre Neugierde befriedigen muss.
Sumi verpackt schnell das Tagebuch wasserdicht, steckt es hinter das Brett, das hier wie zufällig an der Wand lehnt, und dann rutschen die Mädchen am Seil hinunter auf den Rasen. Sie betreten das Haus durch die offene Verandatür und schleichen sich in den Flur. In der Küche klappert was. Mit angehaltenem Atem postieren sie sich neben der angelehnten Tür. Durch den Spalt kann Sumi sehen, dass Mama sich vom Herd zu Papa dreht und ihm einen Kuss auf die Wange gibt. Und dass Papa einen großen Briefumschlag hinter seinem Rücken versteckt, an dessen Klebelasche offensichtlich schon mal rumgepult wurde.
Da hört sie Mamas Stimme.
"Joaaaah ... Bis auf die Tatsache, dass deine Mutter unseren Kleiderschrank kontrolliert und versucht hat, Mina das Bügeln beizubringen - doch, es war ein netter Tag."
Gequält lächeln die beiden sich an. Sumi weiß genau, wie anstrengend das für Mama und Papa ist.
Dann stutzt ihre Mutter.
"Aber du musst mir jetzt verraten, warum du so ungewöhnlich gute Laune hast. Das ist so schön zu sehen. So habe ich dich schon lange nicht mehr erlebt."
"Ich hatte heute in meinem Büro auf dem Schreibtisch Post liegen. Post aus Tucson / Arizona. Erinnerst du dich? Ich hatte mich vor zwei Monaten dort beworben, weil ich es hier einfach nicht mehr aushalte. Und dieser Brief ist unser Freifahrschein aus dieser verhassten Zwangsjacke."
Er zieht den Briefumschlag hinter seinem Rücken hervor. Beide Mädchen starren nun durch den Türspalt und versuchen, so viel wie möglich mitzukriegen. Papa hat sich im Ausland beworben! Und seiner guten Laune nach zu urteilen, ... Papa öffnet den Brief und liest ihn seiner Frau vor. Strahlend fällt sie ihm um den Hals. Die Mädchen verstehen leider kein Wort, denn selbst Minas Schulenglisch ist nur als dürftig zu bezeichnen.
"Wollen wir es den Kindern gleich heute Abend sagen?"
"Gerne! Ich fürchte, sie werden sich doller freuen, aus den Fängen ihrer Großmutter zu entkommen, als es normalen Eltern lieb sein sollte."
Sumi liegt im Dunklen auf ihrem Bett und starrt die unsichtbare Decke an. Sie kann wie so oft nicht tief schlafen, weil sie schon seit Jahren dauernd aufs Klo muss. Stattdessen spinnt sie dann Geschichten in ihrem Kopf oder grübelt über ihr Leben.
Mama und Papa hatten vorhin nach dem Abendbrot die Bombe platzen lassen. Und jetzt überlegt Sumi, was sie auf die Frage antworten soll, wo sie denn leben will. Es ist nur fair, dass Mama und Papa das fragen, denn sie weiß wohl, dass Papa einfach nur weg will. So schnell wie möglich. Sie alle wollen das. Aber gleich bis nach Amerika? Wo von der Sprache über das Essen bis zur Kultur alles anders ist? Seoul, Daegu, Busan - das hätte doch völlig gereicht. Da gibt es auch tolle Universitäten. Aber Arizona? Wo liegt das eigentlich?
Sumi steht wieder auf und schleicht sich ins Wohnzimmer, wo der große Brockhaus im Regal steht. Sie schnappt sich die Bände "Ap bis Be" und "U bis Vm" und verschwindet wieder in ihrem Zimmer.
USA. Mal nachschlagen. Mann, ist das riesig! Das ist nicht ein Land, das sind fünfzig Länder! Eigentlich der ganze Kontinent, bis auf Kanada. Es scheint, dass dort Menschen aus der ganzen Welt leben. Na, dann sind wir als Asiaten wenigstens nicht sooo auffällig. Und wo liegt Arizona? Hier - im Südwesten. Hm, das sieht ziemlich steinig und heiß aus. Sie liest sich die Informationen über den Staat Arizona, das Klima, die Wirtschaft, die Bildung durch. Aber für eine Entscheidung ist sie jetzt einfach zu müde. Und sie will sich ja auch mit Mina beraten, was die davon hält. Wenn sie dort zusammen auf eine Schule kommen, kann es eigentlich so schlimm nicht werden.
