Kapitel 12 - "A" wie "Angst"

Als Jimin aufwacht, ist es ganz still. Und irgendwie alles anders. Kein Flugzeug dröhnt, kein Boden vibriert. Auch der Stoff der dünnen Bettdecke riecht anders und fühlt sich anders an. Das Licht ist anders, die Luft. Jimin richtet sich auf und schaut sich staunend um. Seine Bettwäsche zeigt einen Schwarm Delphine, die Tapete an der Wand beim Bett sieht aus wie Wasser, die gegenüberliegende Wand sieht aus wie ein Strand. An diesem "Strand" hängt ein großes durchsichtiges Teil mit vielen Fächern, das völlig leer ist.
Am Fenster steht ein Schreibtisch, daneben ein Regal, voll mit seinen Büchern und Spielen, auf der anderen Seite hängt eine Weltkarte, eine Sternenkarte und ein Poster mit Meerestieren, Vögeln und Korallenarten. Neben dem Bett steht eine der Frachtkisten, die Onkel John schon ausgepackt hat. Sie ist angestrichen wie ein Felsen und vorne offen, damit Jimin da was reintun kann. Obendrauf stehen eine kleine Lampe, ein Wecker und eine Flasche Wasser. Das Bett ist höher als normal, und als Jimin sich vorbeugt, sieht er darunter seinen Schulranzen und mehrere Legokisten. Über dem Bett hängt ein riesiges grünes Blatt wie ein Dach, und daran baumeln verschiedene Vögel aus Holz.

An der Zimmerdecke mittendrin um eine Lampe drumrum kleben überall viele kleine Leuchtsterne. Während Jimin noch die Decke anstarrt, klopft es leise an der Tür, und Onkel John kommt rein.
"Na, du Langschläfer? Herzlich willkommen in unserer Familie. Ich freue mich sehr, dass du da bist."
"Wieviel Uhr ist es denn?"
"Hier ist es drei Uhr nachmittags, in Korea sieben Uhr morgens. Aber in ein paar Tagen wirst du dich an die andere Zeit hier gewöhnt haben. Warum starrst du so an die Decke?"
"Die Sterne da oben ... ich bin gespannt, wie das aussieht im Dunklen."
"Das ist ein Begrüßungsgeschenk von Youngjun. Er hat in einer Sternwarte nach einem Bild gefragt, das den Himmel über deiner Heimatstadt am 13. Oktober zeigt. Wenn du ins Bett gehst und das Licht ausmachst, kannst du hier an der Decke den Himmel sehen, der gleichzeitig auch über Mama Jeri leuchtet."
Jimin staunt. Der große Bruder, vor dem er sich heimlich immer noch fürchtet, tut so viel für ihn!
"Ist ... Youngjun zu Hause?"
"Er ist grade mit Hunter auf dem Hundeplatz. Aber er müsste bald wiederkommen. Nuri und ich haben Kuchen gebacken, während ihr geschlafen habt. Kommst du mit?"
"Ist Tante Mina schon wach?"
"Schon eine Weile. Na auf, lass uns runter gehen."

Jimin steht auf und greift nach Onkel Johns Hand. Er kennt das Haus ja noch gar nicht. Hoffentlich findet er sich bald zurecht. Gemeinsam steigen sie die Treppe runter. Unten kommt ihnen Nuri entgegengehopst. Jimin zuckt bei ihrer lauten fröhlichen Mädchenstimme erstmal zusammen.
"Hallo, Jimin. Schön, dass du endlich da bist. Ich hab schon den Tisch gedeckt, Papa. Mama, Jimin ist wach!"
"Mach mal langsam, Tochterkind. Wir kommen ja gar nicht mit, wenn du mit drei Leuten gleichzeitig redest."
Sie gehen gemeinsam ins Esszimmer.
Tante Mina steht am Fenster und schaut in den Garten. Jetzt dreht sie sich um.
"Na, Jimin? Komm mal her. Ich bin so froh, dass wir beide das geschafft haben mit dem Flug."
Sie geht in die Hocke und nimmt Jimin in die Arme.
"Hab ich ... dolle geschrien? Ich kann mich an fast gar nichts mehr erinnern."
"Es war zum Teil ganz schön beängstigend, aber du hast alles geschafft. Schau mal."
Tante Mina tippt auf ihrem Handy und hält es Jimin unter die Nase.
"Kannst du dich an diese Leute erinnern?"
Jimin schüttelt den Kopf. Auf dem Bild liegt er in dem Flugzeugstuhl und schläft. Und drumrum sitzen drei Leute in Uniformen und lächeln in die Kamera.
"Schau, das ist der Copilot Mr. Abraham Soul, der hat dir immer nette Nachrichten auf den Bildschirm über deinem Stuhl geschickt. Das ist die Stewardess, die uns das Essen gebracht hat. Sie hat nach dem Schreck den Spezialgurt gebracht, damit wir zusammen in einem Stuhl schlafen konnten. Und das ist der Pilot. Ich soll dich ganz dolle von den dreien grüßen. Sie haben dich gern und freuen sich, wenn wir ihnen mal berichten, wie es dir jetzt hier geht."
Ausnahmsweise weiß Jimin sofort die Antwort. Ganz leise flüstert er in Tante Minas Ohr.
"Müde, durcheinander, ein bisschen ängstlich, ein bisschen neugierig, mein Zimmer sieht toll aus, ich hab Angst vor Hunter."
Dann kuschelt er sich in Tante Minas Arme, atmet ihren vertrauten Geruch ein und fühlt sich gleich viel wohler. Tante Mina geht aus dem Raum, und Jimin schaut sich neugierig um.

