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Lissas Handy lag in einer leeren Trauben Nuss Schokoladenverpackung in der hintersten Ecke von Raphaels Schreibtischschublade. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es da für immer und ewig bleiben können. Am Sonntagmorgen, bei einem Akkustand von vierzehn Prozent, hatte er es kurzentschlossen ausgeschaltet.
Juna hatte dutzende weitere Nachrichten gesendet, alle ohne Text. Es waren lediglich Bilder, alle mit demselben Motiv. Lissa und Juna im Sandkasten, Lissa und Juna die Spielplatzrutsche hoch laufend, Lissa und Juna auf der Bühne beim Weihnachtskonzert. Lissa und Juna mit verklärtem Blick Arm in Arm auf einer Party, Lissa und Juna mit vom Winde verwehtem Haar am Strand.
Jetzt war es Montagmorgen, sechs Uhr vier und Raphael stocherte in seinem Müsli herum. Es war ihm immer noch unbegreiflich, wie man nur so viele Fotos besitzen konnte. Er selbst fotografierte manchmal mit der alten, noch analogen Kamera seines Vaters. Aber wenn man nur sechsunddreißig Versuche pro Film hatte, entstanden keine Selfiestrecken. Von ihm und Rica gab es vielleicht eine Handvoll Bilder, von ihm und Jonathan, der Kameras ebenso konsequent vermied wie Konversationen, gab es wahrscheinlich kein einziges.
Schon nach wenigen Löffeln war Raphael der Appetit vergangen. Jonathan erinnerte ihn an Schule und Schule erinnerte ihn an das, was ihm heute bevor stand. Er stellte sein Müsli zurück in den Kühlschrank.
„Hast du keinen Hunger mehr?", fragte seine Mutter prompt und linste über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. Vor ihr lag ausgebreitet der Wirtschaftsteil der Tageszeitung. Raphael verdrehte die Augen, sein Vater, der sich hinter dem restlichen Teil der Zeitung verschanzt hatte, tat es ihm gleich. „Ja, ich habe keinen Hunger mehr", sagte Raphael betont langsam. „Sonst würde ich wohl kaum die Schale zurückstellen." Seine Mutter seufzte resigniert und widmete sich wieder einer der gezackten Kurvenverläufe. So schnell wie es Raphael möglich war, ohne es wie eine Flucht aussehen zu lassen, stand er auf. Und war trotzdem zu langsam.
„Franziska hat eine E-Mail an alle Eltern geschickt." Der Aktienverlauf war wohl doch nicht so spannend gewesen. „Ihr habt heute eine Versammlung in der Aula. Wegen-", sie dämpfte ihre Stimme, „wegen Melissa." Raphael nickte knapp. Franzi, die Stufensprecherin, hatte auch eine Nachricht in den Stufenchat gesendet. Er versuchte, sich mit einem entschuldigenden Lächeln endgültig vom Frühstückstisch wegzueisen, als er abermals zurückgehalten wurde.
„Ellie, du weißt hoffentlich, dass ich", sie machte eine kurze Pause, „und auch dein Vater", sie zwang ihn mit einem strengen Blick zum Zuhören, „dass wir immer für dich da sind, wenn du über das Mädchen reden möchtest. Oder über ihren Tod." Raphael starrte stoisch auf die Tischplatte. Vor einem Jahr war das Holz lackiert worden, trotzdem lugte unter der Teekanne ein Wasserkranz hervor. „Wenn dich etwas belastet, Ellie", fuhr seine Mutter fort, um die Stille zu füllen. Raphael hatte es nicht geschafft, es ihnen zu sagen. Sie waren zu weich und zu besorgt und Meister darin, mückengleiche Vorfälle durch Hysterie auf Elefantengröße anschwellen zu lassen.
„Ja, klar", antwortete er zu schnell. „Danke." Seine Stimme klang merkwürdig belegt in seinen Ohren. „Aber ich muss jetzt." Raphael räusperte sich. „In letzter Zeit kommt der Bus morgens pünktlich." Er zog die Schultern hoch. Eine unangenehme Stille breitete sich aus, bis Raphaels Vater weiter aß. Raphael kannte keinen Menschen, der bei geschlossenem Mund derartig laut schmatzen konnte wie er.