Die Schwestern sind sich schnell einig, dass sie das Abenteuer wagen wollen. Großmutter hingegen spricht zwei Wochen lang mit keinem von ihnen ein Wort. Zu ihrer Empörung stört das niemand, denn so können sie in Ruhe planen, ausmisten, packen und ganz viel über Amerika lernen. Papa soll im Oktober dort anfangen, also werden sie nur noch zwei Monate hier sein. So lange werden sie das Gemeckere noch aushalten, das dem Schweigen folgt. Mina fängt sofort intensiv an, Englisch zu lernen. Sie holt alle älteren Schulbücher raus, lernt den Stoff noch mal von Anfang an, fragt ihrem Lehrer tausend Löcher in den Bauch. Sumi hingegen schaut lieber amerikanische Serien mit Untertiteln, weil sie rausfinden will, wie bei den Amis der Alltag so abläuft. Sie schnappt dabei wohl ein paar Redewendungen und Schimpfwörter auf, aber richtig verstehen kann sie das nicht.
Als der Container in die Einfahrt gestellt wird, damit sie ihre Kisten und Möbel verstauen können für den Transport, flippt Großmutter gepflegt aus, "weil ihr Rasen dadurch platt wird". Aber da alles schon gepackt ist und nur noch in den Container getragen und gesichert werden muss, verschwindet das Blechmonstrum schon am nächsten Tag wieder und macht sich auf die Reise nach Amerika. Von da an leben sie noch drei Wochen aus Koffern in einem Hotel, und dann geht das Abenteuer richtig los.
Als die Familie in das Taxi zum Flughafen steigt, ist Sumi so aufgeregt, dass sie ihre Schwester einfach mal kneifen muss. Sumi sieht gar nicht mehr raus. Sie hat sich mit einem kleinen Fest von ihren Freundinnen verabschiedet und schaut nur noch nach vorn. Mina hingegen gibt ihr genervt einen Schnipser an den Hinterkopf und starrt dann weiter schweigend aus dem Fenster. Sie verlassen die noble Vorstadt, rollen auf die Autobahn und bewegen sich entlang der ausgedehnten Wälder, die die Stadt umgeben. Dann überqueren sie den Fluss und biegen ab zum Flughafen. Mina scheint nicht so leicht Abschied zu nehmen. So lange sie kann, starrt sie zurück. Und als der Flieger endlich abhebt, möchte Sumi laut singen vor lauter Freude. Sie fühlt sich so kribbelig, als würde sie in einem Ameisenhaufen sitzen. Mina neben ihr hingegen hängt stumm an dem kleinen Fenster des Fliegers, bis ihre alte Heimat schließlich unter den Wolken verschwindet. Ihre Hand umklammert ein feuchtes Taschentuch. In Sumis Tasche steckt das gemeinsame Tagebuch, das sie natürlich mitgenommen haben. So wollen sie sich weiter aneinander festhalten.
Der Start in Tucson ist turbulent, da sie dort mitten ins Schuljahr platzen. Eigentlich sind sie aufgrund des koreanischen Schulsystems, das auf Drill und Tempo gepolt ist, jeweils in ihrem Jahrgang viel weiter als die Jugendlichen dort. Aber zunächst müssen sie einen Sprachtest machen, und der bringt eine böse Überraschung mit sich. Mina hat in den zwei Monaten so viel Englisch gelernt und aufgeholt und ein so gutes Entlassungszeugnis mitgebracht, dass ihr zugetraut wird, sich im normalen Jahrgang einzufinden und schnell den Anschluss zu schaffen. Aber Sumi bekommt die Quittung für ihre Faulheit. Sie kann fast kein Englisch und landet darum nicht an Minas Schule im untersten Jahrgang sondern im höchsten Jahrgang der Elementary School. Allein unter Babies. Vollkommen überfordert von den vielen neuen Eindrücken.
Sie weiß gar nicht, wo sie anfangen soll mit Lernen. Aber warum soll sie sich auch anstrengen? Dieses Halbjahr ist eh nicht mehr zu retten. Die anderen haben schon alle Freunde. Sie wird ein paarmal ausgehorcht, kann nicht richtig antworten, hat auf die kindischen Pausenspielchen der anderen keine Lust und kapselt sich bald ab. Und ehe sie es begriffen hat, ist sie sogar in diesem Jahrgang tüchtig abgehängt, weil sie einfach mit der Sprache nicht vorwärts kommt. Nach ein paar Wochen machen sich Frust und Wut in ihr breit, sie kooperiert immer weniger, weigert sich zu sprechen und fängt an, die Schule zu schwänzen.
