Kapitel 13 - "G" wie Geduld"

Als Mina früh morgens aufsteht, um Hunter nach draußen zu lassen, findet sie weder den Hund - noch Jimin. Er wird doch nicht ...? Ist ihm denn nicht klar, dass er hier beim besten Willen nicht zu Mama Jeri laufen kann?
Mina weckt John, und gemeinsam suchen sie das ganze Haus ab. Die Terassentür steht offen. Aber im Garten und im Baumhaus sind Jimin oder Hunter auch nicht. Gemeinsam kontrollieren sie Jimins Zimmer und stellen fest, dass der Ranzen und die Schäfchen weg sind. Mina sinkt weinend auf Jimins Bett, während John die Polizei anruft. Die lassen sich Fotos von Jimin und Hunter schicken und machen sich auf die Suche.

In Minas Kopf kreiseln die Gedanken. Eigentlich war doch jetzt alles gut! Bis auf die Begegnung mit Rex natürlich. Was hat sie bloß übersehen? Wenn Jimin nicht redet, kann ihm keiner helfen! Geht es ihm doch zu schnell? Hätten sie noch ein Jahr warten sollen? Hätte, hätte, hätte ... Mina fühlt sich schuldig und furchtbar hilflos.
Sie wecken Nuri und Youngjun und erzählen ihnen, dass Jimin mit Hunter verschwunden ist. Nuri weint, und Youngjun steigt sofort auf sein Fahrrad, um Jimin zu suchen. Er kann jetzt nicht still sitzen und warten. Mina schaut ihrem Sohn nach und wünscht sich, dass all dieses Leid endlich ein Ende hat.

Eine halbe Stunde voller Selbstvorwürfe und schlimmen Bildern im Kopf später hört sie Youngjun auf der Straße brüllen.
"Mamaaa, Papaaaa!"
Kurz darauf kommt ihr Sohn durch die Terrassentür gerannt.
"Wir ... haben ihn."
Er ist ganz außer Puste, aber er strahlt.
"Mr. Horton hat ihn gefunden. Am Highway. ... Er hatte schon den halben Weg zum Flughafen geschafft."
Hinter ihm kommt der Schulhausmeister herein, mit dem schlafenden Jimin im Arm. Um seine Füße streicht Hunter und lässt Jimin nicht aus den Augen.
"Suchen Sie den hier, Mrs. Turner?"
Weinend nimmt Mina ihm das schlafende Kind ab und setzt sich aufs Sofa, während John sich erst sehr für die schnelle Hilfe bedankt und dann die Polizei informiert, dass das Kind wieder heile zu Hause ist. Zufrieden schnaufend legt sich Hunter quer über Minas Füße und schläft sofort ein.

Mr. Horton erzählt.
"Ich war auf dem Weg zum Baumarkt. Sie wissen schon. Wegen dem Zaun. Ich war noch nicht ganz wach. Hab geglaubt, ich träum. Läuft da ein Junge mit Schulranzen und Hund am Highway entlang! Er sah aus, als ob er gleich umkippt. Naja. Da hab ich halt gestoppt und ihn sofort erkannt. Er mich wohl auch. Er hat gekuckt, ob Rex dabei ist. Jedenfalls. Als ich ihn gefragt hab, ob ich ihn nach Hause bringen soll, ist er gleich freiwillig ins Auto gekrabbelt. So müde, der kleine Kerl! Was wollte er da bloß?"
Onkel John fährt sich erschöpft durchs Haar und seufzt.
"Nach Korea fliegen vermutlich ..."
Mr. Horton reißt die Augen auf.
"Wohin? Er wär doch nie in einen Flieger gekommen!"
"Sicher nicht. Aber ein Mensch, der Angst hat, ist nicht mehr Herr über seine Entscheidungen."
Mr. Horton schüttelt den Kopf und erzählt weiter.
"Ihr großer Sohn ist mir entgegengekommen, als ich grade zur Schule wollte, um Ihre Adresse rauszufinden. Der konnte mich dann herlotsen.
Eigentlich ... hat Jimin ... Er ist nicht zum Flughafen gelaufen. Er kam mir entgegen, also weg davon."

Mina laufen die Tränen der nachlassenden Anspannung übers Gesicht, aber die letzte Information lässt sie doch aufatmen.
"Also hat er wohl von alleine gemerkt, dass das nicht geht, und war schon auf dem Rückweg. Gott sei Dank!"
Behutsam steht sie auf.
"Ich bringe Jimin ins Bett."
Mina lässt Mann, Sohn und Hausmeister im Wohnzimmer zurück und trägt Jimin in sein Zimmer. Hunter folgt ihr auf dem Fuße, als wolle er Jimin bewachen. Sie legt sich einfach mit dem Jungen zusammen ins Bett, lässt ihn schlafen und versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Noch langsamer? Noch mehr Geduld? Na gut. Hauptsache, das Kind wird glücklich. Es soll sich auf keinen Fall wiederholen, was mit Sumi passiert ist! Hunter rollt sich auf dem Fußboden zusammen, schielt nochmal zu Jimin und schläft dann auch ein.

Sobald Jimin tief und fest schläft, mit den Schäfchen im Arm und Hunter vorm Bett, geht Mina runter und sucht John. Der ist in seinem Arbeitszimmer am Computer. Mina setzt sich seufzend dazu.
"Was sollen wir denn jetzt noch tun? Der Zwischenfall mit Rex gestern scheint ihn viel mehr mitgenommen zu haben, als er uns hat merken lassen. Andererseits hat er Hunter mitgenommen. Dem traut er also doch. Ich kann einfach nicht in seinen Kopf reinschauen. Wie soll das gehen mit der Schule, wenn er damit lautes Bellen und Angst verbindet?"
John dreht sich zu ihr und nimmt sie in den Arm.
"Das habe ich mich vorhin im ersten Schreck auch gefragt. Aber ich glaube, so hoffnungslos ist die Situation nicht. Die Klassenlehrerin und Mr. Horton haben den Ernst der Lage begriffen. Du wirst noch einen Monat lang nicht arbeiten, das heißt, du kannst viel Begleitung machen. Und wir waren uns einig, dass Jimin eine durchgreifende Therapie braucht. Dann warten wir damit eben nicht, bis er in der Schule ganz angekommen ist, sondern suchen sofort."
Mina lässt erschöpft vom Sorgen den Kopf hängen. Hoffentlich kommen sie überhaupt noch an Jimin ran, wenn er wieder wach ist.