Mit halb geputzten Zähnen und offenen Schnürsenkeln ließ sich Raphael auf seinen Stammplatz Mitte rechts am Fenster fallen. Dort saß er seit der fünften Klasse jeden Morgen und nur zehn Mal, für exakt zwei Schulwochen, war er von jemand anderem beschlagnahmt worden. Einer Französin, die die etablierte Sitzordnung durcheinander gewirbelt hatte, ohne es zu wissen. Manchmal glaubte Raphael, dass der Bus so eine Französin häufiger als alle acht Jahre gebrauchen könnte.
Wie sollte man mit schwerwiegenden Veränderungen klarkommen, wenn einen schon ein anderer Sitzplan am Morgen aus dem Konzept brachte? Raphael versuchte sich selbst zu trainieren, in dem er sich jeden Morgen kurz an die Französin erinnerte. Und daran, dass er nicht wollte, dass Veränderungen ihn so leicht irritierten. In der achten Klasse hatte er einen Edding genommen und einen Punkt auf den Sitz vor sich gemalt. Die Franzosenpunkte halfen ihm noch heute bei der Durchführung seines Rituals.
An diesem Tag hätte Raphael seine Gedanken an sie fast vergessen. Die Blicke der anderen lenkten ihn ab. Noch wusste er nicht, ob er sie sich nur einbildete oder ob sie real waren. Er zog die Innenseite seiner Wangen zwischen die Zähne und dachte daran, dass er Rica immer davon abhielt.
Neben ihm befanden sich erst wenige Leute im Bus, alle bis auf die nordkoreanische Putzhilfe in der übernächsten Reihe vor ihm waren Schüler und gingen auf seine Schule. Es gab nur ein Dorf, das weiter von der Schule entfernt war als Hausen. Trotzdem sahen zwei Mädchen aus einer Gruppe von Neuntklässlern so unauffällig auffällig zu ihm herüber, dass es Raphael schwer fiel zu glauben, dass die Nachricht von Lissas Tod und dem helfenden Passanten noch nicht bis zu ihnen durchgedrungen war.
Rica hätte sich bestimmt zu ihnen umgedreht und sie mit einem flapsigen Spruch darauf hingewiesen, dass Raphael kein Zootier hinter einer Glasscheibe war, das man bedenkenlos anstarren konnte. Aber da Ricas Schule dummerweise an Monoedukation und einen Schulbeginn um neun Uhr glaubte, schlief sie gerade wahrscheinlich noch.
Die Mädchen beratschlagten sich mit zwei Jungen, die auf den rückwärts gerichteten Sitzen hinter Raphael saßen. „Aber denkst du wirklich", begann eines der Mädchen zögernd und wurde von ihrer Freundin unterbrochen, bevor sie ihre Frage beendet hatte. „Ja, Coco! Ich hab doch gesagt, dass mir das der Freund meiner großen Schwester erzählt hat, der-" Raphael schloss die Augen und versuchte zu schlafen.
Es funktionierte nicht.
Die Straßen waren uneben und bei jedem Schlagloch donnerte sein Kopf gegen die Fensterscheibe. Gerade hatte er es geschafft in einen dösenden Halbschlaf zu versinken, als ihm von hinten jemand auf die Schulter tippte. Einer der Jungen lehnte über den Sitz und sah ihn neugierig an. „Bist du Raphael?", fragte der Junge laut, ein Mädchen kicherte. Er zog es in Erwägung mit Nein, ich bin Nemo und du hast mich gefunden zu antworten, aber Raphael war noch nie ein Typ für schlagfertiger Antworten gewesen.
„Ja, bin ich", sagte er stattdessen und versuchte, den Satz möglichst schroff klingen zu lassen. Der Junge warf seinen Klassenkameraden einen triumphierenden Blick zu. „Du hast es nicht geschafft, oder?", fragte der Junge und weil er im Stimmbruch war, klang der Anfang seiner Frage hoch und das Ende seiner Frage tief.
