Kapitel 14 - "E" wie "Einschulung"
Obwohl sie so spät ins Bett gegangen sind, wacht Jimin sehr früh auf. Heute wird ein spannender Tag. Nach dem Frühstück müssen sie zu Mr. Horton, um danke zu sagen. Hoffentlich ist der Zaun schon fertig! Vor lauter Aufregung geht er erstmal zu Hunter zum Kuscheln. Das beruhigt ihn. Dann deckt er mit Nuri den Tisch und hilft, alles fürs Frühstück reinzutragen. Jimin hat das Gefühl, dass es überall kribbelt an ihm, weil er so hibbelig ist.
Onkel John muss heute nicht zur Uni und hat darum auch Zeit.
"Jimin? Wir haben in den letzten Tagen ganz viel nachgedacht, was du als nächstes brauchst. Und wir hatten zwei Ideen. Die eine kennst du eigentlich schon - wir wollen versuchen, für dich eine Therapeutin oder einen Therapeuten zu finden, damit all das Schlimme von damals endlich aus deinem Kopf raus kann.
Und die andere Idee ist, dass ... Wir haben dich und Hunter beobachtet in den letzten Tagen. Der Hund tut dir so gut! Darum haben wir zwei Leute gefragt, ob sie Hunter ausbilden können als Begleithund für dich. Das lässt dich sicherer fühlen. Du lernst dabei ganz viel über diese Tiere. Die Schule berät heute darüber, ob sie so einen Begleiter für dich erlauben. In einer anderen Klasse gibt es schon einen Blindenhund, also hast Du durchaus Chancen."
"Dann ... dann könnte ich Hunter sogar mit in die Schule nehmen?"
WOW! Jimin staunt Bauklötze. Das ist noch toller als alles, was er sich wünschen könnte. Sofort packt ihn die Neugierde.
"Was macht ein Begleithund denn? Das hab ich ja noch nie gehört."
Onkel John grinst und erklärt geduldig, was er über Service Dogs verstanden hat.
"Das heißt, dass sich Hunter gar nicht mit Rex prügeln und beißen muss, um mich zu verteidigen. Sondern dass er einfach immer bei mir ist, damit ich ihn spüre und dann weniger Angst habe und er sich dann gar nicht mit Rex beißen muss, weil ich nämlich nicht schreie."
"Ganz genau. Das tut er im Grunde ja schon jetzt. Aber in dem Training wird er lernen, noch besser zu spüren, was du grade brauchst. Er wird lernen, in egal welcher Situation ganz ruhig zu bleiben und sich auf dich zu konzentrieren. Das ist in einer großen Schule schon eine richtige Leistung für einen Hund. Er darf sich von keiner Fliege, keiner Katze, keinem Essensgeruch, keinem irgendwas und natürlich von keinem anderen Hund ablenken lassen. Aber es ist genau das, was du brauchst.
Heute Nachmittag kommen nacheinander zwei Leute, die Hunter und dich kennen lernen wollen, damit sie sehen, ob Hunter das schaffen kann. Und du selbst wirst dabei ganz, ganz viel über Hunde lernen. Und natürlich darfst du hinterher auch sagen, ob du den einen oder den anderen Trainer lieber magst."
Mit Hund in die Schule! Das ist cool. Und keine Angst vor Rex haben, weil sein Begleiter ihn mutiger macht. Das ist noch cooler. Jimin hat einen Glücksknubbel im Bauch. Er strahlt von einem Ohr bis zum anderen.
"Kommt Hunter jetzt gleich auch mit?"
Eine Stunde später rollen sie auf den Lehrerparkplatz, wo sie bereits von Mr. Horton erwartet werden. Ohne Rex. Jimin greift Hunter ins Fell und krabbelt aus dem Auto.
"Na, da sind ja die zwei Ausreißer! Mensch, Jimin. Was bin ich froh, dass ich euch gefunden habe. Bist du wieder okay? Oder willst du immer noch so schnell wie möglich weg?"
Mr. Horton geht vor Jimin in die Hocke, schaut ihn freundlich an und krault gleichzeitig Hunter unterm Kinn.
"Und du, Racker, du hast Jimin gefunden, beschützt und nach Hause gelockt. Du bist ein wahrer Held auf vier Pfoten und sorgst gut für deine Menschen."
Jimin dreht sich nochmal zur Rückbank. Dort liegt das große, aufgerollte Bild für Mr. Horton. Die Schleife drumrum hat er selbst gemacht.
"Das ... das ist mein Dankeschön, dass Sie mir geholfen haben. Wenn ich Angst bekomme, werde ich dumm im Kopf, und dann kommt sowas dabei raus. Selbst wenn ich am Flughafen angekommen wäre, Ich wäre nie in ein Flugzeug gekommen. Und Hunter schon gar nicht. Und ich muss auch nicht immer weglaufen. Ich darf da sein, wo ich hingehöre. Hier ist jetzt meine Familie, also werde ich das auch mit Rex schaffen. Wenn Hunter damit klar kommt."
"So klingst du schon viel besser, Jimin. Und ich weiß, dass dir das nicht leicht fällt. Das ist ein großer Schritt. Also lass uns zum Garten gehen und schauen, wie Hunter und Rex aufeinander reagieren. Sie haben beide ein Anführerwesen und müssen erstmal ihre Rangfolge ausknobeln."
Jimin zögert. Der Zaun ...
"Der Zaun ist vorhin fertig geworden. Falls du daran denkst. Ich bin gespannt, was du zu der Klingel sagst."
Der Hausmeister nimmt Jimins Geschenk entgegen.
"Aber erst schaue ich mir noch dein Bild an."
Mr. Horton rollt das Papier auf, und Jimin wartet ungeduldig, wie er reagiert. Aber erstmal kommt gar nichts. Mr. Horton staunt eine Weile das Bild an, und Jimin kribbelt es schon wieder überall.
"Mensch, das ist ja ein Kunstwerk! Und du hast an alles gedacht. ... Rex liegt da so schön entspannt auf dem Rasen. Das ist gut! Warts ab - wenn ihr euch erstmal kennt, kannst du total gelassen zur Haustür laufen, und Rex wird sich nicht rühren. ... Ich danke dir sehr für dieses Bild."