Die Ermahnungen der Eltern werden deutlicher, Mina hat zwar Mitleid, aber keine Zeit, ihr zu helfen oder sie zu bedauern. Denn Mina ist angekommen in Amerika, beherrscht bald ausreichend die Sprache, um mithalten zu können, geht zu den Cheerleadern, hat eine beste Freundin, macht den Führerschein und gibt richtig Gas, damit sie im Sommer ohne Probleme von der Junior High an die Senior High wechseln kann. Viel Zeit für Sumi bleibt da nicht. Und die spürt das sehr deutlich. Mina schreibt kaum noch mit grün im Tagebuch, es sind fast nur noch flammend rote Eintragungen von Sumi, die all ihren Frust rauslässt. Sumi fühlt sich einsam in Tucson, und auch ein bisschen im Stich gelassen. Mina bleibt die beste Schwester der Welt, aber der enge Kontakt wie in Korea fehlt Sumi ganz gewaltig.
Sumis Halbjahreszeugnis ist eine Katastrophe, die sie langsam erahnen lässt, dass sie irgendwo falsch abgebogen ist. Kurz vor Ostern werden Mama und Papa dann zum Gespräch gebeten, und die Lehrer sind sehr deutlich. Sumi müsse nur mit Ach und Krach nicht den Jahrgang wiederholen sondern könne auf die Junior High wechseln, weil sich die Lehrer einig seien, dass ihre einzige Chance ein Neuanfang an einer anderen Schule sei. Aber große Hoffnungen für eine Wende machen die Lehrer den Eltern auch so nicht. Und dann sprechen sie die Frage aus, mit der keiner gerechnet hat:"Meinen Sie nicht, dass es Ihrer Tochter in Korea besser ginge? Sie haben doch noch Verwandte dort, oder?"
Sumi ist entsetzt, als die Eltern ihr nach dem Abendbrot diese Frage ganz ehrlich weitergeben.
"Möchtest du lieber zurück nach Korea, wenn es dir hier so schwer fällt, Fuß zu fassen?"
Aber die Vorstellung, wieder bei Großmutter zu landen, ohne die Eltern und Mina, ist so ätzend, dass Sumi sich lieber eine Weile richtig Mühe gibt. Sie bittet sogar über die Osterferien um einen Privatlehrer in Englisch, damit sie endlich den Anschluss bekommt. Vergebens. Sie wird einfach zu schnell ungeduldig und wütend, sie gibt viel zu schnell auf.
Besorgt sitzen die Eltern einige Wochen später im Wohnzimmer. In zwei Wochen beginnen die großen Sommerferien, Sumi konnte das Steuer nicht mehr rumreißen. Die Nachhilfe konnte nicht mehr greifen. Ihre ganze fröhliche Unbeschwertheit ist verschwunden. Die Situation und die Noten ihrer jüngeren Tochter machen sie ratlos. Und nun müssen sie eine Entscheidung fällen. Hier behalten oder zurückschicken?
Sumi schläft in dieser Nacht noch schlechter als sonst. Unten in der Eingangshalle stehen ihre gepackten Koffer, Mama wird für zwei Wochen mitkommen, um ihr den Wiedereinstieg bei Großmutter zu erleichtern, und Mina ist zum Abschied für diese Nacht zu Sumi ins Bett gekrabbelt. Sie hält Sumi ganz fest im Schlaf, und das tut gut. Morgen geht der Flieger zurück nach Korea. Zurück in die Stadt inmitten der Wälder, in die Stadt ihrer Kindheit, zu ihren Schulfreundinnen. Und zu Großmutter, die sich bis hierher hörbar die Hände reibt und wild entschlossen ist, aus Sumi eine echte, wohl erzogene, koreanische junge Dame zu machen.
Das Frühstück am Morgen verläuft ungewöhnlich schweigend für diese sonst so lebhafte Familie. Der Abschied von Papa ist furchtbar hart. Am Flughafen muss Sumi sich dann auch von Mina trennen. Die Schwestern brechen in Tränen aus und klammern sich aneinander, als müssten sie ertrinken. Beim Einchecken halten sie sich fest an der Hand.
Kurz, bevor Mama und Sumi durch die Kontrolle gehen, hält Mina ihr das Tagebuch hin. Sumi hatte noch einen letzten Eintrag geschrieben und das Tagebuch auf Minas Schreibtisch gelegt.