"Mina? Schatz, lass nicht gleich allen Mut fahren. Schau, wie weit wir mit ihm gekommen sind. Wie weit ER gekommen ist. Er ist hier! Er ist ein Kämpfer. Am Ende werden wir ihn und seinen Kämpfergeist feiern, da bin ich mir sicher. Ich überlege nur, wie wir jetzt schnell an Therapeuten rankommen, auf die Jimin sich einlassen kann. Vielleicht sollten wir unsere Kontakte spielen lassen."
Mina hebt den Kopf und schaut ihn unsicher an.
"Wie meinst du das? Welche Kontakte?"
"So ganz ausgereift ist der Gedanke nicht, das müssen wir zusammen machen. Aber ich stelle mir das so vor, dass wir beide unsere sämtlichen beruflichen und privaten Kontakte durchgehen und überlegen, wer die richtigen Verbindungen haben könnte. Ich könnte zum Beispiel die Fachschafts-Verteiler in der Uni anschreiben. In deiner Schule sind jede Menge Kinder mit Problemen. Die dazu gehörenden Lehrer und Eltern haben bestimmt viele Adressen von und Erfahrungen mit Therapeuten jeder Art. In der Gemeinde gibt es einen Eltern-Gebetskreis für deren Kinder. Auch die könnten wir bitten. Sowohl um Gebet als auch um Namen und Adressen. Die Krankenkasse hat vielleicht Listen."

Mina denkt nach, und ja, John hat recht. Auch ihr fallen sofort mehrere Anlaufstellen ein, die Katalysator sein könnten bei dieser Suche.
"Dann ... dann sollten wir vielleicht eine sorgfältige Mail formulieren, die wir dann an alle schicken. Also - wir müssen genug über Jimin verraten, damit die Empfänger eine Vorstellung haben, was er braucht. Aber nicht zu viel, damit wir genug Vorschläge bekommen. Er sollte auch nicht in unserem gesamten Umfeld nur als der 'kleine Koreaner mit Problemen' behandelt werden."
"Na, dann los!"
Beide greifen sich Papier und einen Stift und formulieren erst mal ins Unreine. Dann tragen sie ihre Gedanken zusammen und besprechen, was unbedingt rein muss, und was auf keinen Fall schon durchblicken darf. Grade will John einen gemeinsamen Entwurf formulieren, als sie Jimins ängstliches Rufen von oben hören. Mina steht sofort auf.
"Mach du weiter. Ich ruf dich dazu, falls wir dich brauchen."
Als sie oben an der Treppe angekommen ist, hat Youngjun schon reagiert, ist aus seinem Zimmer gekommen und hält Jimin ganz fest, damit der nicht mehr so zittert vor Angst. Nuri kommt jetzt auch zum Vorschein, und so stehen sie da und umarmen zu dritt den verwirrten Jungen. Hunter läuft treu wachend im Kreis um sie drumrum. Mina muss dabei alle Kraft zusammennehmen, um nicht auch zu weinen. Sie muss jetzt Zuversicht ausstrahlen für Jimin!

Youngjun flüstert was in Jimins Ohr, aber so, dass es alle hören.
"Was bin ich froh, dass du Hunter mitgenommen hast. Der konnte dich wieder nach Hause führen. Und du warst nicht alleine. Alleinsein ist scheußlich. Und du gehörst doch jetzt zu uns. Wir würden dich furchtbar vermissen."
Jimin wurschtelt sich aus dem Knäuel von Armen und schaut erstaunt hoch.
"Ich hab Hunter doch gar nicht mitgenommen. Ich hab von ihm geträumt, und als ich aufgewacht bin, war er einfach da."
Mina wird schwindelig. Jimin ist ganz allein losgelaufen! Hunter muss das bemerkt haben und ihm nachgelaufen sein. Gott sei Dank! Jetzt laufen ihr doch die Tränen.
"Dann müssen wir uns wohl auch bei Hunter bedanken, dass er dir nachgelaufen ist. Was bin ich froh!
Sagt mal, wollen wir zusammen frühstücken? Dann kommt Papa auch dazu, und du kannst uns allen erzählen, was eigentlich passiert ist. In deinem Kopf und auf der Straße."
Jimin nickt.
"Dann geh mal und zieh dir frische Sachen an. Nuri, wollen wir zusammen decken?"
Jimin geht wieder in sein Zimmer, mit Hunter dicht an seiner Seite. Youngjun geht in Johns Arbeitszimmer, um ihn zu holen. Und Mina bereitet mit Nuri ein schönes, umfangreiches Brunch vor. Das Tellerklappern im Esszimmer beruhigt ihre Nerven wieder etwas. Es klingt so schön normal.