Als sie beim Hausmeistergarten angekommen sind, staunen Jimin und Tante Mina. Mr. Horton hat sich richtig Mühe gegeben. Der Zaun ist aus weißen Holzbrettern, und überall wachsen bunte Blumen hindurch, weil er einfach noch ein paar dazugepflanzt hat. Am Gartentor ist ein großer weißer Holzbogen, der dann auch noch vollwachsen soll. Neben dem Tor ist ein weißer Metallkasten mit einem Schloss davor.
"So, pass auf. Das hier ist der Schlüssel zu dem Kästchen. Mach es mal auf."
Neugierig nimmt Jimin den kleinen Schlüssel entgegen und schließt das Vorhängeschloss auf. Als er die Klappe öffnet, sieht er einen normalen Klingelknopf.
"Warum ist die Klingel eingeschlossen?"
"Damit nur du dran kommst. Ich kenne doch meine Pappenheimer. Ich hätte für den Rest meines Lebens keine Ruhe mehr, weil Tag und Nacht irgendwelche Spaßvögel klingeln würden. Der Direktor, alle Lehrer und du bekommen so einen Schlüssel. Sonst niemand.
Ich gehe jetzt in den Garten, schließe das Tor und lasse Rex nach vorne. Und dann wollen wir mal sehen, wie gut es läuft mit den beiden."
Jimin geht vorsichtshalber mit Tante Mina einige Schritte zurück, während Mr. Horton ums Haus geht. Statt seiner kommt wenige Minuten später Rex um die Ecke geschossen. Er entdeckt den fremden Hund sofort und kommt zum Tor. Er stemmt seine Vorderpfoten dagegen, aber das Tor hält feste zu, er kommt nicht durch. Auf dieser Seite reagiert Hunter sofort. Er schaut sich um, ob seine beiden Menschen bei ihm sind, und stellt sich sehr ruhig und groß zwischen sie und das Tor.
Jetzt muss Jimin also klingeln. Dazu muss er ganz ans Tor rangehen. Au weia!
Jimin kämpft mit sich. Rex kann nicht raus zu ihm! Er geht ein paar Schritte vorwärts. Nicht aufgeben, er will das schaffen, Mr. Horton ist so nett. Und Hunter ist bei ihm! Hunter schaut unverwandt auf Rex und drückt sich dabei an Jimins Bein. Er spürt wohl, dass Jimin ihn jetzt braucht. Ganz vorsichtig, immer mit seinen Augen bei Rex, geht Jimin zum Tor, schließt mit zittrigen Fingern das Kästchen noch mal auf und drückt auf den Klingelknopf. Er muss sich echt zusammenreißen, nicht sofort wieder rückwärts zu rennen. Das Tor ist fest zu, Rex kann nicht zu ihm! Die Haustür öffnet sich und Mr. Horton kommt raus.
"Rex. Aus!"
Der schwarze Riese schaut sein Herrchen an, als hätte der nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er stellt sich nun auf seiner Seite vom Zaun hin und behält einfach die fremden Menschen und den Hund im Auge.
"Mach sitz."
Mr. Horton hockt sich zu Rex und schaut ihn an.
"So, mein Schöner. Und jetzt hör gut zu. Das da ist Jimin. Jimin hat Angst vor großen schwarzen Hunden. Er soll aber keine Angst vor dir haben müssen. Also musst du jetzt ruhig und freundlich sein. Daneben steht Hunter."
Rex schnüffelt nun mit vorgestrecktem Kopf in Richtung Tor.
"Hunter ist da für Jimin. So, wie Bella für Jamie den Weg durch die Schule findet, weil sie nichts sieht, so wird Hunter für Jimin da sein, damit er keine Angst haben muss. Du musst also auch freundlich zu Hunter sein. Wir Menschen gehen jetzt ein bisschen beiseite und lassen euch Hunde zusammen. Mach deine Sache gut, mein Treuer!"
Mr. Horton steht auf und öffnet das Tor. Rex ist zwar gespannt wie ein Flitzebogen, aber er bleibt sitzen, bis Mr. Horton ihn auffordert, mit ihm vor das Tor zu gehen.
"Jimin, geh mal die paar Schritte zu deiner Tante, damit die Hunde sich beschnuppern können. Solange du bei Hunter bist, kann der sich nicht natürlich benehmen."
Schnell verschwindet Jimin hinter Tante Minas Rücken. Hunter überlegt, wo jetzt sein Platz ist, und schaut darum fragend zu Tante Mina. Die gibt ihm ein Zeichen, und sofort richtet Hunter seine Aufmerksamkeit auf Rex. Die beiden Hunde laufen umeinander rum, beschnuppern sich und scheinen sich gegenseitig abzuschätzen. Beide wirken dabei sehr groß, selbstbewusst und wollen wohl Bestimmer sein. Dabei zeigt sich dann, was für friedliche Gesellen die beiden sind. Sie gehen nicht aufeinander los. Sie messen ihre Kräfte viel stiller. Jimin lunzt hinter Tante Minas Rücken hervor und betrachtet staunend die beiden Tiere. Es wirkt fast, als ob die miteinander reden. Jeder Schritt, jede Kopfbewegung, jedes Geräusch scheint ein Satz zu sein, den der andere versteht. Was die wohl jetzt miteinander reden?
Eine Weile muss er sich noch gedulden, bis sich beide Hunde ausgiebig schütteln - und sich dann einfach entspannt hinlegen. Rex legt sich vors Gartentor, Hunter direkt vor Tante Minas Füße. Mr. Horton und Tante Mina fangen an zu lachen.
"Alles klar, mein Großer. Solange niemand in dein Reich eindringt, ist dir alles egal. Das freut mich.
Jimin? Komm doch mal aus deinem Versteck und geh zu Hunter."
Jimin möchte Mr. Horton am liebsten einen Vogel zeigen, aber dazu ist er zu höflich. Und zu verängstigt. Bis jetzt sieht ja alles gut aus. Aber Rex ist so riesig!