Im Hintergrund wird Nuri ungeduldig.
"Wann essen wir denn jetzt den Kuchen? Wir haben schon so lange gewartet, bis Jimin endlich aufwacht. Ich hab Hunger!"
Jimin kriegt ein bisschen Gänsehaut. Wird Nuri doch die kleine Prinzessin sein und ihn rumschubsen? Aber Onkel John schnappt sich seine Tochter, setzt sie sich auf den Schoß und schaut sie ernst an.
"Wer bist du, und was hast du mit meiner fröhlichen, freundlichen Nuri gemacht?"
Jimin schielt zu den beiden rüber und bewegt sich kein Stück.
"Hä? Ich BIN doch Nuri. Und ich hab Hunger!"
"Das kann sein, aber du weißt ganz genau: wer am lautesten brüllt, bekommt als letztes. Wenn du also schnell etwas zu essen haben möchtest, dann solltest du dich ein bisschen zusammenreißen."
"Aber ... aber das dauert so lange."
"Oha! Ist da jemand eifersüchtig? Stört es dich, dass wir mit Jimin geduldig sind, damit er sich hier wohlfühlen kann? Du hast keinen Grund dazu. Jimin ist nicht einen Schnipsel mehr oder weniger wert als du. Wenn er Mama zum Kuscheln braucht, dann bekommt er das. Und wenn du getröstet werden willst, dann bekommst du das auch. Ich will hier keinen Wettkampf um unsere Liebe und Aufmerksamkeit erleben. Verstanden, Fräulein?"
Nuri nickt, obwohl sie noch sauer aussieht, und Jimin atmet ein bisschen auf. Nein, Nuri ist keine Prinzessin. Weil sie nämlich nicht gelassen wird. Wie gut!
Tante Mina kommt mit Saft und Kaffee aus der Küche und stellt beides auf den Tisch. Nuri hopst von Onkel Johns Schoß und rutscht ganz schnell auf ihren Stuhl. Tante Mina streicht Jimin einmal übers Haar und zeigt auf den Stuhl daneben. Da klebt sogar noch Jimins Name dran. Schnell setzt er sich und beobachtet ganz genau, was die anderen jetzt machen.

"John, weißt du, wann Youngjun losgegangen ist? Allmählich könnte er mal eintrudeln hier."
"Ich glaube, da kommt er grade."
Da die Tür vom Esszimmer offen steht, kann Jimin Schritte und Klackergeräusche im Flur hören. Im nächsten Moment streift der große kunterbunte Mischling ins Esszimmer und begrüßt alle Anwesenden, indem er von Stuhl zu Stuhl geht. Mit einem Quieken und schreckensweiten Augen zieht Jimin die Beine hoch und starrt den Hund an. Onkel John greift sofort ein. Leise, ruhig, aber bestimmt.
"Hunter. Nicht zu Jimin, er hat Angst vor dir."
Hunter bleibt sofort bei Mina stehen, begrüßt sie, dreht sich um und verlässt den Raum, indem er sich jenseits der offenen Schiebetür im Wohnzimmer vor den Kamin legt. Seine wachsamen Augen haben die Familie im Blick, und Jimin spürt, dass er beobachtet wird. Mit diesem großen Tier will er nicht allein sein.

"Nuri, du darfst anfangen. Denk dran: der Gast bekommt immer zuerst."
Jimin starrt noch immer auf den Hund, während Tante Mina und Nuri den Kuchen auf die Teller verteilen. Youngjun kommt nun auch ins Esszimmer.
"Hallo, Jimin. Schön, dass du da bist. ... Ui, warum siehst du so erschrocken aus? Ich tu nichts. Ich mag dich!"
Jimin umklammert seine Beine und ist total überfordert. Der Hund und der große Bruder auf einmal - das ist zu viel. Jimin nickt Youngjun zu, aber antworten kann er nicht. Stattdessen wünscht Tante Mina allen einen guten Appetit. 

Jimin kann noch nicht essen. Er muss erst alles hier verstehen. Also schaut er zu Nuri, die wieder normal kuckt und mit Begeisterung ihren Kucken mümmelt. Er schaut zu Onkel John, der auch anfängt zu essen. Tante Mina fragt Jimin, ob er Saft trinken möchte. Sie muss aber zweimal fragen, weil er sie gar nicht wahrnimmt.
"Ich ... entschuldige, Tante Mina. Ja, gerne. Ich ... das ging grade zu schnell."
"Ich bin froh, dass du so gut sagen kannst, was du brauchst. Das wird uns allen helfen, uns ganz schnell aufeinander einzustellen.
Was denkt ihr, geht es, dass Hunter erstmal im Wohnzimmer oder in einem der Arbeitszimmer wohnt, und dass wir ganz strikt keine Türen offen stehen lassen? Dann können wir mit Jimin und Hunter üben, bis sie sich vertraut gemacht haben. Hunter sollte nicht so unerwartet auf Jimin loslaufen können."
Youngjun kuckt ein bisschen schuldbewusst.
"Da hab ich aber auch gepennt. Ich wusste doch, dass Jimin Zeit zum Gewöhnen braucht. Ich versprech dir, dass ich ab jetzt besser aufpasse. Okay, Jimin?"
Jimin nickt wieder, schaut noch einmal um den Tisch auf seine neue Familie, setzt sich wieder normal hin und probiert von dem Kuchen.

"Der ist lecker! Was ist das Rote da drin? Das ist ein bisschen sauer."
Nuri wird ganz groß auf ihrem Stuhl.
"Das sind Cranberrys. So kleine rote Kugeln, die ein bisschen süß und ein bisschen sauer schmecken und hier in Amerika wachsen. Einfach so sind mir die zu sauer. Aber im Kuchen schmecken die total lecker. Ich hab extra viele reingetan, damit du auf jeden Fall ein paar abbekommst."
Endlich kann Jimin wieder lächeln. 
Nuri hat beim Kuchenbacken extra an ihn gedacht. Das ist lieb.
"Danke. Ich hab hier ganz viele drin. Das sieht lustig aus - wie ein umgekehrter Fliegenpilz."
Nuri kichert, und Jimin ist echt erleichtert. Alle sind nett zu ihm. Er hat ein total schönes Zimmer bekommen, er darf hier wirklich zu Hause sein.