Bald kommen auch alle anderen dazu, und sie setzen sich gemeinsam an den Tisch. Nur Jimin steht schüchtern an der Tür.
"Alles okay, Jimin? Komm einfach her. Wir sind so froh, dass du wieder da bist."
Jimin nickt. Und bewegt sich kein Stück. Mina mahnt sich zu Geduld und bremst auch die anderen. Jimin ringt um Worte. Es tut ihr in der Seele weh, ihn so angsterfüllt zu sehen. Da wird sie sich wohl nie dran gewöhnen.
"Ich ... ich muss ... Ich bin einfach ... Es tut mir so leid, dass ihr Angst bekommen habt. ... Seid ihr jetzt ... böse auf mich?"
John läuft zur Tür und bringt Jimin zu seinem Stuhl. Hunter trabt sofort hinterher und setzt sich daneben.
"Natürlich nicht. Nur erleichtert. Wir haben dir versprochen, dass wir gut auf dich aufpassen wollen. Und dann kommt dieser riesige Hund, und wir kümmern uns gar nicht darum, ob du danach gut schlafen kannst. Kein Wunder, dass du weg wolltest."
Jimin wischt sich schnell über die Augen.
"Ich ... Dieser Hund ...Das KANN ich einfach nicht. Hunter hab ich lieb. Aber Rex ... der ist einfach zu groß!"

Alle fangen an zu essen. Jimin ist noch nicht zugänglich für Vernunft. Erstmal soll er sich wieder sicher fühlen. Auf einmal stutzt er und schaut sich um.
"Wie ... bin ich eigentlich wieder nach Hause gekommen? Bin ich das alles mit Hunter gelaufen?"
Youngjun strahlt ihn an, und Mina freut sich mal wieder, dass ihr Großer und Jimin sich so gefunden haben. Dass Youngjun sich so Mühe gibt. Er müsste sich nicht mit dem Kleineren abgeben, aber er WILL, dass Jimin richtig dazugehört.
"Du bist losgelaufen, wohl ohne Hunter. Aber du musst die Terrassentür offen gelassen haben. Wie du die Richtung zum Flughafen finden konntest, haben wir nicht kapiert. Aber tatsächlich warst du am richtigen Highway. Du bist irre weit gelaufen. Dann musst du geschlafen haben, denn du hast eben gesagt, dass du von Hunter geträumt hast. In der Zeit muss er dich eingeholt haben. Ich wusste gar nicht, dass Hunter solche Spürhund-Qualitäten hat, aber jedenfalls hat er dir gut getan. Du bist dann aus irgendeinem Grund umgekehrt und schließlich fast umgefallen vor Müdigkeit. Genau in dem Moment kam Mr. Horton auf dem Weg zum Baumarkt an dir vorbei. Er wollte das Material kaufen für den Zaun um seinen Garten. Er hat dich erkannt und nach Hause gebracht."
Mina beobachtet die ganze Zeit Jimin, ob sich in seinem Gesicht eine Erinnerung abzeichnet. Aber Jimin starrt nur Youngjun an und sitzt ganz still.
"Das ... weiß ich alles nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich immer zu den Flugzeugen am Himmel geschaut habe, um den Weg zu finden. Und dass ich froh war, als Hunter da war. Er hat mich dann rückwärts gelockt, bis ich tatsächlich selbst wieder nach Hause wollte. In der Pause haben wir meine Banane und das Wasser geteilt."
...
"Oh.
Darf ein Hund überhaupt Banane essen?"
Mina lacht erleichtert. Was für ein schlaues Kerlchen!

"Keine Sorge, das tut Hunter nichts. Schokolade wäre schlimmer gewesen, die ist für Hunde giftig. Aber Banane ist völlig okay. Ich bin stolz auf dich. Wie du den Weg gefunden hast. Und dass du selbst beschlossen hast, doch zu uns zurück zu kommen. Ich bin so froh, dass du da bist!"
Die Sorgenfalten verschwinden von Jimins Gesicht, und er kuschelt sich an Mina dran. Seine Wärme und Nähe macht auch sie froh.
"Iss erstmal. Und dann überlegen wir uns ein Dankeschön für Mr. Horton, oder? Wir rufen ihn vorher an, damit Rex nicht frei rumläuft."
Damit kann Jimin offensichtlich erstmal leben, denn er isst jetzt, bis er fast platzt. Nach dem Essen baut er mit Youngjun Lego in seinem Zimmer, Nuri besucht eine Freundin in der Nachbarschaft und Mina geht mit John zurück ins Arbeitszimmer.

"Mina, schau dir mal meinen Entwurf an, ob das so passt. Dann können wir die Mail nämlich heute schon rausschicken."
Mina liest sich den Aufruf durch und ist sehr zufrieden.
"Danke, Schatz. Dann lass uns mal einen großen Mailverteiler anlegen. Wir packen die alle ins BCC: Und wenn jemand bis Sonntag nicht antwortet oder aber ablehnt, nehmen wir die gleich wieder raus. Dann haben wir immer den Überblick, wer noch im 'Rennen' ist."
Mina ist froh. Sie hat wieder das Gefühl, dass sie etwas tun kann für Jimin. Das macht alles leichter. Während sie vom Handy aus ganz viele Kontakte an John schickt, damit er den Verteiler aufbauen kann, denkt sie einfach laut nach.
"Ich finde es erstaunlich, was da mit Jimin und Hunter passiert ist. Hunter scheint gespürt zu haben, dass Jimin wichtig ist und Hilfe braucht. Wir haben oft nachts die Terrassentür offen, aber er ist noch nie weggelaufen. Er muss wirklich gezielt nach Jimin gesucht haben."
"Stimmt. Und jetzt weicht er nicht mehr von seiner Seite. Als ob es seine Aufgabe wäre, immer für ihn da zu sein. Schade, dass Jimin ihn nicht mit in die Schule nehmen kann. Das würde ihm glaube ich sehr helfen. Aber dann müsste Hunter auch mit Rex klar kommen, er müsste in alle Klassenräume mit reingehen dürfen. Dafür gibt es aber zu viele Allergiker. Und er ist ja auch nicht ausgebildet als Service Dog. Das wäre dann auch für den Hund eine Überforderung."
Minas Finger bleibt über dem Display schweben. Service Dog? Hunter?
"Warum nicht? Hunter ist erst drei Jahre alt, eine Ausbildung würde sich noch lohnen. Die Beziehung zwischen den beiden ist schon aufgebaut und offensichtlich sehr tragfähig. Und bei diesem Training würde Jimin so viel über das Wesen und die Signale von Hunden lernen, dass allein das ihm wahrscheinlich schon etwas Angst nehmen wird."