Das Gekicher verstummte und selbst die koreanische Putzhilfe, bei der sich Raphael schon seit Jahren fragte, ob sie deutsch verstand, drehte sich zu ihm um. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Dabei war er es nicht Schuld.
Er.
War.
Es.
Nicht.
Schuld.
Die abgehackten Gedankenstränge verfilzte in seinem Kopf zu einem dicken Knäuel aus Worten, das Raphael nicht entwirren konnte. „Aber so war es doch!", stieß der Junge aus. Seine Stimme überschlug sich, niemand beachtete es.
„Nein." Raphael schüttelte den Kopf. „Sie wäre durchgekommen", sagte er langsam. Es klang hohl und brüchig, so wie die meisten unerreichbaren Wünsche ausgesprochen hohl und brüchig klangen. „Im Krankenhaus gab es Probleme."
Der Junge tauschte verhängnisvolle Blicke, bevor er sich in seinen Sitz zurückfallen ließ. Raphael legte den Kopf in den Nacken. Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt, dabei war er nicht mal seit einer Stunde auf den Beinen.
Er hatte es nicht mal vor einer Gruppe Halbstarker geschafft, die Worte über die Lippen zu bringen. Dass es nicht seine Schuld war. Raphaels Augenlider wurden schwer, sobald er sie schloss, sah er Lissa vor sich. Sie war nicht real, ohne Gesichtszüge. Ihr Bild wurde diffuser, desto stärker Raphael versuchte, sich daran zu erinnern. An die Form ihres Gesichts oder die Farbe ihrer Augenbrauen. Nur der Geruch, der war geblieben.
Nach Asphalt und Hitze, nach Vanille und Sonnenmilch. Nach verbranntem Gummi, nach Angst und Tod.
Seine Finger zitterten, als er die Ohrstöpsel aus seiner Tasche holte und sich in die Ohren steckte. Der Bus bog in die Moslestraße ein, Raphael starrte auf seine Knie. Die Ohrstöpsel steckten in seinen Ohren, ohne, dass Musik lief. Er stieg aus und hoffte, dass sie dafür sorgen würden, von niemandem angesprochen zu werden.
Öffentliche Verkehrsmittel waren gnädig, wenn man dem Rampenlicht ausweichen wollte. Wenn man ohne Aufwand mit dem Strom schwimmen wollte. Man musste nur zu Boden sehen und den Füßen vor einem folgen. Normalerweise. Aber heute bewegte sich der Pulk aus Schülern nicht, sondern sammelte sich direkt hinter den Flügeltüren des Busses auf dem Bürgersteig. Raphael wurde schlecht, als er hinter dem Bürgersteig und hinter den Büschen etwas Grünes aufblitzen sah. Der Ball. Er lag immer noch da.
Die Gespräche der anderen verschmolzen zu einem monotonen Rauschen. Bis jetzt hatte Raphael den Blick zu Lissas Haus meiden können. Der Bus hatte die Sicht versperrt, aber jetzt war der Bus weg. Auf der anderen Straßenseite waren die Vorhänge zugezogen. Auch die vor Lissas Zimmer. Zwischen die unregelmäßigen Holzstreben des Gartenzaunes hatten Menschen Blumen gesteckt. Ein paar von ihnen welkten schon, die vergangenen Tage waren zu warm gewesen.
Viele, die mit Raphael Bus gefahren waren, wechselten die Straßenseite. Der Unfall hatte Warnheim eine neue Attraktion verpasst, dachte Raphael bitter. Ein Junge legte eine rote Rose nieder. Nicht auf den Bürgersteig, nicht nahe am Zaun, damit ihr nichts passierte. Er legte sie auf die Straße, genau dorthin, wo Lissa gelegen hatte. Dorthin, wo das nächste Auto sie überfahren würde.