Da fällt ihm etwas ein.
"Weiß Mama Jeri schon, dass wir angekommen sind? Und darf ich ihr ein Bild von dem Fliegenpilzkuchen schicken?"
Onkel John muss lachen und verschluckt sich fast an einem Kuchenkrümel.
"Solange du nicht so verrückt bist, einen echten Fliegenpilz zu essen ... Wir hätten dich gerne noch eine Weile lebend bei uns. Hier, nimm mein Handy. Oder nein. Ich mache ein Bild von dir mit dem Kuchen. Dann sieht Mama Jeri gleich, dass es dir gut geht."
Jimin hält grinsend seinen Teller in die Kamera und deutet mit der anderen Hand auf die roten Punkte. Onkel John drückt ein paarmal ab und zeigt ihm die Bilder. Jimin entscheidet sich für eines. Das schickt Onkel John dann zu Mama Jeri.
"Willst du noch eine Sprachnachricht machen?"
"Au ja!"
Jimin schnappt sich das Handy und fängt an zu erzählen.
"Hallo, Mama Jeri, ich hab dich lieb! Der Flug war scheußlich, der Copilot ist mein neuer Freund, Hunter ist mir zu wild. Und der Kuchen ist toooootal lecker! Den hat Nuri gebacken. Grüß alle! Tschüüüüüüüüüß!!!"
Dann macht Jimin noch einen lauten Schmatz ins Mikrofon und gibt das Handy zurück.
"Darf ... ich noch ein Stück haben?"
Tante Mina lächelt.
"Klar! Nuri, du auch?"
"Au jaaaa."
Tante Mina teilt an alle noch eine Runde Kuchen aus, der auch ziemlich schnell in den Bäuchen verschwindet.

Youngjun lächelt Jimin über den Tisch hinweg an.
"Ich hab dir das Lego unters Bett gestellt. Auf dem Dachboden ist noch viel mehr. Wenn du magst, können wir uns das zusammen anschauen und überlegen, was davon du noch haben willst."
Jimin nickt. Youngjun ist lieb. Jetzt hat er kaum noch Angst von ihm.
"Hab ich schon gesehen. Und du ... du hast mir die Sterne von zu Hause an die Decke geklebt. Ich freu mich drauf. Wenn es dunkel ist, kann ich direkt nach Korea kucken. Das ist toll. Danke!"
"Hei - cool, wenns dir gefällt. Aber Papa und ich haben noch eine Überraschung für dich."
Onkel John bremst sofort.
"Die gibts aber erst, wenn alle geholfen haben, den Tisch abzudecken."
Nuri ist schon wieder ganz aufgeregt. Darum schnappt sie sich alle Teller und flitzt in die Küche zur Spülmaschine. Jimin trägt die Kuchenplatte, alle anderen packen auch mit an. Als die Spülmaschine laut vor sich hin rumpelt, setzt Youngjun sich Nuri auf die Schulter.
"Damit du nicht vorpfuschen kannst. Das ist nämlich unsere Überraschung."
Nuri schmollt kurz. Dann klopft sie Youngjun auf den Kopf.
"Hüa, mein Pferdchen!"

Onkel John gibt Hunter den Befehl, im Haus zu bleiben. Jimin nimmt sich die Hände von Tante Mina und Onkel John und lässt sich in den Garten führen. Erstmal sieht er nur viel Rasen, Blumenbeete, einen Grillplatz und eine Schaukel. Aber jetzt biegen die anderen ab ums Haus herum. Und dann sieht er es. Hinter der Garage stehen drei große Bäume. Die sind zwar noch nicht so alt und dick, aber das Baumhaus ist einfach an allen drei Bäumen befestigt. Es schwebt in der Mitte dazwischen und wird so gehalten. Jimin bleibt wie angewurzelt stehen.
"Oh!"
Mehr bekommt er erstmal nicht raus. An dem einen Baum führt eine Leiter rauf zu einem großen Balkon vor dem Häuschen. Die Tür hat eine Klinke und ein kleines rundes Fenster. Das Haus ist ziemlich hoch und hat auch an den Seiten Fenster. Die Wände sind hellgelb gestrichen, nur das Dach ist schwarz.
"Das ... das ... Ihr habt doch gesagt, ihr habt kein Baumhaus. Ich mein'... Wo ... Wie ..."
Youngjun fängt an zu lachen.
"Wenn du entschieden hast, welche Frage du zuerst stellen willst, kann ich sie dir alle beantworten. Steig einfach mal rauf. Du darfst das Häuschen einweihen."
Das lässt sich Jimin nicht zweimal sagen! Wie der Blitz ist er die Leiter hochgeklettert. Oben lunzt er als erstes durch das runde Fenster, dann hockt er sich auf den "Balkon" und lässt seine Beine baumeln.
"Habt ihr das ... jetzt ... extra wegen mir gebaut?"
Onkel John schmunzelt und nickt, Jeongjun lacht.
"Während ich hier mit Hunter alleine war, habe ich im Internet nach Bauplänen und Befestigungsmöglichkeiten und allem möglichen gegoogelt. Dann habe ich Pläne gemacht. Die Befestigung und die Grundplatte haben wir selbst gebaut, das Häuschen ist fertig gekauft, damit das mit der Tür und den Fenstern passt. In den letzten beiden Tagen haben wir wie die Bekloppten gesägt, gehämmert und geschraubt, damit alles rechtzeitig fertig ist. Gefällt es dir?"
"Und wieeeeeee! Juchuuuuuuu, jetzt ist alles da."
Die anderen unten fangen an zu lachen. Onkel John und Youngjun geben sich ein High Five. Dann macht Onkel John das nächste Foto und schickt es gleich an Mama Jeri.
Im Haus fängt Hunter an zu bellen. Er ist es nicht gewöhnt, von der Familie so ausgeschlossen zu werden. Jimin zieht schnell die Beine hoch und verschwindet im Baumhaus. Da ist er sicher.
Drinnen ist es hell und duftet nach frischem Holz. An der Wand ist ein kleines Regal, auf dem Boden ist ein fester Teppich, in der Ecke liegen zwei dicke Kissen und eine kuschelige Decke. Jimin ist selig. Sie haben an alles gedacht. Er hat wirklich eine tolle Familie!