"Nimm es mit, Sumi. Ich glaube einfach, dass du dieses Ventil jetzt dringender brauchst als ich. Danke für deine lieben Worte, ich habe sie mir abfotografiert und werde sie mir neben mein Bett hängen, damit ich sie nicht vergesse. Und hab keine Angst. Wir werden in allen großen Ferien zu Besuch kommen. Und dann hocken wir uns wieder gemeinsam ins Baumhaus und machen alles wie immer. Halt die Ohren steif, Schwesterlein. Du schaffst das."
Sie müssen wieder weinen, als Sumi das Tagebuch in ihr Handgepäck steckt und auf die Kontrolle zugeht. Sumi ist diesmal nicht aufgeregt. Sie ist müde, traurig und mutlos und hat eine Heidenangst vor dem Leben mit Großmutter. Aber da muss sie nun durch.
Zahllose Briefe mit Erzählungen, Gedanken, Geheimnissen und Treueschwüren überqueren seitdem den Pazifik. In jeden größeren Ferien kommt die Familie zu Besuch nach Korea, und sie verbringen wunderbare Schwesterntage mit der Familie in den Bergen oder am Meer. Die Zeit scheint ihrem engen inneren Band nichts anhaben zu können.
Das Leben bei Großmutter ist hart. Die streng konservative alte Dame ist eher ein furchterregender Drachen als eine fürsorgliche Oma. Das hilft Sumi allerdings, ihre Ziele fest ins Auge zu fassen und darum zu kämpfen. Sie will sich schnell ein eigenes Leben aufbauen. Selbst entscheiden. Sumi hat vom ersten Tag an die Zähne zusammengebissen, ist unter den Schimpfkanonaden und Benimmkursen der Großmutter hinweggetaucht, hat sich auf die Schule konzentriert, wieder Anschluss bei ihren Freundinnen gefunden. Sie ist leise geworden, klettert nicht mehr auf Bäume, spinnt keine verrückten Träume mehr aus, war nie wieder am Bach. Äußerlich wird sie die wohl erzogene junge Dame, die Großmutter sich wünscht, innerlich brennt sie vor Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie ist fest entschlossen, ihr Leben neu unter die Füße zu kriegen, und kann darum nach ein paar Jahren die Middle School mit einem guten Abschluss verlassen. Die High School spart sie sich dann. Studieren will sie eh nicht, Ausziehen ist die Devise!
Jetzt macht sie eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin in einer Anwaltskanzlei. Eigentlich witzig - ausgerechnet sie, die sich damals so schwer getan hat mit der neuen Sprache. Aber jetzt hat sie eine Motivation zu lernen. Sie hat nette Kollegen, interessante Aufgaben und einen tollen Chef. Sehr toll. In ihrer Freizeit nutzt sie jede Nische, um der Kontrolle der alten Schachtel zu entkommen und verlässt oft heimlich das Haus. Sumi ist geschickt und erfinderisch. Die Großmutter, die Eltern und Mina ahnen davon nichts. Nur das inzwischen dritte Tagebuch weiß es. Aber da schaut Mina bei den Besuchen nicht mehr rein. Eigentlich ganz gut so.
Mina hat inzwischen erfolgreich von der Junior High auf die Senior High gewechselt, hat jetzt ihren Abschluss in der Tasche und wird Sonderpädagogik studieren. Sie will eine gute Lehrerin für Kinder mit Handycap werden. Sie zieht das Studium in Rekordzeit durch.
Sie ist seit zwei Jahren mit einem Kommilitonen zusammen, der nur wenig älter ist als sie. John ist ein Goldschatz. Einmal hat Mina ihn nach Korea mitgebracht, damit er Großmutter kennenlernt. Er war nett zu Sumi und hat fröhlich mitgelästert, als sie sich zu dritt ins Baumhaus gequetscht haben. Die beiden sind dann schnell wieder abgereist, weil Mina im Examen steckte.
Jetzt kann sie sich auf die letzten Vorbereitungen für ihre Hochzeit konzentrieren. Großmutter hat sie nicht eingeladen. Die winkt aber auch selbst ab. Viel zu lang und beschwerlich, diese Reise! Sumi ist natürlich eingeladen. Sie wird Minas Brautjungfer sein. Und schon eine Woche vorher hinfliegen, damit sie Mina noch ganz viel helfen kann.
Nervös geht Sumi am Gate auf und ab. Sie ist nie wieder in den Staaten gewesen, seit sie damals aufgegeben hatte und zurück nach Korea gezogen war. Zu tief war die Demütigung durch ihr Versagen, zu schwer war jeden Sommer wieder der Abschied von der geliebten Schwester gewesen. Und ganz allmählich sind sie einander entglitten.