Raphaels Blick wurde glasig, je länger er die zugezogenen Vorhänge anstarrte. Er fragte sich, wer von Lissas Familie sich als erster getraut hatte, es zu betreten. Ob es Matthi gewesen war, der die Vorhänge geschlossen und Lissas Zimmer vor den neugierigen Blicken anderer bewahrt hatte. Ob Matthi heute in die Schule kommen würde.
Ein Mädchen rempelte ihn an, es war so klein, dass Raphael es zunächst nicht wahrnahm, als er sich umsah. Sie murmelte eine verschluckte Entschuldigung, die in der Aufforderung endete, nicht mitten im Weg stehen zu bleiben. Er nickte und rührte sich nicht vom Fleck.
Erst, als alle anderen ihm vorausgegangen waren, konnte er seinen Blick vom Haus lösen, in seinen Augenwinkeln schwammen Tränen. Er hatte sich bis zuletzt dagegen gesträubt, zu blinzeln.
Die Ohrstöpsel noch in den Ohren, klangen Raphaels Schritte dumpf in seinen Ohren, als er sich dem grauen Gebäudekomplex näherte, der nur wegen des Zaunes und der vorgelagerten asphaltierten Fläche als Schule erkannt werden konnte. Nur die Tatsache, dass man sich mit der Zeit an alles gewöhnte, ließ es einen an diesem Ort aushalten.
Raphael betrat den Schulhof mit gesenktem Kopf, sodass ihm sein Haar in die Stirn fiel. Die Schule war groß, hatte fast mehr Schüler als manche Käffer in der Umgebung Einwohner. Er schlängelte sich zwischen den einzelnen Gruppen hindurch, die wie die Leute im Bus jeden Morgen mit denselben Leuten an derselben Stelle standen, bis es klingelte.
Jonathan dagegen war jeden Morgen woanders. Manchmal in der Bibliothek, häufig noch auf dem Weg, manchmal auf den Toiletten und manchmal wartete er schon um sieben Uhr vor seinem Klassenraum. In der Hoffnung, sich neben ihn stellen zu können, hob Raphael verstohlen den Kopf.
Wenn man den Anschein erweckte, in ein tiefsinniges Gespräch – vorzugsweise nicht mit sich selbst – verwickelt zu sein, hatten die meisten Menschen größere Hemmungen, einen aus dem Nichts heraus anzusprechen. Jonathan war einer dieser Menschen, von denen man tiefsinnige Gespräche erwartete. Dabei sprach er kaum. Manchmal auch gar nicht. Und unterschied sich somit noch stärker von allen anderen.
„In welcher Stunde ist die Besprechung in der Aula nochmal?" „Keine Ahnung, in der vierten muss ich aber zum Arzt, ich hoffe-"
„Ich hab es erst gestern erfahren, als ich an dem Haus vorbeigefahren bin." „Was ist denn an dem Haus?"
„Wer war Lissa nochmal?" „So eine blonde, die Schwester vom Matthi aus der zwölf." „Matthi, ist das der große?" „Ja, genau." „Ah, ich weiß, wen du meinst. Sie hat doch Locken, oder?" „Ne, eher Wellen. Aber Lissa ist die, die immer mit der schwarzhaarigen rumläuft." „Herumgelaufen ist."
Raphael ging schneller und empfand zum ersten Mal in seinem Leben Erleichterung, als ihn die ewig grauen Wände des Schulgebäudes umfingen. Die Flure waren noch leer, nur im Winter verlagerten sich die Gespräche von draußen nach drinnen. Auch der Aufenthaltsraum der Stufe war noch wie ausgestorben.
Franziska und Frau Mertens standen Schulter an Schulter und hefteten Plakate an die Wand. Die Plakate glänzten und wenn man näher an sie herangehen würde, würden sie bestimmt nach frischer Druckerfarbe riechen. Auf düsterem Hintergrund prangte in weißen Lettern der Schriftzug „Wohin wende ich mich, wenn ich nicht mehr weiter weiß?", ein anderes versprach in zehn Schritten eine erfolgreiche Trauerbewältigung. Reflexartig zog Raphael den Kopf aus der Tür.