Schweigend legen sie weiter den Verteiler an, kontrollieren dafür auch ihre Dienstkontakte und schicken schließlich an über hundert Adressen ihre Mail. Da wird ja wohl einer dabei sein, der den richtigen Tipp für sie hat!
Minas Gedanken kreisen weiter um Jimin. Und Hunter. John geht das offensichtlich auch nicht aus dem Kopf.
"Und wie geht es jetzt weiter? Du hast gesagt, du willst Mr. Horton ein Dankeschön vorbeibringen. Mit oder ohne Jimin? Mit oder ohne Hunde? Sollten wir die Lehrerin fragen, ob sie dich in der ersten Woche als Begleitperson zulässt, bis Jimin sich dort auskennt und eingewöhnt ist?"
"Die Frage ist, ob er sich eingewöhnen kann, wenn alle sehen, dass er eine Tante zum Schutz braucht. Das könnte bei den anderen Gehänsel hervorrufen. Wenn es sich also vermeiden lässt, sollten wir das anders hinkriegen.
Ich glaube, ich suche mal nach Jimin und berate mit ihm, wie wir uns bedanken können. Ich will ihn dann schon gerne mitnehmen. Aber erst werde ich mit Mr. Horton und mit der Schule telefonieren."

Leider geht die Schulsekretärin nicht ans Telefon. Aber die Klassenlehrerin kann Mina erreichen und ihr erzählen, was in der Nacht passiert ist.
"Ich wüsste darum gerne, welche Regelungen es für solche Fälle bei Ihnen gibt, ob ein Service Dog genehmigt würde. Und ich brauche die Telefonnummer von Mr. Horton. Dürfen Sie mir die geben?"
"Lieber gebe ich Ihre Nummer an Mr. Horton weiter. Ist das recht? Ansonsten gibt es in einer Parallelklasse von Nuri schon einen Blindenhund. Der wurde erst mit Rex eingewöhnt und hat dann Training für das gesamte Gelände bekommen. Warum sollte das für Jimin nicht auch gehen? Der arme Junge. Angst ist ein furchtbares Gefühl. Hoffentlich erholt er sich schnell von dem Schrecken und dem Ausflug.
Wir haben bisher keine Schwierigkeiten mit Allergien in der Klasse. Wir haben nur damals entschieden, soweit ich mich erinnere, dass in keiner Klasse mehr als ein Service Dog sein sollte. Ist Ihr Hund denn schon ausgebildet?"
"Nein, leider nicht. Wir hatten bisher keine Notwendigkeit dafür. Aber es entspricht seinem Wesen. Für ihn ist es ganz wichtig, dass es all seinen Menschen gut geht. Da Hunter sich heute Nacht von alleine so ausdauernd um Jimin gekümmert hat und seitdem immer in seiner Nähe bleibt, hatten wir die Idee, ob das klappen könnte. Eine Ausbildung müsste Hunter dann noch bekommen."
"Dann wünsche ich Ihnen dabei viel und schnellen Erfolg! Ich werde das morgen in der Konferenz ansprechen. Alles, was Jimin hilft, ist gut. Grüßen Sie ihn. Ich mag ihn jetzt schon. Er ist ein feiner Kerl."

Aufgeregt berichtet Mina John vom Telefonat. Die Auskünfte machen Hoffnung. Wenn sie jetzt noch einen Hundetrainer in der Nähe finden, der mit ihnen und Hunter zusammen arbeiten kann, dann ist das für Jimins Wohlbefinden schon die halbe Miete. Also versucht John, einen Hundetrainer aufzutreiben, während Mina zu Jimin geht. Im oberen Flur kommt ihr der grinsende Youngjun entgegen.
"Lego-Session beendet. Kannst ja selbst kucken, warum."
Neugierig schaut Mina in Jimins Zimmer. Sie findet ihn, mitten im halb fertig gebauten Lego, schlafend, Hunter liegt direkt neben ihm. Also hebt Mina ihn hoch und legt ihn in sein Bett. Dabei wird Jimin dann wieder wach und kuschelt sich einfach an sie.
"Na, du Rumtreiber? Hast du ein bisschen Schlaf nachgeholt?"
Jimin kuckt erschrocken.
"Bist ... du doch ... böse auf mich?"
Mina schluckt. Jimin ist hier, freiwillig und meistens gerne. Aber er balanciert noch immer auf ganz dünnem Eis. Sie tackert sich das Wort "Geduld" vors innere Auge und beruhigt ihn sofort wieder.
"Nein, keine Sorge. Wir verstehen ja, warum du weg wolltest. Wir haben dich so lieb, dass wir dich einfach gerne bei uns haben. Und wir haben noch ein paar Tage Zeit, um eine Lösung wegen Rex zu finden."
"Ich hab euch auch lieb. Ich wollte auch gar nicht weg von euch. Nur ... weg von den Hunden. Ich wollte nicht, dass du so oft wegen mir weinst. Und das ihr euch so viele Sorgen um mich machen müsst."
"Ach, Jimin. Man weint nur um Menschen, die man liebt. Die anderen sind einem nämlich egal. Es war nur sooo viel in den letzten Wochen, dass auch ich manchmal müde war. Und dann hab ich auch mal geweint. Aber ich bin dir nie, nie böse gewesen. Du bist jede einzelne Träne wert."
Jimin lächelt glücklich. Plötzlich begreift Mina noch etwas. Sie braucht nicht nur mehr Geduld für Jimin. Sondern auch für sich selbst. Sie hat so viel geleistet, gearbeitet, entschieden, erlebt und gefühlt in den letzten Monaten. Sie darf Pausen machen. Sie darf geduldig mit sich selbst sein.