Nun wird sie zu Minas Hochzeit fliegen - mit sehr gemischten Gefühlen. Erst, als sie die Einladung in der Hand hielt, war ihr bewusst geworden, dass sie insgeheim immer auf eine Rückkehr der Älteren gehofft hatte. Sie spürt wieder das Gefühl von Verrat, das ihr damals im Flieger nach Korea die Kehle zugeschnürt hatte. Sumi freut sich für Mina. John ist ein feiner Kerl. Aber der endgültige Verlust, der mit dieser Hochzeit besiegelt wird, schmerzt. Bitter bereut Sumi, dass sie damals nicht wie ihre Schwester sofort losgelernt und sich angestrengt hat. Sonst hätte sie sicher bleiben können ...
Ob sie sich noch viel zu sagen haben werden? Ob sie noch so unbeschwert miteinander umgehen werden wie früher? Haben das abgeschlossene Studium und die Brautzeit Mina sehr verändert? Sumi sehnt sich nach der Schwester von früher, aber viel Hoffnung hat sie nicht. Also wird sie nicht viel von sich erzählen. Mina ist die Braut. Mina steht im Mittelpunkt. Mina soll ihr Fest genießen. Ihre eigenen Träume und Gedanken haben auf dieser Hochzeit nichts zu suchen. Sumi strafft die Schultern und wendet sich dem Gepäckband zu, das sich endlich mit leisem Rumoeln in Bewegung setzt.
Ihr innerer Kontakt war in den letzten beiden Jahren sowieso lockerer geworden. Mit der Zeit sind die Briefe seltener, kürzer und weniger inhaltsreich geworden. Vier Jahre Altersunterschied und die große Entfernung konnten eben doch nicht durch ein oder zwei jährliche Familienurlaube überbrückt werden. Sumi erzählt in den selten gewordenen Briefen lange nicht mehr alles, was sie so treibt. Sie misstraut Mina ja nicht. Aber es ist eben nicht mehr so überlebensnotwendig, mit der Schwester alles zu teilen, sich Rat von der Älteren zu holen, sich über Großmutters Launen auszulassen.
Sumi, die noch vor fünf Jahren so frech, fröhlich, verspielt und mitteilungsbedürftig war, ist stumm geworden. Sie hat gelernt, dass ihr Schweigen sie schützt vor den aufdringlichen Meinungen und Forderungen anderer. Speziell vor Großmutter. Sumi hat gelernt, höflich lächelnd zu funktionieren und stillschweigend ihr eigenes Ding zu machen. Das wird ihr helfen bei dieser Hochzeit. Lächeln. Müde fischt sie ihren Koffer vom Band und beeilt sich nicht, nach draußen zu gehen. Sie fürchtet sich vor dem Moment des Wiedersehens.
Endlich sieht sie Mina im Gewusel all der Menschen in der Ankunftshalle. Die hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, selbst zum Flughafen zu kommen. Ganz fest nimmt sie Sumi in die Arme. Erschöpft vom langen Flug und der Zeitverschiebung lächelt Sumi sie an und fängt sofort an zu reden, bevor Mina unbequeme Fragen stellen kann.
"Na, Schwesterherz? Schon ganz aufgeregt? Ich bin gespannt, was du so alles vorbereitet hast. Sag mir bitte, wenn ich dir bei irgendwas helfen kann!"
"Schön, dass du da bist. Aber vergiss für einen Moment mal die Hochzeit. Davon werden wir in den nächsten acht Tagen noch mehr als genug haben. Ich habe dich sooo lange nicht gesehen. Ich möchte jetzt vor allem wissen, wie es DIR geht. Was du so treibst in deiner Freizeit. Was dir heute wichtig ist."
Genau das wollte sie nicht!
"Ach, ich bin doch nicht wichtig."
Energisch unterbricht ihre Schwester sie.
"Doch, bist du! Ich habe festgestellt, dass ich kaum noch weiß, wer du bist. Ich bin fest entschlossen, das zu ändern, weil du mir viel bedeutest!"
Sumi weiß nicht mehr, wo sie hinschauen oder was sie sagen soll. Also schweigt sie und gähnt demonstrativ. Entschlossen schnappt Mina sich den Koffer, hakt sich mit dem anderen Arm bei Sumi unter und lotst sie gut gelaunt zum Auto.
Auf der Fahrt zum Haus von Mama und Papa überschlagen sich Sumis Gedanken. Nicht gut. Gar nicht gut. Sie kann doch jetzt nicht acht Tage lang mauern! Naja, sie kann Mina ja von ihrem Alltag erzählen. Vom Büro. Von der Ausbildung. Sie können über Großmutter lästern. Das wird schon. Sie muss nur aufpassen, dass sie vor lauter Müdigkeit nicht unvorsichtig wird.