Ziellos schlenderte er den Gang hinunter, er öffnete sein Schließfach und tat so, als würde er seine Sachen für den Tag sortieren. Die Sekretärin hinter der Glastür ihres Büros wirkte gehetzt, ein Telefonhörer klemmte ohne Unterlass zwischen Schulter und Ohr. Plötzlich spürte Raphael, wie sich eine warme, schweißnasse Hand auf seine Schultern legte.
Die Hand konnte nur einem gehören. „Herr Büchner", begrüßte Raphael den Konrektor und trat gleichzeitig einen Schritt zurück. „Raphael Lengsmann, hab ich Recht?", fragte er schnaufend und ließ seine Hand einen Moment zu lang auf Raphaels T-Shirt, bevor er den Arm sinken ließ. Raphael nickte.
„Nun", begann der Konrektor und schnappte gewichtig nach Luft. Raphaels Blick glitt über ihn hinweg. Im Flur neben dem Sekretariat stand Matthi. Er lehnte gegen die grau verputzte Wand und schaute unverhohlen zu ihnen herüber.
Raphael schluckte, sein Hals war so trocken, als hätte er ihn mit einem Kilo Saharasand gepeelt.
„Wir hörten von dem schrecklichen Unglück, die Polizei informierte die Schule noch am Freitagabend." Neben schweißigen Händen, für die Herr Büchner nichts konnte, hatte er die seltsame Angewohnheit, das Präteritum für die Vergangenheitsform der gesprochenen Sprache zu halten. „Natürlich auch über die besondere Rolle, die sie dabei spielten."
Raphael bewegte sich nicht, er wusste nicht mal, ob er noch atmete. Auf einmal wünschte er sich eine dritte Möglichkeit, neben Nicken und Kopfschütteln. Beides kam ihm absurd vor. „Die Schulleitung besprach, einen Schulpsychologen zu engagieren. Für die nächsten Wochen, mindestens bis zu den Sommerferien. Ich denke, viele von euch erfuhren mit dem Tod des Mädchens einen schrecklichen Verlust."
Herr Büchner sah ihn erwartungsvoll an. Raphaels Eingeweide verkrampfte sich. „Ja, sicher", antwortete er schleppend. „Bestimmt."
Immerhin war nicht er es, der einen entsetzlichen Verlust erlitten hatte. Warum zum Teufel fragte er Büchner ihn, während Matthi genau hinter ihm stand? Nervös zupfte Raphael am Saum seines T-Shirts.
„Ich kannte sie kaum", sagte er schließlich ausweichend und nahm das enttäuschte Zucken von Herrn Büchners Augen nur aus den Augenwinkeln wahr. Matthi hatte auf seine Antwort nicht reagiert.
„Kommen Sie, Raphael. Es muss schrecklich gewesen sein."
Raphael hörte den Vorwurf in seiner Stimme, vielleicht war der Schulpsychologe seine Idee gewesen. Herr Büchner rückte näher, in Raphaels Blickfeld blieb er trotzdem verschwommen.
Da war Matthi im Hintergrund. Sein starrer Blick, seine vornüber gekippte Haltung. Lässig auf den ersten Blick, verloren auf den zweiten. Und erst auf den dritten erkannte man, dass er mit jeder Sekunde mehr Halt verlor und an der Wand herunterrutschte. In den Händen hielt er ein Blatt Papier, es zitterte.
Herr Büchners Hand lag auf Raphaels Unterarm, ohne dass er wusste, wie sie dorthin gekommen war. Sie war noch klebriger als zuvor. „Das Angebot steht, Raphael. Fühlen Sie sich jederzeit frei, in mein Büro zu kommen." Raphael nickte. „Danke", antwortete er tonlos, ohne die Lippen zu bewegen.
Als Herr Büchner klarwurde, dass keine ausführlichere Antwort folgen würde, löste er sich von ihm und trat zurück. Raphael stand immer noch unbeweglich da. Schließlich verschwand Herr Büchner in Richtung Aula.
Ihm war Matthi noch nicht einmal aufgefallen.