Und Mina beschließt, sofort damit anzufangen.
"Ich schau mal, ob Onkel John grade was für die Uni arbeiten muss, oder ob er ein bisschen Zeit für uns hat. Dann hab ich nämlich eine Idee."
In dem Moment geht die Tür auf, und John steckt seinen Kopf ins Zimmer.
"Was für eine Idee? Ich muss heute nichts mehr arbeiten, was nicht auch heute Abend zu erledigen ginge."
"Es ist immer noch sehr heiß draußen, obwohl wir Ende August haben. Sollen wir zusammen ins Freibad gehen und uns hinterher den Bauch mit Eis vollschlagen?"
"Aujaaaaa!"
Jimin ist sofort hellwach, auf den Beinen und zur Tür raus. Seine helle Stimme schallt durchs ganze Haus.
"Nuri, Youngjun. Wir gehen schwimmen und Eis essen!"
Dann steht er wieder in der Tür und kuckt bedröppelt.
"Ich hab aber gar keine Badehose mitgebracht aus Korea. Wie soll ich da baden?"
Mina und John müssen herzlich lachen über diese komische Verzweiflung.
"Keine Sorge. Ich habe Mama Jeri nach deiner Größe gefragt und schon ein bisschen eingekauft. Es ist längst für alles gesorgt. Schnapp dir Youngjun, er soll zu den Nachbarn flitzen und Nuri fragen, ob sie mitkommen will. Youngjun soll euch dann helfen, alles zu packen und nichts wichtiges zu vergessen."

Kaum ist Jimin wieder zur Tür raus, schaut sie neugierig zu John und versucht, in seiner Miene zu lesen.
"Ich habe drei Hundeschulen und zwei Trainer für tiergestützte Therapie gefunden, die erreichbar sind. Der eine Trainer will am Samstag kommen und Jimin und Hunter kennen lernen. Er meinte, es dauere schon ein paar Monate, bis Hunter so richtig ausgebildet sei. Aber wenn es ein paar Regeln gäbe, könne er schon jetzt mit Jimin zur Schule gehen. Sozusagen learning by doing."
"Das ist ja wunderbar. Dann sagen wir Jimin noch nichts davon und warten den Samstag ab.
"Sehr gut. Und jetzt ab ins kühle Nass!"
John piekst sie in die Seite und schlüpft aus der Tür. Mina ist froh, dass sie vorhin begriffen hat, dass sie auf Jimin UND sich selbst aufpassen muss.

Der Ausflug wird eine sehr feuchte und sehr lustige Angelegenheit. Obwohl das Freibad überfüllt ist, finden sie noch einen schönen Liegeplatz und stürmen alle sofort ins Wasser. Nuri geht nur vorsichtig rein, weil sie noch nicht so gut schwimmen kann. Mina freut sich, dass das Jimin sofort auffällt.
"Kannst du denn schon schwimmen, Nuri? Oder soll ich auf dich aufpassen?"
Sofort hellt sich Nuris Gesicht auf.
"Nur ein ... nicht so richtig gut. Ich mag deshalb nicht ins ganz Tiefe gehen."
"Dann bleiben wir erstmal hier vorne bei der Treppe, bis du dich dran gewöhnt und ein bisschen geübt hast."
Mina staunt. Aber worüber eigentlich? Jimin weiß, wie sich Angst anfühlt. Wie Angst aussieht. Und er will einfach nicht, dass Nuri Angst haben muss. Wie wunderbar der Junge doch in ihre Familie passt! John und Youngjun versuchen, trotz der Menschenfülle um die Wette zu schwimmen. Jimin und Nuri bleiben im Flachen. Also sagt sie den beiden Kleineren Bescheid und sorgt ein bisschen für sich. Sie legt sich einfach wieder auf ihre Handtücher und klappt die Augen zu. Pause. Nichts tun. Nicht entscheiden, nicht sorgen, nicht räumen, nicht retten. Einfach Pause. Tut das gut!

Nach der Badeorgie ziehen sich alle schnell um, denn jetzt geht es zur Eisdiele. Es gibt tatsächlich einen echten italienischen Eisverkäufer in der Stadt, der stolz darauf ist, dass er auch hier in Amerika alles genau so macht wie zu Hause bei "la Mamma". Er macht sein Eis selbst, es gibt keine Pappbecher und Teller sondern richtiges Porzellan und Glas, der Kaffee schmeckt himmlisch und alles, was auf die Tische wandert, ist liebevoll dekoriert. Sie müssen ein bisschen warten, bis ein großer Tisch frei wird, aber dann fangen sie an, die Speisenkarte zu studieren und sich was auszusuchen.
Sowas hat Jimin noch nie gesehen. Da sind lauter bunte Bilder von den verschiedenen Eisgerichten. Aber nicht so quietschig bunt wie in Korea. Man kann gut erkennen, was in so einem Becher drin ist - und wie lecker der ist! Er kann sich gar nicht entscheiden. Die vielen Ratschläge der anderen helfen ihm auch nicht weiter. Onkel John schmunzelt.
"Na, dann müssen wir jetzt wohl jede Woche mindestens einmal herkommen, damit du dich noch in diesem Sommer einmal quer durch die Speisenkarte futtern kannst."
"Gute Idee!"
Youngjun lehnt sich zufrieden zurück und strahlt John an. Warum nicht, fragt sich Mina. Locker lassen! Und wenn sie bis zum Schulanfang jeden Tag hier herkommen. Sie werden deshalb weder verarmen noch an Unterkühlung dahinsiechen.