Es dauert ein paar Minuten, bis er den ersten Schritt aus der Deckung wagt. Dann noch einen. Und noch einen. Nach einer kleinen Ewigkeit ist er bei Hunter angekommen, den Blick immer fest auf Rex gerichtet, und greift seinem Beschützer ins dichte Fell. Hunter schaut zu ihm hoch und stellt sich dann vor ihn. Jimin geht in die Hocke und streichelt seinen Begleiterfreund. Der setzt sich nun hin und drückt sich an Jimins Beine. Ganz, ganz langsam kann Jimin sich an die Situation gewöhnen. Er spürt, dass Hunter für ihn da ist. Und dass Rex das auch normal und in Ordnung findet.
"Prima. Ich glaube, fürs erste Mal ist das schon sehr gut. Jetzt lobst du Hunter ganz dolle, dann weiß er, dass er das alles richtig gemacht hat."
Mr. Horton geht zu Rex und gibt ihm ein Leckerli.
"Das hast du fein gemacht, Rex. Ich bin ganz stolz auf dich. Hunter wird nur für Jimin da sein. Er will dir nicht deinen Garten wegnehmen."
Jimin umarmt Hunter und flüstert ihm ins Ohr.
"Danke, dass du so gut auf mich aufpasst. Das tut mir gut!"
Tante Mina drückt ihm auch ein Leckerli in die Hand, dass Jimin gleich Hunter hinhält.
"Das ist für dich, als Dankeschön. Ich hab dich lieb, Hunter!"
Während Jimin mit Hunter schmust, unterhalten sich Tante Mina und Mr. Horton noch ein bisschen.
"Ich möchte mich auch sehr, sehr bedanken, Mr. Horton. Es ist ein Segen, dass Sie so rücksichtsvoll und zugewandt mit der ganzen Situation umgehen. Die Polizei hätte Jimin und Hunter sicher irgendwann gefunden. Aber so hat Jimin gleich ein bekanntes Gesicht gesehen und keine Angst gehabt. So weiß er jetzt schon vorher, was hier auf ihn zukommt. Das macht alles leichter. Ich habe Ihnen darum auch noch etwas mitgebracht."
Tante Mina reicht dem Hausmeister eine schick eingewickelte Flasche.
"Das wäre doch nicht nötig gewesen. Das Bild von dem Jungen ist so toll geworden, das hänge ich mir in mein Hausmeisterbüro in der Eingangshalle. Da laufe ich den ganzen Tag rein und raus und kann es immer sehen."
Jimin winkt zum Abschied und geht mit Tante Mina und Hunter zurück zum Auto.
"Tante Mina, glaubst du, dass Hunter das schaffen kann?"
"Es sieht doch bis jetzt ganz gut aus. Wir werden sehen, wie es ihm mit den vielen Kindern und dem Lärm geht, aber Rex scheint keine Probleme zu machen. Ich freu mich so für dich. Du warst eben ganz schön mutig. Was meinst du - kannst du das so schaffen?"
Jimin zögert kurz.
"Ja ... Ich mein' ... Wenn das so bleibt, dann kann ich das vielleicht schaffen. Und Nuri ist ja auch noch da in den Pausen."
"Gut, dann fahren wir zwei jetzt gleich zur Tierhandlung und kaufen einen Korb für dein Zimmer, eine Schmutzfangmatte und eine Wasserschale für Hunter, die fest in deiner Klasse bleiben. Was hältst du davon?"
Jimin hopst auf den Rücksitz vom Auto. Und wie er dazu Lust hat!
"Au jaaa!"
Jimin spürt, wie sein Mut ein bisschen wächst. Und das tut gut.
In der Tierhandlung suchen sie alles aus, was für Hunter nötig sein wird in der Schule und in Jimins Zimmer. Ansonsten wollen sie abwarten, was die Tiertrainer dazu sagen. So ist für Hunter gleich klar, dass er auch bei seinem Schützling einen festen Platz hat.
Nach dem Mittagessen kommt der erste Hundetrainer. Er hat einen kleinen, verspielten Cocker Spaniel mitgebracht. Tante Mina, Onkel John und Jimin unterhalten sich lange mit dem Mann, während die beiden Hunde sich auf dem Rasen tummeln und kennen lernen. Mr. Scratch beobachtet die beiden nebenher.
"Wenn ich das richtig sehe, ist Ihr Hunter ein Leit- oder sogar Zentralhund. Er hat sich meine Sally sofort als Mitarbeiterin engagiert. Hunter ist also durchaus als Service Dog geeignet, und das hat er bei dem nächtlichen Ausflug auch schon umgesetzt. Jetzt ist die Frage, was dieser Rex für ein Typ ist. Und wie Hunter üblicherweise mit Schreck, Lärm, unübersichtlichen Situationen und Provokation umgeht. Gibt es hier einen Park oder Platz, wo sich viele Hunde und Besitzer begegnen? Wenn wir da zusammen hingehen, könnte ich Ihren Hund dort noch weiter beobachten."
Ohhhhhh nein. Da wird Jimin ganz bestimmt NICHT hingehen! Schnell wie der Blitz ist er im Baumhaus verschwunden.
"Was war das denn?"
"Jimin braucht nicht umsonst einen Service Dog. Die Situation dort ist so wuselig und die Tiere testen ständig neu die Rangfolge aus - das haben wir ihm bisher nicht zugemutet."
"Gut zu wissen. Könnten wir ohne Jimin dort hingehen? Dann sehe ich einfach noch mehr von Hunters Charakter."
"Gerne. Wenn Hunter mitgeht? Seit der Nacht weigert er sich nämlich, von Jimins Seite zu weichen."
Jimin hört das Gespräch und auch, dass Onkel John zum Baumhaus kommt.
"Jimin, kuckst du mal raus?"
Hier oben fühlt er sich sicher, darum kann Jimin aus der Hütte und an den Rand vom Balkon rutschen.
"Pass auf. Damit wir dir und Hunter gerecht werden können, wollen wir jetzt zum Hundeplatz gehen. Du magst dort nicht hin, was völlig in Ordnung ist, aber es könnte sein, dass Hunter sich dann weigert. Könntest du wenigstens mit in die Nähe kommen? Und Mina oder ich bleiben dann bei dir?"