Es wird eine ungemütliche Woche. Sie spürt deutlich, dass Mina echtes Interesse an ihr hat und wirklich wissen will, wie es ihr geht. Aber über Smalltalk hinaus schaffen sie es nie. Ja, sie fühlt sich verraten. Verraten von der Schwester, die doch für all das gar nichts kann. Sie gibt sich Mühe, ist die fleißigste, strahlendste Brautjungfer, die man sich denken kann, wuselt und macht und tut. Und fühlt sich beschissen, weil sie die Schwester, die ihr einst so nahe war, so gnadenlos auflaufen lässt.
Am Abend vor der Hochzeit geht Sumi zu Minas Zimmer. Sie muss noch die Botin spielen. Mina lässt sie rein und starrt erstaunt auf den Brief, den Sumi ihr entgegen hält.
"Von Großmutter. Sie hat darum gebeten, dass ich dir den Brief genau jetzt gebe und wieder gehe, und dass du ihn jetzt sofort liest."
Sofort brechen die Schwestern in schallendes Gelächter aus. Sie können sich lebhaft vorstellen, was da alles drin steht. Sichtlich erleichtert, dass sie zum ersten Mal in dieser Woche unbeschwert miteinander lachen, schmeißt Mina den ungeöffneten Brief auf ihren Schreibtisch und zieht Sumi zum Bett.
"Komm, setz dich. Morgen nach der Hochzeit verschwinden wir in die Flitterwochen, und ich hab immer noch nicht gehört, wie es dir jetzt geht. Los, erzähl!"
Sumi erschrickt. Sie hatte geglaubt, diese Gefahr sei vorüber. Also plaudert sie blind drauflos, streut hier und da ein paar echte, aber unverfängliche Informationen ein und schifft geschickt um alle weiteren Fragen drumrum. Doch mit der Zeit schaut Mina frustriert. Oder sauer? Oder enttäuscht? Sumi kann ihren Gesichtsausdruck nicht so ganz deuten. Sie verstummt, und Mina ergreift die Gelegenheit.
"Was ist nur aus uns geworden, Sumi? Das fühlt sich alles so kalt und distanziert an. Was haben wir uns früher alles anvertraut! Die Kämpfe mit Großmutter, Dein tolles Abschlusszeugnis. Dann hast du zum Entsetzen von Großmutter eine "popelige Ausbildung als billige Tippse" angefangen. Du fühlst dich in deinem Ausbildungsbetrieb wohl. Und doch wirkst du irgendwie unglücklich."
Sumi schweigt. Die Briefe. Die vielen Briefe von Mina, die sie am Anfang noch ins Tagebuch geklebt hat. Und ihre Antworten hat sie dazu geschrieben, bevor sie sie abgeschickt hat.
Mina merkt zum Glück nicht, wie schwer es ihrer Schwester fällt, daran zu denken. Aber sie hakt nach.
"Beim Umzug habe ich den Karton mit all deinen Briefen gefunden. Und habe sie alle nochmal gelesen. Mit Schmunzeln habe ich festgestellt, dass wir früher Fotos von Lieblingscafes und guten Freunden ins Tagebuch gelegt haben. Dass wir bis aufs Haar genau das ach so süße Gesicht unseres ersten Schwarms beschrieben, uns beim Kauf von Klamotten beraten und uns Schminktipps gegeben haben. Wir haben geschwärmt, gemeckert, philosophiert und getratscht. Doch in den letzten beiden Jahren hat sich das reduziert auf Geburtstage, Weihnachten, Gratulationen zu bestandenen Prüfungen und Neujahrsgrüße. Und als ich genau zwischen den Zeilen zu lesen versucht habe, musste ich feststellen, dass ich nicht mehr verstehe, was da steht. Was dich bewegt. Was dein Leben ausmacht. Ich hab mich so gefreut auf die Tage mit dir, aber ich komme überhaupt nicht an dich ran! Sumi, du bist mir immer noch wichtig. Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich dich in den letzten Jahren mit irgendwas verletzt? Bitte sag mir doch, was hier grade schief läuft!"
Sumi hat eine Weile die Tränen heruntergeschluckt, aber nun laufen sie doch.
"Nein, Mina. Ganz bestimmt nicht, keine Sorge. Zwischen uns ist alles in Ordnung."
Sie kann ihrer Schwester doch nicht vorwerfen, sie hätte sie verraten, indem sie John heiratet, anstatt zurück nach Korea zu kommen. Am Abend vor ihrer Hochzeit! Unmöglich.