Der Kellner kommt und fragt nach den Wünschen. Schnell sind zwei große Eiskaffee für die Männer und eine Eisschokolade für Nuri bestellt. Mina wählt einen Cappuccino und hält sich ansonsten lieber an einen fruchtigen Joghurtbecher, während die anderen alle in Zucker und Sahne schwelgen. Jimin entscheidet sich für den Pfefferminz-Becher, weil er den Geschmack so gerne mag. Vor allem zusammen mit Schokolade.
"Wird gemacht, der junge Herr. Pfefferminz und Schokolade. Du hast einen guten Geschmack!"
Der Kellner sammelt die Karten ein. Jimin muss kichern.
"Ich bin doch kein Herr! Ich bin doch erst elf."
"Wohl bist du ein Herr, mein lieber Neffe. Du bist Herr Park Jimin und schon weit herumgekommen in der Welt. Der Kellner hat das gut erkannt."
Mina atmet tief durch. Ja, das fühlt sich viel besser an als diese ewige vorauseilende Sorge um alles. Leise streicht sie Jimin einmal über die Hand. Jimin schaut zu ihr hin und lächelt sie an. Dann redet er weiter mit Nuri irgendwelche Quatschwörter.
"Glaubs ruhig, Schatz. Du und Jimin - ihr seid beide hier. Der Junge ist zufrieden bei uns, und alle anderen Hindernisse überwinden wir auch noch."
Mina kann nur nicken. Sie ist grade zu bewegt zum Sprechen.

"Wann kommen denn eigentlich deine Eltern, um Jimin kennen zu lernen? Die müssen doch schon ungeduldig mit den Hufen scharren."
"Freitag Nachmittag zum Grillen. Da muss ich Jimin auch noch drauf vorbereiten."
"Musst du? Könnten das nicht zum Beispiel Nuri oder Youngjun tun?"
Mina muss so lachen, dass sie sich beinahe verschluckt.
"Angekommen, John. Ich habe verstanden. Ja, so fühlt sich das viel besser an."
Jimin schaut wieder zu Mina hin.
"Das klingt toll, wenn du lachst, Tante Mina. Du lachst viel zu wenig."
Minas Lachen geht nahtlos in Tränen über. Aber es sind erschöpft-glückliche Freudentränen, die ganz schnell wieder aufhören. Jimin steht sofort auf und nimmt Mina in die Arme.
"Das ist jetzt aber ganz verkehrt. Lachen ist viel besser."
"Das stimmt, du wunderbarer Mensch Jimin. Das stimmt."

Glücklich und mit unterkühlten Bäuchen fahren sie nach Hause, wo Hunter sie stürmisch begrüßt. Er wirkt richtig beleidigt, dass er zu Hause bleiben musste, und klemmt sich sofort wieder an Jimin. Der hockt sich hin und umarmt seinen aufmerksamen Beschützer.
"Hast du mich vermisst? Dann kannst du jetzt wieder aufhören zu bellen. Ich bin ja wieder da!"
Hunter wird still und kriecht förmlich in Jimin rein. Mina könnte schon wieder heulen vor lauter Glück. John legt ihr den Arm um die Schulter und zieht sie in den Garten.
"Was bin ich froh, dass meine Mina wieder meine Mina ist. Irgendwas ist heute mit dir passiert. Und das war höchste Eisenbahn. Ich mag dich nämlich auch mehr, wenn du lachst. Lass uns sehr viel reden, alle Lasten teilen, unsere Kinder einbeziehen und mit Jimin neu anfangen. Der Stress ist rum, du darfst loslassen."
Mina lächelt glücklich und lehnt sich bei John an. Das klingt gut! Und Jimins Reaktion vorhin hat ja gezeigt, dass er sehr fein ihre Stimmungen aufnimmt. Sie tut ihm gar keinen Gefallen, wenn sie sich dauernd sorgt.

Mina spricht heute nicht mehr mit Jimin über ein Dankeschön für Mr. Horton. Dazu ist dieser Tag viel zu schön. Es sind noch Ferien, niemand treibt sie. Also hocken sie sich später im Dunklen um ihre Feuerstelle im Garten. Sie erzählen sich Geschichten und Witze, stellen sich Rätsel, lauschen dem Knacken der Holzscheite und lachen sehr viel. Die beiden Sprachen gehen lustig durcheinander, und es macht Jimin auch gar nichts aus, zu fragen oder mit den anderen über ein falsches Wort zu schmunzeln.

Am nächsten Morgen muss John ausnahmsweise mal an die Uni. Mina fühlt sich ausgeruht. Sie frühstückt mit den Kindern und spricht dann das Dankeschön für Mr. Horton an. Jimin überlegt.
" Aber ich kenne ihn doch gar nicht. Ich glaube, ich male ihm ein großes Bild mit seinem Garten. Mit Zaun und Rex. Mehr weiß ich nicht."
"Das musst du auch nicht. Ein Bild finde ich schön. Und dann schenke ich ihm noch eine Flasche Wein dazu. Willst du denn mitkommen, wenn ich hinfahre?"
Jimin erschrickt, und Mina übt, sich dabei nicht zu verspannen.
"Wenn ... der Zaun ... ich meine ... weil ..."
"Das ist kein Problem, Jimin. Erstens werde ich vorher mit ihm telefonieren, dann läuft Rex da nicht rum. Zweitens können wir natürlich den Zaun abwarten. Und drittens könnten wir Hunter mitnehmen, dann fühlst du dich wohler und sicherer. Oder?"
Jimin nickt bloß, es hat ihm wohl wieder die Sprache verschlagen.
"Ich fände es auch gut, dass du mitkommst, weil du dann nicht erst am Montag zum ersten Schultag hin musst. Ich glaube, das wird leichter für dich, wenn du vorher noch einmal alles siehst und Rex hinter dem Zaun erlebst. Was denkst du?"
Wieder nickt Jimin, und wieder atmet Mina bewusst tief durch, damit sie sich an ihrer Hoffnung festhalten kann.

