Use the Time
Weihnachten 2017
Schwer atmend betrat der sechsundsechzigjährige Jürgen seine Wohnung und legte die Schlüssel auf eine Kommode neben der Eingangstür. In einer Hand hielt er zwei Einkaufstüten. Er freute sich, nach langer Zeit würde er endlich mal wieder seine Kinder, Enkel und Schwiegersohn sehen.
Langsam trat er in seine Küche und merkte jetzt erst richtig, wie schwer es inzwischen für ihn war, die Treppen bis in den dritten Stock hochzusteigen. Seine alten, müden Knochen hatten kaum noch die Kraft dazu, seinen Körper zu tragen.
Ohne die Einkaufstüten weiter zu beachten ging er wieder zurück in den Flur, wo immer sein Telefon stand. Er betätigte einen Knopf, der ihm rot entgegenblinkte, und atmete tief durch. Es rauschte kurz, dann ertönten die ersten Stimmen.
„Hey, Dad! Wir können morgen leider nicht zum Feiern kommen. Es gibt hier einfach viel zu viel Arbeit. Aber nächstes Jahr kommen wir, das verspreche ich dir! Frohe Weihnachten, Dad!", hörte er nun die Stimmen seines Sohnes und seiner Tochter. „Frohe Weihnachten, Opa!", riefen dann nun auch seine Enkel im Chor.
Niedergeschlagen seufzte er und kämpfte mit den Tränen, also würde er wieder ein weiteres Jahr alleine verbringen. Eine einsame Träne floss über seine eingefallene Wange und er schluckte den aufkommenden Kloß hinunter.
Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf trottete er zurück in die Küche und machte sich daran, die Tüten auszupacken. Dabei spürte er nur zu deutlich das hinterhältige Brennen in seinen Augen.
Diese Nachricht von seiner Familie hatte ihm den Tag gründlich versaut. Er hatte extra das Doppelte eingekauft, weil er wusste, seine Enkel und seine Tochter würden sein Essen förmlich verschlingen.
***
Mit noch immer hängenden Schultern saß Jürgen auf einem Stuhl am Esstisch. Vor sich einen Teller mit einer Hähnchenkeule, Soße und Gemüse - das Essen war eine Tradition der Familie.
Im Hintergrund ist leise Weihnachtsmusik zu hören. Vier brennende Kerzen stehen in der Mitte des Tisches und das Licht ist abgedimmt. Es herrschte eigentlich eine ruhige, fröhliche Stimmung, doch genau so fühlte sich der ältere Mann nicht. Ganz im Gegenteil. Am liebsten würde er seinen Tränen einfach weiter freien Lauf lassen.
Den Rest seines abends verbrachte er allein vor dem Fernseher, der zahlreiche Weihnachtsfilme ausstrahlte.
So lief es auch die nächsten sieben Jahre: Jürgen musste sich die Nachrichten und die Versprechen seiner Familie anhören, saß dann allein im Esszimmer, aß das Essen und setzte sich schließlich vor den Fernseher. In den sieben Jahren hatte er noch kein einziges Mal seine Familie gesehen, vermisste sie ...
Weihnachten 2024
Völlig geschafft und kaputt kam der Familienvater von seiner Arbeit, einer Metallfirma nach Hause und wurde sogleich von seinen Kindern angesprungen. Über seiner Schulter hing noch sein Rucksack und in einer Hand hielt er Hausschlüssel und einige Briefumschläge.
„Hey, Schatz", begrüßte er mit leiser Stimme seine Frau, als diese lächelnd in den Flur trat.
Jürgens Tochter stahl sich einen Kuss von dem Familienvater und nahm ihm dann die Briefe aus der Hand. Langsam öffnete sie den ersten. Tränen traten in ihre Augen.
In dem Brief stand, dass ihr geliebter Vater gestern starb. Schuldgefühle überkamen sie und Tränen flossen über ihre Wangen. Ihr Mann sah sie besorgt an, dann nahm auch er den Brief und las sich den durch.