Aber was macht er jetzt mit dem Hund da draußen? Erstmal wieder rausgehen. Hunde können nicht klettern! Als Jimin seinen Kopf aus der Tür streckt, kommt Nuri grade die Leiter hoch. Also tauschen sie. Tante Mina lässt den Hund in den Garten, und der kommt natürlich sofort zur Familie geflitzt. Misstrauisch schielt Jimin zu Hunter runter. Ob das gut geht?
Onkel John kommt an die Leiter und streckt seine Arme aus.
"Komm her, Großer. Ich heb dich erstmal runter, und Mina hält Hunter fest. Wir setzen uns da auf die Bank. Du musst keine Angst haben. Aber du und Hunter, ihr solltet euch kennen lernen, bevor die Angst noch größer wird."
Auweia! Jimin erstarrt. Kennen lernen ist jetzt nicht das, was er sich von einem Hund wünscht ... Aber Onkel John strahlt ihn so an, dass er sich dann doch traut.

Tante Mina geht mit Hunter zu der gemütlichen Gartenbank, setzt sich und gibt dem Hund den Befehl, sich hinzulegen. Jimin klettert derweil in Onkel Johns Arme und schielt über dessen Schulter zu dem Hund. Onkel John setzt sich mit ihm neben Tante Mina. Hunter will aufstehen, und Jimin spannt sich sofort an. Aber Tante Mina ist streng und sorgt dafür, dass Hunter gleich wieder liegt. Youngjun setzt sich daneben ins Gras. Der Hund winselt. Als Youngjun anfängt, ihn zu kraulen, wird er ruhiger, und auch seine Rute steht endlich still.

Jimins Kopf fährt mal wieder Karussell. Soll er jetzt irgendwas machen? Oder macht einer von denen was? Jimin setzt sich grade hin auf Onkel Johns Schoß, die Füße auf der Bank, und schaut ihn fragend an. Da fängt Youngjun an zu reden.
"Hunter?"
Sofort schaut der Hund auf.
"Das ist Jimin. Jimin hat ein bisschen Angst vor dir, darum müssen wir jetzt üben, dass du ihn nicht erschreckst."
Er hält dem Hund seine Hand vor die Nase, bedeutet ihm aber gleichzeitig, dass er liegen bleiben soll. Hunter schnuppert.
"Jimin, kannst du mir mal deine Hand geben?"
Jimin glaubt, sich verhört zu haben. Seine Hand! Und dann??? Schnell schüttelt er den Kopf. Onkel John schiebt Jimin ein Stück nach vorne, damit er sich runterbeugen und seine Hand ausstrecken kann. Schnell klammert Jimin sich fest. Das schafft er nie!

Aber er bekommt alle Zeit der Welt. Der Mischling schaut zu ihm hoch und legt den Kopf schief. Das sieht aus, als ob er bettelt. Soll Jimin das Wagnis eingehen? Ganz, ganz langsam streckt er eine Hand aus, zieht sie wieder zurück und streckt sie nochmal aus. Hunters Kopf wird noch schiefer, und seine Augen sind fest auf Jimins Hand gerichtet. Endlich ist sie nah genug dran. Behutsam schiebt er seine lange Hundeschnauze nach vorne und kann so an Jimins Fingern riechen. Bevor Jimin nur Piep sagen kann, fährt plötzlich die feuchte, raue Hundezunge über seine Finger. Jimin reißt seine Hand zurück und schreit vor Schreck einmal laut. Hunter springt auf und fängt an zu bellen. Jimin hält sich die Ohren zu, zieht den Kopf ein und fängt an zu weinen. Youngjun zieht Hunter sofort zurück, hält ihm die Schnauze zu und schaut ihn fest an.

"Ich weiß, mein Junge. Sitz! Du bist genauso erschrocken wie Jimin. Aber du bist klug. Du weißt, dass du keine Angst haben musst. Jimin gehört jetzt zur Familie. So ist es brav. Wir versuchen es gleich nochmal. Komm, Jimin. Hunter tut dir wirklich nichts. Wir sind sein Rudel, und er will nur kontrollieren, dass auch mit dir alles in Ordnung ist. Gib mir nochmal deine Hand."
Aber Jimin hat jetzt erstmal keinen Mut mehr. Er klammert sich an Onkel John und dreht sich nicht mehr um.
"Dann lass gut sein, Sohnemann. Magst du ein bisschen mit Hunter toben, während wir mit Jimin reingehen?"
Tante Mina steht auf, übernimmt Jimin und geht hoch in sein Zimmer. Sie kuscheln und singen, Jimin kann ganz viele Fragen stellen. Über den durchsichtigen Kasten an der Strand-Wand, über den komischen Riegel am Fenster, über die Bücher im Regal, die gar nicht von ihm sind. Dabei kann Jimin wieder ruhig werden und sich über alles freuen, das mit so viel Liebe für ihn vorbereitet wurde.

Inzwischen schämt er sich ein bisschen für seine Angst.
"Tante Mina. Ich ... ich glaub ... das war doof vorhin."
Im nächsten Moment klopft es an die offene Tür, und Youngjun kommt mit einer Schachtel herein.
"Was war doof?"
"Das mit Hunter."
"Weißt du was? Ich hatte letzte Woche eine Idee, als ich deine vielen Bücher über Natur und Tiere und Pflanzen ausgepackt habe. Dieser durchsichtige Kasten da an der Wand ist ein Setzkasten für Sammler. Ich habe mal eine Weile Steine, Kristalle und Muscheln und so gesammelt. Die sind jetzt alle in dieser Kiste. Jedes mal, wenn du es schaffst, irgendeine Angst zu überwinden, darfst du dir daraus ein Teil aussuchen, ich erzähle dir alles darüber, was ich weiß, und dann stellst du es in den Setzkasten."
Tante Mina hakt sofort ein.
"Ich finde es aber wichtig, dass du nicht mitmachst, um einen Stein zu bekommen. Immer, wenn du die Angst überwindest, hast du einen großen Sieg für dich errungen. Aber wenn die Angst nun mal größer ist, dann musst du dich nicht zwingen. Einverstanden?"