Dann taucht ein völlig neues Problem auf. Hunter weigert sich auf einmal, ohne Jimin Gassi zu gehen. Aber mit Jimin können sie nicht zur Hundewiese gehen. Dafür muss er noch viel sicherer werden mit allem. Also marschiert Youngjun mit Jimin und Hunter in die andere Richtung, wo ein kleiner Park ist. Da sind um diese Zeit keine Hunde, weil hier vor allem ältere Leute hinkommen. Sie toben ein bisschen mit dem Hund auf dem Rasen und sammeln seine Haufen ein, damit niemand reintritt. Mülleimer stehen hier genug. Auf dem Hin- und Rückweg gibt Youngjun Jimin die Leine und übt mit den beiden Kommandos, damit Jimin den Hund vielleicht tatsächlich bald mit in die Schule nehmen kann.

Gegen Mittag meldet sich Mr. Horton, fragt, wie es Jimin geht, und erzählt, dass er jetzt nur noch das Gartentor setzen muss. Mina geht in ihr Büro und redet lange mit dem Hausmeister über Jimin und Rex, über Rex und Hunter. Sie verabreden sich für den Samstag Morgen zum Besuch in der Schule. Dann hat Jimin genug Zeit zu malen, und sie kann noch den Wein besorgen.
Die Email-Postfächer von Mina und John quellen inzwischen über von lauter guten und nicht so guten Ratschlägen zu der Therapeutenfrage. Mina nimmt sich die Zeit, googelt nach allen Namen, schaut sich viele Homepages an und pickt sich ein paar vielversprechende Leute raus. Dann hängt sie sich ans Telefon und spricht endlose Sprüche auf unendlich viele Anrufbeantworter. Von denen, die sie sofort erreicht, ist ihr nur eine Frau sympathisch, die Halbkoreanerin ist und also mit Jimin in seiner Muttersprache arbeiten könnte. Mit der macht sie dann gleich für die nächste Woche einen Termin.
Nach der Uni erreicht John den zweiten Tiertrainer und lädt ihn auch für Samstag ein - nach dem anderen, denn der erste war freundlicher. Und zum Abschluss des Tages schlagen sie sich wieder gemeinsam in der Eisdiele den Bauch voll.

Vorm Einschlafen zeigt Jimin den anderen sein Bild. Er hat sich wirklich riesig viel Mühe gegeben. Er hat das Haus gemalt mit ganz vielen Blumen, den Garten mit Rex, der da liegt und die Zunge raushängen lässt. Und davor hat er einen schönen schnörkeligen Zaun gemalt, mit einer Glocke am Tor. Am Himmel fliegen ein paar Vögel und ein bunter Schmetterling. Auf die Rückseite will Jimin noch was schreiben, aber er hat Angst, dass er ganz viele Fehler macht. Also besprechen sie, was er schreiben könnte, und zeigen ihm, wie die Wörter aussehen müssen. Das schreibt Jimin dann an den Rand vom Bild.
"Lieber Mr. Horton! Danke, dass Sie mich gefunden und nach Hause gebracht haben. Hunter und ich waren schon ganz müde. Dein Jimin"

Am Freitag erzählt Mina beim Frühstück, dass heute Oma und Opa zum Grillen kommen. Nuri jubelt sofort ganz laut.
"Dann ist die ganze Familie zusammen!"
"Naja - Papas Eltern und Brüder fehlen dann noch. Aber dafür lassen wir Jimin Zeit."
Den ganzen Tag summt das Haus wie ein aufgescheuchter Bienenstock. Jimin und Nuri räumen ihre Zimmer auf, Youngjun mäht den Rasen, Mina steht fröhlich pfeifend in der Küche und John telefoniert mit ein paar weiteren Therapeuten. Zum Mittag gibt es echt koreanische Tütensuppe.

Und dann ist es auch bald schon so weit. Nuri zerrt Jimin vors Haus, wo sie mit Hunter spielen, bis ein Auto in die Einfahrt rollt. Oma und Opa steigen aus und zögern. Auch Jimin wird auf einmal ganz schüchtern. Nur Nuri flitzt einfach hin und umarmt beide. Hunter kontrolliert die Neuankömmlinge und gibt dann den Weg wieder frei. Mina hat den Motor gehört und geht jetzt auch raus.
"Mama, Papa - schön, dass ihr da seid."
Der Vater lacht.
"Du hast uns ja vorher nicht gelassen!"
Dann geht er einfach auf Jimin und Hunter zu.
"Hallo Jimin! Ich bin der Papa von Mina und Sumi und dein Opa. Wir haben uns ja schon beim Skypen gesehen. Und jetzt darf ich dich endlich richtig begrüßen."
Jimin zögert. Es arbeitet in seinem Gesicht und in seinem Kopf. Dann greift er entschlossen in Hunters Fell und verbeugt sich höflich.
"Hallo Opa! Das ... das ist so komisch, dass ich auf einmal eine so große Familie habe. Aber das ist toll!"
"Darf ich dich in die Arme nehmen? Ich bin so glücklich, dass Mina dich gefunden hat."
Wieder zögert Jimin. Dann nickt er. Opa geht auf die Knie und breitet seine Arme aus. Und Jimin traut sich, ganz hin zu gehen und die Umarmung zu erwidern.
Mit Oma wird es schwieriger, denn die weint schon wieder. Mina muss sie erstmal beruhigen, bevor auch sie auf Jimin zugehen kann.
Sie geht in die Hocke und schaut ihn ganz lange an. Sie kann nur flüstern vor Aufregung.
"Sumis Junge. ... Jimin. ... Wie schön, dass es dich gibt."
Da kann Jimin gar nicht anders. Er umarmt auch seine Oma, und Mina darf mal wieder eine Sorge loslassen.