Jimin hasst so schwere Entscheidungen! Natürlich nicht. Aber er versteht, dass es für Hunter und damit auch für ihn selbst wichtig ist. Also holt er einmal tief Luft, nickt und klettert wieder runter. Kurz darauf machen sich vier Menschen und zwei Hunde auf den Weg. Hunter ist dicht bei Jimin, und der hält sich an Hunters Nackenhaaren fest gegen die Angst. Es ist so gut, seinen Begleiter zu spüren!
An der Ecke vom Hundeplatz kommt Jimin nicht mehr weiter. Es gibt keinen Zaun um die große Wiese, und es sind bereits sechs Hunde da, die hin und her flitzen oder sich spielerisch raufen. Der Hundetrainer schaut sich das eine Weile an, um die Situation abschätzen zu können und lässt dann erstmal seinen eigenen Hund loslaufen.
"Wie kommt Hunter mit dem Schäferhund klar? Kennen die beiden sich und haben die Positionen schon geklärt?"
Tante Mina stellt sich zu Jimin der jetzt stocksteif und mit angehaltenem Atem da steht.
"Alles okay? Wir beide bleiben einfach hier, Jimin."
Sie wendet sich an Mr. Scratch.
"Der Schäferhund ist nicht das Problem, wenn es richtig wild wird, ist er immer fest an Hunters Seite. Der blonde Kleffer da rechts könnte eher Schwierigkeiten machen. Die Besitzer üben viel Druck aus, was er hier dann so richtig rauslässt."
"Das kann ich mir vorstellen. Ich kann dem Tier auch keinen irgendwie interessierten Besitzer zuordnen."
"Jimin, könntest du Hunter auf die Wiese schicken und ihm erlauben, sich auszutoben? Ich vermute, dass er sonst nicht von dir weggeht. Sag ihm einfach, dass er spielen gehen darf."
Da die Erwachsenen alle so ruhig bleiben, kann auch Jimin wieder atmen. Nachdem er die Bitte von Mr. Scratch im Kopf sortiert hat, hockt er sich zu Hunter hin und löst die Leine vom Halsband.
"Pass mal auf. Ich bleibe mit Tante Mina hier, und du darfst jetzt spielen und toben. Da, geh auf die Wiese zu den anderen."
Jimin zeigt auf die Wiese und schiebt Hunter ein bisschen an. Ob das richtig war so? Irgendwie wohl nicht, denn der Mischling weicht nicht von Jimins Seite sondern schaut ihn nur groß an. Die Erwachsenen warten einfach ab. Jimin ist verunsichert. Was soll er jetzt tun? Okay. Hunter soll auf die Wiese, ohne ihn. Dann ... Jimin lässt sich von Onkel John den Ball geben, den sie auch immer in den kleinen Park mitnehmen, und lässt Hunter schnuppern.
"Der ist für dich! Lauf, bevor ein anderer ihn schnappt."
Dann wirft er den Ball so weit wie möglich auf die Wiese.
Und der Trick funktioniert. Hunter sprintet hinter dem Ball her und verteidigt ihn gegen die anderen Hunde. Schnell kommt er zurück, legt den Ball am Rande der Wiese ab, schaut noch einmal zu Jimin und flitzt zu den anderen Hunden. Er begrüßt den Schäferhund, bringt den kläffenden Dackel zur Ruhe und spielt dann mit einem dicken Stock, der dort rumliegt. Er beobachtet wachsam die anderen und schaut immer wieder rüber, ob Jimin noch in Ordnung ist. Als der Dackel neugierig auf seine Menschen zuläuft, springt er auf, lässt den Stock Stock sein, kommt gerannt und stellt sich sofort vor seine Menschen. Seine ganze Haltung sagt: oh nein, hier hast du Zwerg nichts verloren! Der Dackel macht sofort auf dem Absatz kehrt.
"Das sieht alles sehr gut aus. Während der ganzen Szene ist Hunter ruhig geblieben, hatte alles im Griff, hat Jimin gut verstanden und die richtigen Entscheidungen getroffen. Er könnte noch weniger reagieren, hätt sich von dem Ball nicht weglocken lassen dürfen. Aber das lernt er dann ja alles. Ich würde gerne mit den beiden arbeiten, damit Hunter schnell mit in die Schule gehen und Jimin angstbefreit lernen kann."
Alle atmen auf. Mr. Scratch pfeift seine Sally zurück, und sie machen sich auf den Rückweg. Jimin lobt Hunter sehr, weil er weiß, wie sehr der Hund das genießt. Zu Hause spricht der Hundetrainer noch mit Onkel John und wendet sich dann zum Abschied an Jimin.
"Ihr zwei seid ein besonderes Gespann. Ich mag euch und möchte gerne mit euch arbeiten. Dein Onkel hat mir gesagt, dass nachher noch ein Kollege von mir kommt. Der Mann macht das Training ganz anders, aber er ist auch richtig gut. Lass dich einfach drauf ein. Dann kannst du hinterher besser entscheiden, wer zu euch kommen soll. Okay? Bis dann."
Jimin schaut dem Pickup noch eine Weile hinterher und denkt nach. Der Mann ist nett, der Cocker ist nett, und außerdem hat er selbst es auch noch geschafft, zur Hundewiese zu gehen. Hunter hat so gut auf ihn aufgepasst!
Plötzlich hört er neben sich Youngjun.
"Das war doch schon ganz gut, oder? Ihr schaut euch nachher den anderen an, aber dieser Trainer ist schon mal top."
Jimin schaut zu ihm hoch und nickt. Ja, das fühlt sich richtig an.
"Und weißt du was? Ich hab gehört, du hast dich zur Hundewiese getraut. Da wirds wohl mal wieder Zeit, in die Kiste zu greifen."
Mit einem Kribbeln im Bauch und einem fröhlichen Jauchzer flitzt Jimin ins Haus und die Treppe hoch. Youngjun folgt ihm lachend nach. In der Kiste sind noch soooo viele Sachen, die Jimin noch nie gesehen hat! Er muss nicht lange überlegen sondern greift sich schnell eine handtellergroße, hellgraue, ganz flache Scheibe. Auf der Oberseite ist ein Muster, das aussieht wie eine Blüte mit fünf Blättern. Dann sind da noch ein paar schräge Schlitze. Kaum hat Jimin das Teil hochgehoben, rieselt unten Sand raus.