Jimin schaut zwischen den beiden hin und her, dann auf den geheimnisvollen Karton, den Setzkasten, zurück zu Youngjun. Auf einmal schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ganz echt ist. Deshalb kann er ihn auch sofort sagen.
"Youngjun? Ich ... ich war mal ... in einer Pflegefamilie, wo ein älterer Junge war. Der war ganz scheußlich zu mir, darum hab ich erst große Angst gehabt, weil du auch ein älterer Junge bist. Aber du bist lieb. Du hast schon so viele tolle Sachen für mich gemacht. Das Baumhaus. Die Geburtstagssterne. Du bist schon den ganzen Tag so nett zu mir. Das ... Danke! Ich mag dich. Ich hab jetzt keine Angst mehr vor dir."
Jimin hat tatsächlich keine Angst mehr vor diesen vier Menschen. Er ist hier zu Hause, ist Teil dieser Familie, sie haben ihn lieb. Und das fühlt sich toll an. Er sieht, wie sich ein glückliches Lächeln auf Tante Minas Gesicht schleicht und Joungjun anfängt, breit zu grinsen.
"Dankeschön, Jimin. Das freut mich richtig. Ich hätte nie gedacht, dass du mir so schnell dein Vertrauen schenkst."

Er klappt den Karton auf und stellt ihn in die Mitte.
"Schau mal rein und such dir was aus."
Jimin reißt seine Augen auf. Er darf jetzt schon in den Karton kucken? Wie toll! Er beugt sich vor und lunzt in die Kiste.
"Woah!"
Was da alles drin ist! Große Kristalle, bunte Schneckenhäuser, schimmernde Muscheln in den verdrehtesten Formen. Getrocknete Pflanzen, die er noch nie gesehen hat. Eine ist lila und ganz stachelig, eine andere ist wie ein Becher und knallorange. Daneben steckt ein langer, dünner Stab in verschiedenen Brauntönen und Weiß. Ehrfürchtig zeigt Jimin darauf.
"Was ist das denn? Ist das von einem Tier?"
"Ja, ganz genau. Das ist ein Stachel von einem Stachelschwein. Den hab ich in einem Zoo gekauft."
"Was ist denn ein Stachelschwein? Und wo lebt das?"
"Die Stachelschweine sind Nagetiere und leben in Afrika und Asien. Wenn ein großes Tier sie angreifen will, dann stellen sie die Stachel am Rücken auf und verteidigen sich damit. Durch diese Stacheln will nicht mal ein Löwe beißen."
Vorsichtig nimmt Jimin den langen Stachel von Youngjun entgegen und fasst die Spitze an. Das piekst ja wirklich! Schnell zieht er seinen Finger wieder weg.
"Und ... und das darf ich jetzt ... haben? Und da reintun?"
"Das darfst du jetzt haben und in den Setzkasten legen."
Das lässt Jimin sich nicht zweimal sagen. Er läuft sofort zum Setzkasten. Die meisten Fächer sind viel kleiner, als er das braucht. Aber schließlich entdeckt er doch langes, schmales Fach, geht auf seine Zehenspitzen und legt den Stachel hinein. Er hat das Gefühl, in seinem Bauch blubbern Seifenblasen vor lauter Glück. Niemand außer seiner Mama Sumi und seiner Mama Jeri hat ihn jemals so lieb gehabt. Stumm dreht er sich um, geht zu Youngjun und nimmt ihn einfach in die Arme.

Tante Mina zeigt auf den Kleiderschrank.
"Wenn du magst, kannst du in alle Schubladen, Fächer und Schränke schauen und rausfinden, wo deine ganzen Sachen sind."
"A... aber ich kann doch nicht einfach fremde Schränke aufmachen."
Tante Mina lächelt.
"Das sind doch gar keine fremden Schränke. Das sind DEINE. Und du kannst alles so einräumen, wie du willst."
Jimin ist sprachlos. Natürlich! Wenn das sein Zimmer mit seinen Sachen ist, dann sind das auch seine Möbel. Er ist jetzt hier zu Hause!
"Danke, Tante Mina! Ich fang gleich an zu stöbern."
Bald danach lassen ihn die anderen alleine, weil er mit sich selbst beschäftigt ist. Versonnen sitzt Jimin auf seinem Bett und schaut sich um. Er geht zum Fenster und kuckt tatsächlich direkt auf das tolle Baumhaus. Er dreht sich und untersucht den Schreibtisch. Und so entdeckt er Stück für Stück sein neues Zimmer und macht sich mit allem vertraut.

Irgendwann ruft eine laute Glocke zum Abendessen. Tante Mina hat was Koreanisches gekocht. Gleich danach geht Nuri ins Bett. Und Jimin würde das jetzt eigentlich auch tun, aber er ist noch so furchtbar wach! Wenn er das richtig verstanden hat, dann ist in Korea jetzt erst Mittag, da kann er doch noch nicht schlafen!
"Onkel John? Was kann ich denn jetzt machen? Ich bin noch gar nicht müde."
"Na, wenn du schon so um Arbeit bettelst - dann wollen wir mal ein bisschen Amerikanisch üben."
Sie beschließen, dass ab jetzt, ... nein, ab morgen alle außer Tante Mina amerikanisch reden und dabei gut aufpassen, ob Jimin sie verstanden hat. Als nächstes führen sie einfach viele kleine Gespräche. Sie räumen gemeinsam die Spülmaschine aus, gießen die Blumen im Garten und reden darüber. In Tante Minas Arbeitszimmer steht ein Laptop für Jimin, weil schon die Grundschüler einen Computer für die Hausaufgaben brauchen. Onkel John erklärt Jimin alles mögliche über das Gerät und die wichtigsten Programme, die er für die Schule brauchen wird. Sie üben auch, eine Email an Mama Jeri zu schreiben. Dafür stöpselt Onkel John eine koreanische Tastatur an. Fröhlich schreibt Jimin eine Mail über seinen ersten Tag hier und erzählt von dem Setzkasten und dem Karton mit den vielen Naturschätzen.