„Nein ...", hauchte er schockiert, dann umarmte er sie sanft, „es tut mir so unendlich leid, Love."
Es kam einfach nur ein stummes Nicken von Verena. „Wir ... wir sollten es Paul und Tina sagen", flüsterte sie leise mit bebender Stimme.
Schwach nickte er und legte seine Hand an ihre Wange. Sanft beugte er sich leicht zu ihr hinunter und küsste sie innig. Doch der Kuss war salzig von all den Tränen und hatte nicht mehr den fruchtigen Geschmack des Lippenstiftes seiner Frau.
„U-und Gus sollte es auch wissen", schluchzte Verena dann in den Kuss.
Ihr Mann nickte einfach nur leicht und drückte schließlich den Kopf seiner Frau sachte an seine Brust. Fast augenblicklich kuschelte sie sich in seine Arme, suchte nach Trost an seiner Brust. Nur langsam lösten sie sich, doch ihr Mann Jace hielt sie immer noch von der Seite fest an sich gedrückt. Sie traten ins Wohnzimmer, der Arm des Mannes noch immer um ihre Hüfte geschlungen, und beobachteten kurz ihre Kinder, wie sie im Wohnzimmer spielten und fröhlich lachten. Verenas Herz sank in ihre Hose, als sie daran dachte, dass sie es ihnen mitteilen mussten.
„Tina, Paul", fing Jace zittrig an und machte schließlich doch eine lange Pause.
Es kostete dem Vater Überwindung, mehr als er gedacht hätte. Seine Stimme zitterte heftig und seine Atmung ging stockend.
„E-euer Opa ist von uns gegangen", brachte er es dann schließlich doch schluchzend über seine Lippen.
Tina und Paul sahen zu ihrem Vater, dann verzogen sich ihre Gesichter und die ersten Tränen flossen. Weinend stürzten sie in die Arme ihrer Eltern.
***
Mit zittrigen Fingern fischte Verena den Zweitschlüssel der Wohnung ihres Vaters aus ihrer Handtasche. Die komplette Familie stand vor der Haustür des kürzlich verstorbenen Verwandten. Vorsichtig öffnete die Mutter die Tür und staunte schließlich nicht schlecht ...
Die komplette Wohnung war gedimmt, Kerzen brannten und tauchten den Esstisch in ein sanftes Licht. Der Esstisch war gedeckt, darauf standen die Lieblingsgerichte der Familie, alle nach Jürgens Geheimrezepten gekocht. Augustus, von allen immer nur liebevoll „Gus" genannt, betrat als letztes die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
Plötzlich waren leise, ungleichmäßige Schritte zu hören und der Schallplattenspieler begann leise Weihnachtsmelodien zu spielen. Dann trat eine Gestalt ins Esszimmer. Gebeugt, alt, aber trotz allem mit einem breiten Lächeln.
„D-dad?! Aber ... was ... warum?!" Tränen bildeten sich sofort in Verenas Augen, auch Augustus starrte seinen Vater fassungslos an.
„Wie hätte ich denn sonst euch alle zu mir bekommen sollen?", fragte er mit leiser, schwacher Stimme und stützte sich schwer am Türrahmen und seinem braunen Gehstock, den er stets bei sich hatte, ab.
„OPA!", kreischten die Kinder fröhlich und rannten ihren Opa förmlich über den Haufen.
Tina und Paul weinten bitterlich und doch vor Freude, kurz darauf kamen nun auch die drei Erwachsenen dazu. Sie lagen sich in den Armen, weinten, zitterten und lachten.
Inzwischen saß die komplette Familie am Tisch. Im Hintergrund liefen noch immer die Melodien der Schallplatte. Sie lachten, aßen, sangen am Ende noch zahlreiche Weihnachtslieder.
Nun saß die komplette Familie aneinander gekuschelt im Wohnzimmer und sahen sich Weihnachtsfilme wie „Orangen zu Weihnachten" und die Kevin-Dilogie an.
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