"Huch! Wo kommt das denn her?"
Schnell hält er seine andere Hand unter die Scheibe und dreht sie vorsichtig um. In der Mitte der Scheibe sieht er ein kleines rundes Loch, aus dem der Sand rieselt.
"Das nennen wir 'sand dollar', weil es platt und rund wie eine Münze ist. Eigentlich ist es das Skelett von einer Art Seeigel, das man manchmal an Stränden finden kann."
"Die Blume da ist so schön."
"Stimmt, das Muster hat mich auch immer fasziniert. Aber warum das da ist, kann ich dir gar nicht sagen."
Sehr behutsam bringt Jimin die kleine Scheibe und den Sand zum Setzkasten und legt beides in ein Fach.
"Danke, Youngjun. Du weißt so viel. Das finde ich klasse. Ich will auch mal so viel über Tiere und Pflanzen wissen."
Youngjun strubbelt ihm über den Kopf.
"Spinner. Du weißt schon soooo viel, ich wusste mit elf lange nicht so viel wie du."
Eine Stunde später kommt der zweite Hundetrainer, und Jimin muss schlucken. Der Hund von diesem Mann ist viel größer. Und kaum sind sie im Garten, fordert er Hunter heraus. Aber das ist sein Garten, sein Zuhause, sein Rudel. Also wird Hunter sofort sehr deutlich in seinem Machtanspruch, und nach einer Stunde ist klar: der Mann kann noch so gut sein, aber sein Hund wird nicht für Hunters Training zu brauchen sein. Der Mann lässt sich dieses Treffen als volle Trainingseinheit bar bezahlen, und alle atmen auf, als die beiden wieder weg sind.
"So, Jimin. Das war eindeutig. Möchtest du es Mr. Scratch selbst sagen am Telefon?"
Einerseits freut sich Jimin, andererseits ...
"Ich hab doch noch nie auf amerikanisch telefoniert. Ich weiß nicht, wie das geht."
Onkel John lächelt.
"Na, dann wirds Zeit, denn morgen bekommst du dein Handy wie jedes Schulkind hier. Da kannst du jetzt schon üben."
Jimin traut seinen Ohren nicht.
"Ein eigenes Handy???"
Jetzt lacht Tante Mina auch.
"Dein eigenes Handy. Dann kannst du immer mit uns allen reden und wirst nie verloren gehen. Da werden noch kleine Spiele drauf sein, vielleicht ein paar Lernprogramme, wenn deine Lehrer das vorschlagen. Und du fühlst dich immer sicher."
Jimin traut sich schließlich, Onkel John hilft ihm geduldig und Mr. Scratch freut sich richtig. Sie verabreden, dass er gleich am nächsten Tag wieder kommt, damit er auch die Schulsituation und Rex kennen lernen kann. Also holt Jimin tief Luft und ruft gleich auch noch bei Mr. Horton an, damit der Bescheid weiß. Hinterher platzt er fast vor Stolz und darf gleich nochmal in die Kiste greifen.
Der Sonntag ist der allerletzte Ferientag, und der wird in der Familie Turner traditionell miteinander auf einem besonderen Ausflug begangen. Allerdings haben die Kinder nicht erfahren, wohin es gehen wird. Das bleibt wie immer bis zum Schluss eine Überraschung. Darum wacht Jimin wieder früh auf und ist ganz kribbelig. Aber er muss sich gedulden, denn zuerst wird ausgiebig gefrühstückt. Danach geht es aber sofort los, weil am Nachmittag ja nochmal Mr. Scratch kommen wird. Es ist auch gar nicht weit. Sie müssen nur den Berg runterrollen und den Rillito River überqueren. Wenige Straßenecken weiter fahren sie in eine Tiefgarage.
Youngjun schaltet als erster.
"Hier waren wir schon mal. Da war Nuri aber noch ganz klein. Warts ab, Jimin. Das ist toll hier."
Daraufhin fangen Nuri und Jimin so doll an zu hibbeln, dass Onkel John eine Vollbremsung macht.
"So, ihr zwei Hübschen. Wir gehen jetzt rauf und haben ganz viel Spaß. Aber wer am meisten drängelt, muss immer hintendran gehen und darf als letztes kucken."
Schlagartig klappen Jimin und Nuri ihre Münder zu und laufen sehr gesittet neben den Erwachsenen her. Jimin weiß, dass Onkel John zu ganz viel Unsinn bereit ist, dass er aber auch sehr streng und deutlich werden kann. Und so richtig kann er das eine noch nicht vom anderen unterscheiden. Er war mit seiner Kinderdorfgruppe mal in einem Museum, und da mussten sich alle ganz still und ordentlich benehmen. Also will er auch hier vorsichtshalber ganz brav sein. Er will ja nicht, dass Tante Mina und Onkel John wegen ihm Ärger kriegen.
Tante Mina bezahlt für alle den Eintritt und gibt jedem sein Ticket in die Hand. Auf jedem Ticket ist eine winzige Puppenstube abgebildet. Sie gehen durch die Schranke und verschwinden für zwei Stunden in einer ganzen Welt in winzig klein. Onkel John führt sie so an den Vitrinen mit den Miniaturen entlang, dass sie praktisch eine Reise durch die amerikanische Geschichte machen. Es gibt aber auch Vitrinen, in denen winzige Landschaften mit Pflanzen und Tieren zu sehen sind. Hier sieht Jimin, welche wilden Tiere in den Bergen um die Stadt leben. Gemeinsam vergessen sie alles um sich herum und wandern durch die Zeit. Man sieht Wohnstuben, Werkstätten und Ställe, einen Bahnhof mit Dampflok und eine Burg, wie es sie in Europa oft gibt. Und alle, alle Dinge sind ganz, ganz klein. Nuri bleibt bei winzigen Tierchen in einer Walnussschale hängen.
Und Jimin bestaunt eine vollständig eingerichtete Töpferwerkstatt.