Weinend liegen sich die beiden jungen Frauen in den Armen und drücken sich fest. Wie damals am Flughafen. Nach und nach fällt Sumi dann ein, was sie noch erzählen könnte, um dieses schmerzhafte Loch zu überbrücken, denn sie spürt, dass Mina es wirklich ehrlich meint. Also erzählt sie mehr, worüber sie so nachdenkt, was sie als erstes machen will, sobald sie ausgezogen sein wird, wovon sie träumt. Das beruhigt Mina wieder etwas, und so können sie sich in Einigkeit eine gute Nacht wünschen und beide schlafen gehen.
Der Tag der Hochzeit bricht an, die beiden Schwestern ertrinken in einem Wirbel von letzten Handgriffen, großen Blumensträußen und verirrten Hochzeitsgästen, die zur Kirche gelotst werden müssen. Panik bricht aus, als der Lieferant der Hochzeitstorte vermeldet, er stehe im Stau. Sumi beruhigt hier, telefoniert da, findet unentbehrliche Nichtigkeiten dort und ist wie ein Fels in der Brandung. Aber schließlich steht sie doch mit ihrer strahlend schönen Schwester vorm Spiegel.
"Wow! Es hat nie eine schönere und glücklichere Braut gegeben als dich. Ich freue mich so für dich, Mina."
Draußen steht ein schicker weißer Mercedes mit einem riesigen Blumenbouquet auf der Motorhaube. Papa hupt ungeduldig, kommt ihnen entgegen und hat plötzlich Tränen in den Augen, als er Mina sieht. Er braucht einen Moment, um sich zu fassen, bevor er der Braut und ihrer Brautjungfer in das Auto helfen und sie zur Kirche fahren kann.
Den Gottesdienst nimmt Sumi kaum wahr. Zuverlässig sortiert sie den Schleier, nimmt, hält oder gibt den Brautstrauß, bewundert den Ring, nimmt Geschenke entgegen, strahlt in die Gegend, sobald eine Kamera vor ihr auftaucht - und fühlt sich den ganzen Tag lang so verloren, als säße sie auf einer einsamen Insel. Schließlich fängt sie den Brautstrauß nicht, nimmt ihre Schwester zum Abschied in den Arm und ist froh, dass sie schon am nächsten Tag zurück nach Korea fliegen muss, weil sie nicht länger frei bekommen hat.
Mit neuem Eifer stürzt Sumi sich in ihre Ausbildung, nur nicht nachdenken, nur nicht erinnern. Als sie die Prüfungen mit ausgezeichneten Leistungen abschließt und übernommen wird, nimmt sie ein paar Flaschen Sekt aus Großmutters Keller mit ins Büro und feiert nach getaner Arbeit ein bisschen mit den Kollegen.
Sogar ihr toller Chef feiert mit. Und der tolle Chef bleibt auch da, als alle anderen weg sind, hilft ihr beim Aufräumen. Dann nimmt er sie in die Arme und lächelt sie an.
"Wie lange habe ich jetzt auf DIESEN Moment gewartet! Dass du endlich fertig bist. Dass wir frei sind."
Sumi erstarrt in seinen Armen. So vieles wird ihr auf einmal klar! Sie mag ihren Chef sehr, hat ein bisschen von einer Zukunft geträumt - und sich doch immer wieder zurückgepfiffen. Der Mann ist eine bekannte Größe in der Stadt - verheiratet und Vater von zwei Kindern. Das MUSS doch schief gehen! Oder? Ganz langsam entspannt sie sich in seinen Armen, genießt seine Bewunderung und seine Komplimente - und beschließt, die Gelegenheit zu ergreifen.
Ein Jahr lang schwebt Sumi auf Wolke 7, genießt Aufmerksamkeiten, kleine Geschenke und kribbelige Heimlichkeiten und stört sich überhaupt nicht daran, dass sie versteckt werden muss. Sie fühlt sich sicher bei ihm. Sie sucht sich eine hübsche kleine Wohnung, will bald umziehen, endlich raus aus der großmütterlichen Überwachungsanstalt. Der verrät sie von all dem noch nichts, damit es kein Theater gibt.
Nur eines macht ihr Sorgen. Schon seit ihrer Kindheit musste sie sehr häufig auf Toilette gehen, und das ist mit den Jahren schleichend mehr geworden. Neuerdings hat sie nun auch Schmerzen dabei und beschließt, der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Immer ist sie vertröstet worden nach dem Motto "schwache Blase - haha". Das reicht ihr nun nicht mehr als Erklärung. Sie geht gar nicht erst zu dem alten Hausarzt, sucht sich gleich einen Urologen, dann einen Nephrologen weit weg in einem anderen Stadtteil und hofft, dass sie endlich Antworten bekommt.