Opa zeigt Jimin, wie man einen Grill anmacht. Mina und ihre Mutter schauen heimlich durch die Terrassentür zu. Mina verschwindet dann mit ihrer Mutter in der Küche für die letzten Vorbereitungen.
"Mina? ..."
"Ja, Mama?"
"Hätten wir ... damals mehr suchen müssen? Der Junge ist wunderbar. Hätten wir die beiden nicht finden müssen?"
Mina nimmt ihre Mutter in die Arme.
"Nein, Mama. Ihr hättet Sumi nicht gefunden, weil sie es nicht wollte. Weil sie sich geschämt hat und uns alle nicht belasten wollte. Ich zeig dir heute Abend was. Ich hab euch doch erzählt, dass sie ganz gezielt Zeichen für mich hinterlassen hat. Wenn sich hier irgendjemand schuldig fühlen müsste, dann wäre ich das, weil ich damals nicht mit gekommen bin. Als ihr gesucht habt. Nur ich konnte sie finden.
Ich hatte erst auch furchtbar schlechtes Gewissen. Aber Jimin hat mir gesagt, dass ich das lassen soll, weil seine Mama das bestimmt nicht gewollt hat. Und er hat recht! Wir dürfen die Vergangenheit ruhen lassen und die Gegenwart genießen."
"Der Junge ist besonders."
"Ja - das ist er."

Die Grillrunde wird fröhlich. Sie wechseln sich ab am Grill, spielen Fußball auf dem Rasen, singen koreanische Lieder und lachen viel. Mina sieht mit Freude, dass auch ihre Mutter nach und nach loslassen und ihren neuen Enkel einfach genießen kann. Es ist wunderbar, Jimin hier zu haben. Wenn jetzt morgen auch noch alles klappt, dann sind sie alle ein ganzes Stück weiter gekommen.
Noch einmal gehen die Kinder sehr spät ins Bett. Ab morgen wird das anders, damit sie sich wieder an die Schulzeit gewöhnen können. Als die beiden Kleinen im Bett sind, zieht Mina ihre Eltern zum Sofa.
"Ich habe noch etwas, was ich euch zeigen möchte."
Sie zieht den Brief von Sumi hervor und erzählt von der treuen Krankenschwester, die nie aufgegeben hat, Mina zu erreichen. Dann liest sie ihren Eltern Sumis Brief vor. Nun laufen doch wieder die Tränen. Sie reden und reden und reden bis weit nach Mitternacht, bis Mama und Papa so einigermaßen alles verdaut haben. Mina kann nun auch in Ruhe erzählen, was in den letzten Monaten in ihr alles passiert ist und sich verändert hat. Sie lässt ihre Eltern teilhaben an dem gesamten Abenteuer "Jimin".
Dass Mina das Anwesen für kleines Geld dem Kinderdorf-Trägerverein vermietet und mit einer regelmäßigen Spende für den Erhalt sorgt, macht die beiden stolz und glücklich.
"Das war genau die richtige Entscheidung, Mina. Einen schöneren Zweck kann das alte Haus nicht bekommen, als Kinder in Sicherheit und Liebe aufwachsen zu lassen. So wird aus Mutters Griesgrämigkeit nun etwas Gutes. Ich hätte das Haus auch nicht haben wollen."
"Ich weiß, Papa. Großmutter war, wie sie war. Für Sumi war das furchtbar, und wir haben das viel zu lange nicht begriffen. Aber jetzt wächst daraus etwas Wunderbares. Hoffentlich könnt ihr Mama Jeri auch bald kennen lernen."

Zu ihrem Erstaunen schaut Minas Mutter sie lange nachdenklich an.
"Was ist, Mama?"
"Warum sagst du 'wir'? Du warst selbst noch nicht erwachsen, als wir hier hergezogen sind. Du musstest da gar nichts begreifen. WIR haben verschlafen, uns intensiver um Sumi zu kümmern. Nicht du! Gibst du etwa dir die Schuld an Sumis Tod?"
Mina stutzt. Dasselbe hatte Jimin ihr schon vor Monaten gesagt. Hängt sie immer noch fest im Schuldgefühl?
"Ich ... ich glaube, am Anfang habe ich mich furchtbar schuldig gefühlt, weil ich die einzige war, die wirklich wusste, wo sie suchen sollte. Und als Sumi verschwand, war ich durchaus alt genug, um zu begreifen, dass es auf mich ankommt. Ich war erwachsen, verheiratet und Mutter zu dem Zeitpunkt. Aber die Woche vor der Hochzeit hatte eine Mauer zwischen uns aufgerichtet. Ich war sozusagen zu feige und zu verletzt, um zu verstehen.
Aber ... kaum hatte Jimin zu mir Vertrauen gefasst, hat er das begriffen und mir ganz klar gespiegelt, dass weder er noch ich noch ihr eine Schuld an ihrem Verschwinden tragt. Sie schreibt das in diesem Brief ganz klar: wir sind nicht schuldig. Sie selbst war nun auch erwachsen und hat das so entschieden. Sie hätte gerne gefunden werden wollen, aber sie hat ihr Schicksal bewusst angenommen und sich für Jimins Leben entschieden.
Nein, ich fühle mich nicht mehr sooo schuldig, auch wenn es noch eine Weile dauern wird, bis ich das ganz loslassen kann. Jimin hilft mir dabei sehr. Ich sage 'wir', weil wir alle Sumi verloren haben. Und das verbindet uns in dieser Hinsicht."
Mama nickt und entspannt sich etwas, während Mina ihren eigenen Worten nachlauscht und feststellt, dass das jetzt endlich richtig klingt.

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9.10.2021 - 17.8.2022

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