Erst, als die Mägen schon laut knurren, reißen sie sich los und gehen ins Museumsrestaurant. Hier dürfen sich alle ihr Lieblingsessen aussuchen. Aber bald schon streben Jimin und Nuri wieder zurück in die kleine Welt. Nach dem Museum fahren sie noch wieder zu der italienischen Eisdiele. Dann geht es endgültig nach Hause.
Hunter hat schon gewartet und kontrolliert sofort wieder, ob seine Familie vollständig ist, Dann lässt er sich in Jimins Zimmer zufrieden in sein Körbchen fallen. Jimin ist so voller Eindrücke, dass er sich einfach dazulegt und Hunter krault. Das gefällt nicht nur dem Hund, das beruhigt auch ihn selbst. Leise erzählt er seinem großen Begleiter, was er heute alles gesehen hat, wie spannend er das alles fand, was ihm am besten gefallen hat. Ausruhen mit Hunter tut gut. Der Hund strahlt eine Gelassenheit aus, die Jimin richtig mit entspannt. Es ist so neu und gleichzeitig so wunderbar, einen Hund zu kennen, der ihn nicht bedroht sondern beschützt. Das macht die Angst kleiner. Jimin versteht jetzt, dass nicht jeder Hund ein gefährlicher Wachhund ist. Bei den Menschen gibt es nette und blöde, und die allermeisten sind einem egal. Und bei den Hunden ist es genau so.
Später am Nachmittag kommt Mr. Scratch zum zweiten Termin, und sie fahren gemeinsam zur Schule. Jimin erkennt schon einige Ecken wieder unterwegs. Wenn er das noch ein paarmal mit Nuri gelaufen ist, dann kann er den Weg auch alleine gehen.
Mr. Scratch ist heute ohne seine Cocker-Hündin da, weil er Rex und Hunter ungestört in Aktion sehen will. Er hat für Hunter ein besonderes Geschirr mitgebracht, das ihm wie eine Weste über den Rücken gestülpt und an der Brust zugeschnallt wird. Auf dieser Weste steht auf beiden Seiten "Service Dog - don't touch!"
"Warum darf niemand Hunter anfassen? Es ist doch gut, wenn die Kinder in der Pause keine Angst vor ihm haben."
"Komm, setz dich, ich erklär es dir."
Schnell hockt sich Jimin neben Hunter und Mr. Scratch auf den Bordstein am Parkplatz.
"Service Dogs sind dazu da, ihrem Menschen zu helfen, wenn der sich nicht mehr selbst helfen kann. Bei einem Blindenhund ist es logisch. Der Hund findet den Weg, den sein Mensch nicht sehen kann. Jeder Service Dog wird ganz konkret auf das Problem seines Menschen trainiert, und es ist ganz, ganz wichtig, dass ihn dabei nichts ablenkt. Jeder andere Mensch, der mit deinem Hund Kontakt aufnimmt, sorgt gleichzeitig dafür, dass dein Hund sich nicht mehr auf dich konzentrieren kann. Darum die Weste. Dein Hund weiß mit der Weste: jetzt bin ich im Dienst. Und die Menschen können sehen, dass sie dich in Gefahr bringen, wenn sie mit Hunter reden.
Bei dir wird Hunter lernen, nicht auf andere Hunde zu reagieren sondern unbedingt an deiner Seite zu bleiben. Wenn du sehr große Angst bekommst, wird Hunter die Veränderung deines Geruchs, deiner Stimmung, deiner Atmung bemerken, dein Zittern oder Luftanhalten - dann wird er dich drauf aufmerksam machen und mit dir zusammen das tun, was dir am besten hilft. Wenn du weggehen solltest, wird er dich wegbringen. Wenn du kuscheln willst, wird er dir nah sein. Und wenn du vor schreck die Luft anhältst, dann wird er dir zeigen, dass du dich hinlegen sollst. Er wird sich dann auf dich drauflegen. Der Druck von seinem Gewicht hilft dir, deinen Körper besser zu spüren und deine Atmung wieder zu kontrollieren. Es gibt auch Hunde, die riechen, wenn ein Diabetiker in die Unterzuckerung rutscht. Aber sie können das alles nur, wenn sie nicht abgelenkt werden."
Jimin stellt sich vor, wie es ist, wenn Hunter nie von seiner Seite weicht. Er muss ein bisschen kichern.
"Geht Hunter dann auch mit mir in die Dusche?"
"Nein, bestimmt nicht. Wenn du mit ihm von der Schule nach Hause kommst, wirst du ihm die Weste ausziehen, und dann weiß er, dass er jetzt nicht mehr arbeiten muss. Ab dem Moment kannst du alleine sein, auch unter der Dusche. Hunter hat dann Freizeit."
Sie werden auch heute von Mr. Horton am Parkplatz abgeholt und wiederholen einfach, was sie am Samstag Morgen schon einmal getan haben.
Der Hausmeister verschwindet, lässt den Hund los, Jimin traut sich mit Hunter an der Seite zum Klingelknopf-Kasten und geht zurück zu Tante Mina. Mr. Scratch beobachtet die Interaktion zwischen den beiden Hunden und das Verhalten von Hunter und registriert zufrieden, dass Rex zwar groß und selbstbewusst ist, sich aber darauf beschränkt, sein "Revier", den Garten zu verteidigen. Ansonsten überlässt er Hunter die Führung, der weiterhin große Ruhe ausstrahlt.
"Das sieht alles sehr gut aus, Jimin. Wenn es für die Schulleitung in Ordnung ist, dann komme ich morgen früh mit zu deinem ersten Schultag, und Hunter begleitet dich bis zur Klasse. Dort übernehme ich, während du Unterricht hast, und arbeite mit Hunter und Rex. Du wirst sicher in der Klasse begrüßt werden, darfst ein bisschen was über dich erzählen, und dann werdet ihr gemeinsam darüber reden, dass du bald immer einen Hund bei dir haben wirst, der nicht geknuddelt oder anders abgelenkt werden sollte.
Die Pausen verbringen wir gemeinsam. Da kann ich am besten beobachten, wie Hunter mit Lärm und Gewusel umgeht. Kannst du dir das so vorstellen?"