Auf einmal reißt Jimin seinen Mund ganz weit auf und gähnt.
"Na, doch müde? Das sollten wir ausnutzen, damit du dich schnell an die Zeit hier gewöhnst. Möchtest du noch duschen, bevor du ins Bett gehst?"
Jimin nickt. Onkel John fährt den Computer runter und geht dann mit ihm rauf. Jimin holt seinen Schlafanzug, lässt sich im Bad die Dusche erklären, putzt sich die Zähne und liegt tatsächlich bald im Bett.
"Onkel John?"
"Ja, Jimin?"
"Es ist schön hier. Es ist toll, eine richtige Familie zu haben. Ihr seid alle so lieb. Vor euch hab ich gar keine Angst mehr."
Onkel John lächelt glücklich, zieht die Vorhänge zu, löscht das Licht und setzt sich wieder zu Jimin. Aber der starrt nur noch an die Decke. Alle Sterne leuchten da oben. Genau so wie in Korea.
"Ich hab euch lieb."
Jimin kuschelt sich in die Delphindecke.
"Wir dich auch. Und wie! Schlaf gut in deinem neuen Bett. Hoffentlich hast du einen richtig schönen Traum."

An den folgenden Tagen erkundet Jimin alles ganz genau und staunt über viele Dinge, die er noch nie gesehen hat. Er versucht, amerikanisch zu reden, und lernt schnell sehr viele neue Wörter. Youngjun übt oft mit ihm und Hunter. Zusammen in einem Raum sein. Nebeneinander auf dem Rasen sitzen. Das Futter bereitstellen. Beim Toben zusehen. Das Bellen aushalten. Hunter ist dabei ruhig, wirkt fast ein bisschen stolz, lässt Jimin Zeit und achtet fein auf Youngjuns Signale. Schließlich schafft Jimin es, den Hund zu berühren, ihn zu streicheln, ihn ganz an sich ranzulassen. Hunter begrüßt Jimin in der Familie, indem er Jimin beschnuppert. Dann legt er sich einfach auf seine Beine, den Kopf auf Jimins Bauch und schnauft zufrieden. Jimin liegt auf dem Rasen, schaut in den Himmel und krault Hunter zwischen den Ohren.
Jimin ist stolz und glücklich. Er hat es geschafft! Hunter wirkt, als ob er sagen will: du gehörst jetzt zu meinem Rudel, also pass ich auf dich auf. Er ist nicht wild und gefährlich, sondern eigentlich nur sehr aufmerksam, verspielt und kuschelig.

Jimin hat keine Angst mehr vor Hunter. Er findet sich überall zurecht, kann selbst beim Tischdecken helfen, geht mit Nuri zum Bäcker, schreibt immer flüssiger mit den fremden Buchstaben, staunt über den riesigen Supermarkt, schreibt einen richtigen Brief an Mama Jeri und die anderen Kinder. Nach und nach darf Jimin immer öfter in die Naturkiste schauen und sich etwas für den Setzkasten aussuchen.

Ein paar Tage, bevor die Schule anfängt, macht Jimin mit Nuri und Tante Mina einen Spaziergang dorthin, damit er seine Klassenlehrerin kennen lernen kann. Nuri zeigt ihm alle Kreuzungen und Abkürzungen auf dem Weg und den Schulhof. Es gibt viele Spielgeräte und wirklich viel Platz.
Die Klassenlehrerin Mrs. Wisper begrüßt sie und unterhält sich mit Jimin. Dann muss er ein paar Fragen beantworten, ein kleines Diktat schreiben und etwas vorrechnen.
"Das sieht ja alles richtig gut aus. In Mathe kannst du viel mehr als die anderen. Wann hast du denn angefangen, unsere Sprache zu lernen?"
Nachdem Jimin die vielen Wörter in seinem Kopf sortiert hat, kann er auch antworten. Er zählt an seinen Fingern die Monate ab.
"April, Mai, Juni, Juli, August. Seit fast fünf Monaten. ... Hoffentlich reicht das für den Anfang."
Etwas unsicher schaut er Mrs. Wisper an. Doch die lächelt.
"So kurz erst? Das ist schon toll für den Anfang. Da wirst du den Rest auch schnell lernen."

Dann richtet sie sich an beide Kinder.
"Nuri, zeigst du Jimin mal die Sporthalle und die Fachräume? Dann kann er sich schon ein bisschen orientieren nächste Woche."
Nuri flitzt sofort los, Jimin gleich hinterher. Wenn die Großen reden, schaut er sich lieber draußen um. Die Schule ist riesig, besteht aus mehreren Gebäuden mit vielen Ein- und Ausgängen. Ohne Nuri würde er sich hier sofort verlaufen. Darum geht sie mit ihm immer wieder auf den Hof und von da aus zum nächsten Raum. So findet er jedenfalls immer wieder raus. Die Schule ist sehr modern gestaltet, die Mensa fürs Mittagessen ist riesig, die Gänge und Treppen endlos. Aber als sie sich schließlich zur Sporthalle aufmachen, erkennt er schon manche Ecken wieder.

Ganz am Schluss zeigt Nuri ihm noch, wo der Hausmeister wohnt. Der hat ein eigenes kleines Häuschen am Rande des Schulhofs mit einer Wiese und ein paar Blumenbeeten davor. Nuri will schauen, ob der Hausmeister da ist, damit sie Jimin vorstellen kann. In dem Moment kommt ein riesiger schwarzer Hund um die Hausecke getrabt, direkt auf die Kinder zu.
Jimin erstarrt zu Stein und schlägt die Hände vors Gesicht. Er hält die Luft an, in seinem Kopf explodiert eine Bombe aus Angst. Der große, laute Hund steht jetzt genau vor ihm, aber Jimin kann nicht weglaufen. Nuri versucht, den Hund abzulenken, irgendwo ruft eine Männerstimme, der Hund bellt - es ist ein einziges furchtbares Durcheinander.
Jimin holt tief Luft und schreit, was die Lungen hergeben. Aber dadurch wird es nur noch schlimmer, denn jetzt fängt das riesige Tier an zu knurren. Jimins Schreie werden immer panischer. Er muss hier weg. Aber er kann nicht. Seine Füße bewegen sich nicht. Auf diese Schule wird er nie-nie-niemals gehen!

Im nächsten Moment hört er Tante Minas Stimme, die nach ihm ruft. Sie rennt zu ihm, hebt ihn hoch und drückt ihn fest an sich.
"Ich bin da, Jimin. Ich bin da. Dir kann nichts passieren. Ich bin da und passe gut auf dich auf. Hörst du mich? Wein dich aus, ich bin da und halte dich. Dir wird nichts passieren."
Nur langsam verebben Jimins Schreie, schluchzend drückt er sich an Tante Mina. Das ist einfach zu viel. Dieser Hund ist zu groß und zu laut und zu wild und zu gefährlich. Das KANN er nicht schaffen! Niemals!!! Jimin zittert am ganzen Körper, nun kommt auch Mrs. Wisper dazu, dann kommt endlich der Hausmeister um die Ecke und bringt den Hund zur Ruhe.
"Schhhhhhh, ich bin da. Und der Hund wird jetzt festgehalten. Dir kann nichts passieren."