Und sie bekommt Antworten. Der Arzt hört ihr genau zu und bittet sie anschließend zum Ultraschall. Er hat eine Sorgenfalte auf der Stirn, das behagt ihr gar nicht. Schweigend und angespannt schallt er Sumis Nieren, die Blase und den gesamten Unterleib, zuckt kurz zusammen - und eröffnet ihr, dass sie eine beidseitige fortgeschrittene Niereninsuffizienz habe. Und ungefähr im dritten Monat schwanger sei.
Die folgenden zwei Wochen sind ein immer währender Alptraum. Der Nierenspezialist eröffnet Sumi, dass sie nur eine Überlebenschance habe, wenn sie "sich von dem Kind trenne". Sie brauche dringend Medikamente und wäre wahrscheinlich schon in wenigen Jahren abhängig von der Dialyse. Da sei eine Schwangerschaft das letzte, was sie brauche. Der Arzt schärft ihr ein, dass sie sofort ins nächste Krankenhaus gehen solle, sobald sie das Gefühl habe, sie würde Wasser im Gewebe einlagern, geschwollene Beine und Arme bekommen und müsse deutlich seltener zur Toilette. Das sei dann ein Anzeichen von Nierenversagen, und dann sei es höchste Eisenbahn. Er redet mit Engelszungen auf sie ein, aber Sumi ist so verwirrt, dass sie kaum zuhört, bis sie sich verabschiedet mit den Worten:"Ich überlegs mir und melde mich wieder."
Zwei Tage lang verdaut sie die furchtbare und gleichzeitig schöne Nachricht. Dann verabredet sie sich mit ihrem Geliebten. Er wird sicher Rat wissen und ihr das notwendige Geld geben, damit sie sofort mit einer durchgreifenden Behandlung beginnen und vielleicht sogar ihr Kind retten kann. Denn dieses ungeborene Kind scheint ihr wie ein Geschenk, auf das sie gut aufpassen will. Wenn es irgendwie möglich ist, will sie das Kind behalten.
Seine Reaktion ist allerdings deutlich anders, als sie erwartet und erhofft hat. Er macht ihr unmissverständlich klar, dass er keinerlei Verantwortung für sie und das Kind übernehmen werde, dass sein Ruf auf dem Spiel stehe und dass sie mit sofortiger Wirkung entlassen sei. Ohne weitere Worte setzt er Sumi an der nächsten Straßenecke raus und fährt davon. Als Sumi am nächsten Tag ins Büro kommt, sind schon alle informiert, dass sie gekündigt habe, um zu ihren Eltern in die USA zu ziehen. Sie bekommt ein paar Lobreden, gute Wünsche, ein sehr wohlwollendes Zeugnis, einen etwas dickeren Briefumschlag und darf ihren Schreibtisch ausräumen. Dann steht sie draußen. Vor dem Nichts.
Wie jeden Morgen verlässt Sumi auch heute das Haus, obwohl es keinen Ort mehr gibt, wo sie hingehen könnte. Ruhelos streift sie durch die Stadt und sucht nach einer Lösung. Den hereinbrechenden Frühling bemerkt sie gar nicht. Ununterbrochen kreisen ihre Gedanken um ihre Zukunft und um das Kind. Großmutter kann sie noch eine Weile etwas vorspielen, aber irgendwann wird man es sehen. Soll sie Mama und Papa einweihen? Oder Mina um Hilfe bitten? Sumi weiß nur eins: die Wohnung kann sie sich nun nicht mehr leisten, und bei Großmutter kann sie nicht bleiben.
Eine Woche lang hadert sie mit sich, dann fast sie einen Entschluss. Sie fängt an zu telefonieren, kann schließlich für eine Weile bei einer Freundin unterkommen. Am Nachmittag geht sie nach Hause, isst wie immer mit Großmutter zu Abend, packt ihre Sachen, Wertsachen und ein paar wichtige Papiere und verlässt im Dunkel der Nacht das Haus. Nur kurz geht sie noch in den Park, klettert ins alte Baumhaus und schreibt im Schein ihres Handys mit zitternder Hand zwei Sätze ins Tagebuch.
"Mina - Ich habe eine fortgeschrittene Niereninsuffizienz. Und ich bin schwanger."
......................................................
31.8.2021 - 15.8.2022
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top