Jimin greift Hunter ins dichte Nackenfell und nickt. Dann fällt ihm was auf.
"Hoffentlich lässt mich Hunter in die Klasse und bleibt freiwillig bei Ihnen. Sonst haben wir das allerschönste Theater."
"Das lass meine Sorge sein. Ich denke, ich werde Hunter überzeugen können."
"Was meinen Sie, Mrs. Turner. Wird es von Seiten der Schule Probleme geben?"
"Nein, das ist kein Problem. Ich bin gestern bereits benachrichtigt worden, dass sowohl der Hund als auch Sie in den Schulalltag integriert werden."
Jimin hat nur mit halbem Ohr hingehört.
"Was müssen Hunter und Rex denn zusammen lernen?"
"Ich finde es klasse, wie flink du mitdenkst, und wie neugierig du bist. Hunter und Rex haben ihre Rangordnung ja schon herausgefunden. Aber jedesmal, wenn Hunter auf Rex reagiert, ist seine Konzentration weg von dir. Die beiden müssen also lernen, dass sie sich gegenseitig gelten lassen, und dass es für beide in Ordnung und normal ist, dass Hunter Rex ignoriert, so lange er das Geschirr anhat und im Dienst ist."
Jimin nickt. Das findet er auch logisch.
Da Jimin nun schon zum dritten Mal in der Schule war, macht ihn das Gelände auch nicht mehr nervös. Er ist neugierig auf Morgen, auf seine Mitschüler und Lehrer, auf Hunter in all dem Gewusel auf dem Schulhof. Er hat ein bisschen Angst, dass er nicht genug versteht, dass die anderen viel mehr können oder wissen als er, dass vielleicht jemand lacht, weil er Hunter braucht, um sich sicher zu fühlen. Aber die vielen, vielen Angstmomente in den letzten Monaten, die vielen Fluchten in eins der Baumhäuser, die Nacht am Highway haben ihm gezeigt, dass er mehr zu lernen hat als Mathe und Vokabeln. Seine Familie hier zeigt ihm mit so viel Liebe und mit jeder Geste, jedem guten Wort, dass er ein Leben ohne Angst leben darf - inzwischen fühlt er sich immer öfter auch so. Jimin bekommt allmählich ein Gefühl dafür, ein ganz normales Kind in einer ganz normalen Familie zu sein, respektiert und geliebt zu werden genau so, wie er nun mal ist. Er kann immer öfter über seinen Schatten springen und seinen Ängsten die Zähne zeigen. Er lernt viel mehr als nur neue Buchstaben oder das Rechnen mit X und Y. Er lernt, an sich selbst zu glauben, sich selbst mehr zuzutrauen. Und seine Familie zeigt ihm ganz oft, wie stolz sie auf ihn sind.
Am Abend werden die Ranzen gepackt, die Listen der Klassenlehrer abgehakt, und gemeinsam wird lecker gekocht. Jimin und Nuri gehen dann gleich ins Bett, damit sie am nächsten Morgen gut rauskommen. Jimin kuschelt dabei erst ganz lange mit Tante Mina, danach mit Hunter, bis er eingeschlafen ist. Morgen beginnt das Abenteuer Schule, aber seine Angst ist inzwischen viel kleiner geworden, und so kann er tatsächlich tief und traumlos schlafen.
Am nächsten Morgen findet Jimin einen Brief von Mama Jeri auf dem Frühstückstisch. Sie wünscht Jimin alles Gute für den Start in der Schule und hat ein paar Fotos vom umgebauten Anwesen, der Gruppe und dem neuen Spielplatz dazu gelegt. Jimin sehnt sich ja schon noch ein bisschen nach Mama Jeri. Aber er ist freiwillig und gerne hier, bei seiner richtigen Familie. Er muss seine Angst nicht mehr mit einem heimlichen "ich schaff das schon" unterdrücken. Er muss nämlich nicht alles alleine schaffen. Schnell steckt er die Fotos in seinen Ranzen.
Als Mr. Scratch Jimin und Nuri abholt, schnappen sich die beiden ihre Ranzen, Jimin legt Hunter das Geschirr um, und schließlich laufen sie los. Jimin ist stolz auf seine Schuluniform und ganz schön nervös. Nuri führt, Mr. Scratch arbeitet mit Hunter und bringt dabei auch Jimin wieder neues bei.
Je näher sie der Schule kommen, desto mehr Kinder laufen in dieselbe Richtung oder werden vorbeigefahren. Nuri trifft eine Freundin und läuft nun mir ihr vorneweg. Am Schultor steht Mr. Horton und schaut ihnen entgegen.
"Guten Morgen! Jetzt geht das Abenteuer los. Deine Tante hat grade schon alles Notwendige für Deinen Hund hergefahren. Bist du bereit?"
Jimin nickt. Er ist hier nicht alleine, er kennt Nuri und Mr. Horton und seine Klassenlehrerin. Und Hunter.
Hunter schaut viel nach rechts und links, während sie über den Schulhof gehen. Mr. Scratch lenkt seine Aufmerksamkeit immer wieder auf Jimin. An einer Stelle sind ganz viele Leute, und Jimin greift mal wieder in Hunters Fell. Also lässt Mr. Scratch den Hund immer im Kreis um Jimin drumrumlaufen. Automatisch machen alle Platz, und Jimin fühlt sich gleich viel wohler, denn so werden alle auf Abstand gehalten.
Im Treppenhaus verabschieden sie sich von Nuri. Ein Stock höher erwartet sie dann schon Mrs. Wisper.
"Herzlich willkommen, Jimin. Komm rein. Ich habe mir überlegt, dass Du mit Hunter am besten hier am Fenster sitzt. Da ist Platz, und da läuft auch normalerweise niemand lang. So hat dein Hund während der Stunden seine Ruhe.
"Danke!"
Jimin verbeugt sich höflich und geht dann zur Fensterseite ziemlich weit vorne. Dort liegen auch schon Hunters Matte und der Wassernapf. Jimin stellt seinen Ranzen ab und geht wieder zur Tür. Ein paar andere Kinder schauen ihn und Hunter neugierig an. Auf dem Flur umarmt er Hunter und spricht ruhig mit ihm, wie Mr. Scratch geraten hat.