Mrs. Wisper bittet den Hausmeister, den Hund ins Haus zu bringen und ihnen dann zu folgen. Zehn Minuten später sitzen sie alle im Klassenzimmer. Jimin zittert noch immer. Tante Mina ist besorgt und irgendwie auch wütend - das merkt er. Trotzdem redet sie ganz ruhig.
"Mr. Horton, das hier ist Jimin. Er ist mein Neffe, also Nuris Kusin und erst vor einer Woche aus Korea hergekommen. Er hat vor ein paar Jahren ein wirklich bedrohliches, traumatisierendes Erlebnis mit einem großen schwarzen Hund gehabt. Wir müssen überlegen, wie es organisiert werden kann, dass Jimin sich ohne Angst und frei in der Schule bewegen kann."
"Na, da brat mir doch einer'n Storch! Soll ich jetzt wegen einem Kind meinen Rex einsperren? Alle Kinder lieben es, wenn er sie in den Pausen begrüßt."
"Das kann sein. Aber dies hier ist eine Menschenschule und keine Hundeschule. Es muss einen Bereich geben, in dem Jimin sich sicher fühlen und mit anderen Kindern spielen kann."
Bevor Mr. Horton wieder protestieren kann, ergreift Mrs. Wisper das Wort. 
"Ich denke, wir werden am Freitag in der Besprechung mit der Schulleitung gemeinsam eine sinnvolle Lösung finden, die allen gerecht wird. Zunächst finde ich es wichtig, dass Sie Jimin kennen und ihm hier den Start erleichtern. Der Junge hat schon viel mitgemacht. Er spricht ein wenig unsere Sprache, aber er braucht das Gefühl von Sicherheit durch Erwachsene."
"Ach Mensch, Junge. Bist du so erschrocken? Rex liebt Kinder. Was soll ich denn da machen? Er folgt mir überall durch die Schule. Ist eine ganz treue Seele."
Das gibt Jimin den Rest. Überall? Er ist hier nirgendwo sicher? Das geht auf keinen Fall! Wieder klammert er sich schreiend an Tante Mina. 
Mrs. Wisper und Nuri sitzen bedröppelt daneben. Dann nimmt Nuri Jimins Hand.
"Hab keine Angst. Die Erwachsenen finden bestimmt eine Lösung. Und wenn wir einen extra Hundestreichelgarten einrichten, mit einem Zaun. Da dürfen dann immer nur zehn Kinder auf einmal rein, und Rex kommt nicht raus. Irgendwas fällt denen schon ein."
Alle sehen sie an.
"Das ist eine gute Idee, kleines Fräulein. Ich mache um meinen Garten einen Zaun, der hoch genug ist für Rex. Und wenn ich ihn mitnehme, muss ich ihn eben immer an der Leine haben und bei mir behalten. Ist das besser für dich?"
Jimin nickt nur an Tante Minas Schulter. Tante Mina steht auf.
"Ich denke, wir haben alles Wesentliche besprochen. Jimin muss jetzt dringend nach Hause, wo er sich sicher fühlt. Was meinen Sie, Mr. Horton, wann Sie den Zaun fertig haben können?"
"Och, der steht übermorgen schon. Rex wird sich dran gewöhnen müssen. Oh, und ich weiß was. Ich mache ans Gartentor eine Klingel, dann kann Jimin mich rausholen ohne, dass er an Rex vorbei muss."
Jimin atmet auf. Mr. Horton lacht ihn nicht aus. Das ist gut! Trotzdem will er jetzt so schnell wie möglich ins Baumhaus!

Tante Mina und Nuri unterhalten sich auf dem Heimweg. Jimin spricht kein Wort, achtet nicht auf die Straße und weint immer noch leise vor sich hin. Das Bellen dröhnt so laut in seinem Kopf! Der Hund steht vor ihm und bellt ihn an:"Das schaffst du nie! Das schaffst du nie! Das schaffst du nie!"
Zu Hause stürmt Jimin an allen vorbei und rast rauf ins Baumhaus. Er verkriecht sich unter der Decke und kämpft gegen die furchtbaren Bilder von damals in seinem Kopf. Das schafft er nie! Die Stimme hat recht. Wörter lernen, das Zimmer mit dem Setzkasten, die fröhliche Familie - alles schön und gut. Aber jetzt ist er wieder alleine.
Nuri kommt - er schickt sie weg. Onkel John kommt - er schickt ihn weg. Auch Youngjun und Tante Mina schickt er weg. Er spürt seinen Hunger nicht, antwortet auf keine Frage, lässt niemanden rein. Die Angst ist stärker als alles andere. Nur die Sehnsucht nach Mama Jeri hat daneben noch Platz.

Irgendwann wird es draußen dämmrig. Jimin schaut zur Tür und überlegt, ob er nicht lieber in sein Bett gehen soll. Ne. Dann muss er ja an Hunter vorbei, den erträgt er jetzt auch nicht. Jimin will die Tür vom Baumhaus zuschieben. Da sieht er vor der Tür seine beiden Schäfchen, eine Flasche Wasser und eine Dose mit Broten und Obst. Das war ganz sicher Tante Mina!
Die anderen machen sich bestimmt Sorgen um ihn. Vielleicht sollte er doch? Aber Hunter. Es ist so schwer! Bedrückt nimmt er die Schäfchen an sich, isst die Dose leer und trinkt was. Dann fasst er einen Entschluss. Jimin krabbelt aus dem Baumhaus. Er sieht Tante Mina hinter der Terrassentür. Und sie weint. Also traut er sich, zum Haus zu gehen. Onkel John ist auch im Wohnzimmer, schnappt sich gleich Hunter und bringt ihn weg. Dann erst macht Tante Mina die Tür auf und nimmt Jimin ganz fest in ihre Arme.
"Es tut mir so leid, Schatz! Das muss furchtbar für dich gewesen sein. Wir haben alle nicht an Rex gedacht. Ist es sehr schlimm in deinem Kopf? Ich würde dir so gerne die Angst nehmen."
Jimin nickt.
"Durch... Durcheinander ... im Kopf. Kann ich ins Bett? Ich mag die Sterne sehen."
Tante Mina bringt ihn ins Bett und nimmt sich viel Zeit für ihn. Das hilft Jimin, ruhiger zu werden und über seinen Entschluss nachzudenken. Er gähnt ein paarmal ganz dolle. Also geht Tante Mina raus.