Einen quälenden Augenblick lauschten sie beide, Raphael und Matthi, dem quietschenden Geräusch, das die Gummisohle von Herrn Büchners Trekkingsandalen auf dem PVC beschichteten Boden produzierte. Das Quietschen verblasste, es wurde still.
„Alles in Ordnung?", fragte Raphael und schon als ihm die Worte über die Lippen kamen, hörten sie sich falsch an. Es existierten nur wenige Momente, in denen die Frage Alles in Ordnung sinnloser gewesen wäre als jetzt, keine sechzig Stunden nach Lissas Tod.
Matthi lächelte. „Nein."
Sein Gesicht wirkte so fahl wie die graue Wand hinter ihm. Nur seine Lippen waren rot, er musste auf ihnen herum gekaut haben.
„Es tut mir leid."
Raphaels Worte wurden von den grauen Wänden geschluckt, von den engen Gängen absorbiert und gefangen gehalten. Nach einer Weile kam es ihn so vor, als habe er den Satz niemals laut ausgesprochen, als wäre er bloß ein schwaches Echo seiner Gedanken.
Es tut mir leid.
Mein Beileid.
Der Verlust muss furchtbar gewesen sein.
Ich wünsche dir Kraft und Gottes Segen.
Ich bin mir sicher, ihr werdet das als Familie durchstehen. Verluste machen einen stärker, nicht schwächer.
Matthis Miene erhärtete sich. Raphael holte Luft. „Es tut mir leid. Ich habe gehofft, sie würde es schaffen." Als Matthi antwortete, klang seine Stimme heiser, so als benutze er sie heute zum ersten Mal. „Wir haben es alle gehofft."
Es war so still, dass Raphael sein eigener Atem ungewöhnlich laut vorkam. Matthi stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und richtete sich auf. Das Blatt in seinen Händen zitterte immer noch.
Der Matthi, der jetzt vor ihm stand, hatte nichts mehr mit dem Matthi zu tun, der in aggressiver Manie auf den unbekannten Autofahrer losgegangen war. Vielleicht hatte ihm dieser Ausbruch mehr Kraft geraubt, als er besessen hatte.
„Was machst du hier?", fragte Raphael leise und kratzte sich verlegen an der Nase. „Ich muss das hier ins Sekretariat bringen." Matthi wedelte mit dem Papier, ein sanfter Luftzug streifte Raphaels Knie. „Ich lasse mein Abi sausen." Raphael schwieg einige Sekunden lang, Matthi wendete seinen Blick nicht von ihm ab.
„Einfach so?"
„Einfach so", bestätigte er mit fester Stimme. „Habt ihr nicht schon die meisten Abiklausuren geschrieben?" Matthi schwieg, Raphael wusste nicht, ob er seine Frage überhaupt wahrgenommen hatte. „Keine Sorge, ist ja nicht so wichtig", schob er hinterher und und fuhr weiter über den Saum seines T-Shirts. Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis der Faden reißen und die Naht aufgehen würde.
Matthi zwang sich zu einem Lächeln und stellte sich aufrecht hin. Raphael war überrascht, wie groß er war. Es gab nicht viele in seinem Umfeld, die über die eins neunzig kamen. Und wenn man sich erstmal daran gewöhnt hatte, war es merkwürdig, wenn ihm jemand aus geringer Distanz in die Augen sah.
„Nimm dich vor dem Schulpsychologen in acht", sagte Matthi plötzlich, als Raphael schon nicht mehr mit einem Gespräch gerechnet hatte.
„Wirklich jetzt?" Raphael starrte ihn ungläubig an.
Matthi drehte sich zu ihm um, kurz bevor er durch die Tür ins Sekretariat schritt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Raphael geglaubt, es könne nur bescheuert aussehen, jemandem zuzuzwinkern. Aber als Matthi die Tür zum Sekretariat öffnete, mit einer kaum spürbaren Ironie die Schultern hochzog und zwinkerte, wirkte es, als sei diese Geste nur für ihn geschaffen worden.
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