"Danke, dass du mein Begleiter bist. Hier in der Klasse brauche ich deine Hilfe nicht so, deshalb darfst du jetzt mit Mr. Scratch rausgehen. Schau, ich gebe ihm deine Leine. Es ist in Ordnung, wenn du bei ihm bleibst."
Jimin streichelt ihn nochmal und geht dann ruhig zurück in die Klasse. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass sein Hund hinterher will, aber die Übergabe der Leine war deutlich.
Die Klasse füllt sich, die Plätze werden verteilt, alle erzählen von ihren Ferien, und Jimin erzählt von sich. Er zeigt auch die Bilder von Korea aus dem Brief und spricht was auf koreanisch. Dann erklärt Mrs. Wisper, dass Jimin einen Begleithund haben wird und welche ganz wichtigen Regeln dabei für alle gelten.
Schließlich geht der Unterricht los. Jimin versteht lange nicht alles, aber die Lehrerin ermuntert ihn, immer nachzufragen.
"Je öfter du fragst, desto schneller kannst du dir das alles merken. Ich habe beschlossen, dass ihr alle in diesem Schuljahr ein digitales Wörterbuch bekommt. Wer kein eigenes Handy hat, bekommt ein Gerät von der Schule geliehen. Und für Jimin und Ellaha, die ja auch noch nicht lange bei uns ist, werde ich Apps auf koreanisch und Farsi suchen. Fragt, so oft ihr das braucht, okay?"
Jimin schaut sich kurz um und entdeckt hinter sich ein Mädchen mit Kopftuch, das stumm nickt. Es fühlt sich gut an, dass er nicht der einzige ist, der frisch da ist und die Sprache noch nicht beherrscht.
Als sie schließlich in die erste große Pause gehen dürfen, steht Mr. Scratch schon mit Hunter vor der Tür. Er hält den Hund gut fest und bremst ihn immer wieder, damit Hunter schnell lernt, dass alle anderen Kinder, die da aus der Klasse kommen, egal sind. Er soll sich nur auf Jimin konzentrieren. Es wird noch eine Weile dauern, bis Hunter alles gelernt hat, aber da er sich ja sowieso für Jimins Sicherheit und Wohlbefinden zuständig fühlt, fällt es ihm leicht zu lernen. Jimin begrüßt ihn strahlend mit einer Umarmung und übernimmt wieder die Leine. Gemeinsam gehen sie auf den Pausenhof.
Hier lernen die neu eingeschulten Kleinen grade Mr. Horton und Rex kennen. Ein paar Kinder haben etwas Angst und halten auch von dem Blindenhund Bella und Hunter großen Abstand. Also nutzt Mr. Scratch gleich die Gelegenheit, stellt allen Kindern die beiden Begleithunde vor und erklärt die Regeln. Jimin versucht in der Zeit, die Aufmerksamkeit von Hunter ganz bei sich zu halten. Schließlich laufen die Kinder auseinander, um den Schulhof zu erobern.
Wieder lobt Mr. Scratch Jimin sehr, weil er eben die Zeit genutzt hat, um Hunter zu trainieren. Die Klassenlehrerin und der Direktor kommen dazu, um Mr. Scratch und den Hund kennen zu lernen. Die Erwachsenen unterhalten sich. Ein paar Kinder aus seiner Klasse kommen zu Jimin und fragen ihn, wie sie denn mit ihm sprechen und spielen sollen, wenn sie nicht an Hunter dran dürfen. Das weiß Jimin allerdings auch nicht. Also fragt er beim Hundetrainer nach.
"Keine Sorge. Wenn ihr euch irgendwo hinsetzt, legst du Hunter hinter dich. Und wenn du rennst, rennt er eben mit. Irgendwann seit ihr so aufeinander eingespielt, dass er einfach auf Befehl auf dich wartet."
Jimin dreht sich wieder zu den Klassenkameraden, überlegt einen Moment, sucht sich die Vokabeln im Kopf zusammen und erklärt ihnen das, so gut er kann.
"Ihr dürft an mich ran. Ihr solltet nur nicht mit meinem Hund reden oder ihn anfassen. Wollen wir uns da auf die Wiese setzen?"
Zu viert setzen sich die Kinder neben den Schaukeln auf den Rasen und erzählen einfach. Hunter liegt seitlich von Jimin und entspannt, weil Jimin ihn die ganze Zeit krault. Er fühlt sich so ruhig und sicher, einfach weil Hunter da ist. Und die Kinder sind nett. Da auch ein Junge aus Mexico dabei ist, probieren sie aus, wie viele Sprachen sie zusammen sprechen können. Am Ende sind es amerikanisch, spanisch, koreanisch - und ein Mädchen spricht mit der Großmutter immer italienisch. Das macht Spaß und klingt lustig.
Der Rest des Vormittags verläuft entspannt, und Jimin kann sich gut konzentrieren. Er hat nur noch ein bisschen Angst vor seiner Klasse, denn alle sind nett zu ihm und beantworten alle seine Fragen. Nach der Schule gehen Jimin und Mr. Scratch zusammen nach Hause. Nuri hatte schon früher Schulschluss, darum müssen Jimin und Hunter den Weg von alleine finden. Aber auch das klappt. Jimin ist unglaublich stolz auf sich selbst! Kaum ist er zur Haustür rein, lässt er seinen Ranzen fallen, stürmt in die Küche und fällt Tante Mina um den Hals.
"Ich habs geschafft. Tante Mina, ich habs geschafft! Die waren alle so nett, und Hunter hat gut auf mich aufgepasst. Und in der Pause haben ein paar mich angesprochen. UND dann hab ich auch noch den Weg nach Hause gefunden. Ich habs geschafft!"
Tante Mina stellt den Herd aus, setzt sich auf einen Stuhl und nimmt Jimin ganz lange, sanft und still in den Arm. Jimin genießt das Kuscheln sehr jedes Mal. Es ist so warm und weich und geborgen. Allmählich lässt die ganze Anspannung von ihm ab. Leise kullern bei Jimin ein paar Tränchen. Und bei Tante Mina auch.
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16.10.2021 - 17.8.2022
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