Jimin setzt sich im Dunklen aufs Fensterbrett, schaut in den mondbeschienenen Garten und wartet, bis es ganz still ist im Haus. Dann zieht er sich wieder an und packt die Schäfchen in seinen Ranzen. Er muss den Flughafen finden. Er muss zurück zu Mama Jeri. Die Menschen hier sind alle total lieb zu ihm. Aber hier gibt es zu viele Hunde, hier kann er nicht bleiben. Er will auch nicht, dass Tante Mina dauernd wegen ihm weinen muss. Das muss er jetzt alleine schaffen. Er schnappt sich in der Küche noch eine Flasche Wasser und eine Banane, schlüpft aus der Terrassentür und macht sich auf den Weg.
Unterwegs beobachtet er den Himmel, denn er muss ja rausfinden, wo der Flughafen ist. Bald weiß er die Richtung. Straße um Straße läuft er da hin, wo die großen Maschinen starten und landen. Vielleicht findet er ja das Flugzeug mit Mr. Soul. Der ist sein Freund. Der nimmt ihn ganz bestimmt wieder mit.

Jimin muss lange laufen. An einer großen, breiten Straße steht der Flughafen auch auf einem Schild, aber irgendwie kommt er einfach nicht näher ran. Jimin wird müde. Tapfer läuft er immer weiter. Er MUSS das einfach schaffen. Die Mathearbeit und den Hinflug hat er doch auch geschafft.
Schließlich kann er nicht mehr, seine Beine wollen seine Füße nicht mehr heben. Er setzt sich an den Straßenrand, lehnt sich an einen Baum und trinkt von seinem Wasser. Er darf jetzt nicht aufgeben! Das Aufstehen fällt Jimin so schwer. Trotzdem läuft er weiter. Wieder macht er Pause - kugelt sich zusammen und schläft ein.

Im Traum hört Jimin Hunter bellen. Der Hund kommt zu ihm gerannt und legt sich neben ihn. Er nimmt den vierbeinigen Freund in den Arm und fühlt sich gleich viel wohler in seinem Traum.
Nach einiger Zeit wacht Jimin wieder auf, weil ihm kühl wird. Irritiert blinzelt er in die Lichter der wenigen vorbeifahrenden Autos und weiß nicht, wo er ist. Oder wie er hier hergekommen ist. Er zieht Hunter in seine Arme und wärmt sich an dem kuscheligen Tier, das sehr aufmerksam die Umgebung beobachtet.
Es dauert eine ganze Weile, bis er sich erinnert, warum er hier ist. Er wollte zum Flughafen. Nach Hause. Zu Mama Jeri. Aber da kann er doch Hunter nicht mitnehmen. Der darf bestimmt nicht mit ins Flugzeug.

Jimin schaut den Hund an und versteht die Welt nicht mehr. Er hat ja von Hunter geträumt, aber wieso ist der Hund jetzt wirklich hier? Ist er ihm nachgelaufen? Wie konnte er Jimin finden? Ist er schon so wichtig für Hunter, dass der ihn beschützen will?
Hunter steht auf, schaut Jimin sehr direkt in die Augen, läuft ein Stück die Straße zurück und wendet sich erneut zu Jimin. Immer wieder kommt er näher, Jimins Blick auf sich und läuft dann zurück. Endlich versteht Jimin, dass der Hund ihm den Weg nach Hause zeigen will.
Aber wo ist zu Hause? In Korea? Oder doch hier? In seinem Kopf sieht er Tante Mina weinen. Und Onkel John ruft ihm zu:"Du schaffst das! Gib nicht auf!"
Jimin ist hin und hergerissen. Die Menschen hier hat er lieb. Ihn stören nur die Hunde. Andererseits - Hunter ist ein Hund. Er hat ihn gesucht und gefunden. Er hat ihn gewärmt und will ihn jetzt zurückbringen. Hunter ist ein toller Hund und ein Beschützer. Für Hunter gehört Jimin dazu. Vielleicht ...

Jimin steht auf und geht zu Hunter. Einen Schritt. Und noch einen Schritt. Mühsam hebt er seine schweren Füße und folgt dem Hund zurück durch die Dunkelheit. Nochmal schlafen sie am Straßenrand. Als es Morgen wird, isst Jimin seine Banane und gibt Hunter ein Stück ab. Allmählich ist es hell geworden. Und Jimin wünscht sich, dass sie gesucht werden, dass er nicht mehr laufen muss, dass sie jemand nach Hause bringt.
Sein Wunsch wird bald erfüllt, denn neben ihm hält ein Auto. Hoffentlich ist das ein netter Mensch! Der Fahrer steigt aus und kommt zu ihm. 
"Ach, du dickes Ei! Junge, wie kommst du denn hier hin? So weit von zu Hause!"
Jimin erkennt den Mann. Es ist Mr. Horton. Sofort sucht Jimin die Fenster vom Auto ab, ob da irgendwo Rex zu sehen ist.
"Mach dir keine Sorgen, Junge. Rex ist nicht im Auto. Und du hast ja deinen eigenen Beschützer dabei. Soll ich dich nach Hause fahren?"
Jimin nickt, klettert mitsamt Ranzen auf die Rückbank und legt sich einfach hin. Sein großer Hundefreund steht im Fußraum neben ihm, legt seinen massigen Kopf neben Jimins auf die Bank und stupst ihn freundlich an. Mr. Horton deckt ihn zu, und schon ist Jimin eingeschlafen.

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6.10.2021    -    17.8.2022

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