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Raphael blinzelte. Auf einmal wurde ihm klar, was der Tod wirklich bedeutete. Lissa war wie eine Bombe gewesen. Und an dem Nachmittag neben der Bushaltestelle war sie explodiert und hatte alles um sie herum in Stücke gerissen. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Sie waren wie tiefe Löcher. Wunden, die Lissa verursacht hatte.
„Raphael, bist du im Klo stecken geblieben? Ich frage mich nur, ob es Klempner gibt, die so riesige Pömpel besitzen, dass sie dich langen Lulatsch aus der Schüssel geploppt bekommen."
Ricas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er ließ das Handy sinken und legte es auf den Waschbeckenrand. Dann verbarg er den Kopf in den Händen.
„Raphael?" Jetzt klang sie besorgt. Er wollte antworten, sagen dass sie weggehen sollte, weil er Durchfall hatte oder Magen-Darm oder Kotzeritis. Aber seine Kehle war zugeschnürt, seine Zunge trocken wie Salzsardine.
„Raphael, ich komm jetzt rein, ja?" Die Klinke wurde heruntergedrückt und Rica stand im Türrahmen. Er sah sie an und noch ehe er es verhindern konnte, liefen ihm Tränen über die Wangen. „Ich hätte es verhindern können, bestimmt hätte ich es verhindern können. Was, wenn ich Schuld bin, was, wenn... Rica, was ist dann, ich-" Er schluckte und ließ die Hände sinken. „Raphael, hey." Sie ging langsam auf ihn zu und streckte eine Hand aus. Ihre Augen waren weit aufgerissen, man konnte ihre gesamte Iris sehen. Leuchtend blaue Kreise und ein Hauch von violett.
Rica kniete sich vor ihn, ihre spitzen Ellenbogen bohrten sich in seine Oberschenkel. Dann schloss sie ihn in eine so feste Umarmung, dass Raphael der Atem stockte. Ein Schluchzen drang aus den Tiefen seiner Brust und plötzlich war er wieder der kleine Junge, den Rica schon früher immer mit Wilde-Kerle-Pflastern verarztet hatte.
Und genauso, wie sie es früher schon immer getan hatte, hielt sie ihn fest. Erst schlossen sich ihre Arme um seinen Oberkörper, dann wiegte sie ihn sanft hin und her. In fließenden Bewegungen, wie das sanfte Schaukeln eines Bootes auf dem offenen Meer. Rica roch, wie sie immer roch. Nach Waschmittel und frisch gepflügten Feldern. Und egal wie sprunghaft und halsbrecherisch Rica die meiste Zeit über war, für Raphael war genau dieser Rica-Geruch das beruhigendste auf der gesamten Welt.
Als Raphaels Oberschenkel anfingen zu schmerzen, weil ihre Ellenbogenknochen immer spitzer wurden, lehnte Rica sich zurück und blieb gegen die Badezimmerwand gelehnt sitzen. Er rutschte vom geschlossenen Klodeckel, bis er ihr gegenüber saß. Das Gäste-WC war so schmal, dass sie beide ihre Beine anziehen mussten. Sie schwiegen eine Zeit lang und verharrten. Raphael dachte an Wilde-Kerle-Pflaster und an die Wasserbomben, die sie vor Jahren einmal hier gefüllt hatten. Ricas Mutter hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil eine vom Hahn abgesprungen war und noch im Bad zerplatzt war.
Auf einmal war er sich sicher, dass auch Rica daran denken musste. Seine Schultern bebten, als ihm plötzlich klar wurde, was für ein Glück er hatte. Dass ihm so jemand wie Rica zur Seite stand. Ihm kamen Junas Nachrichten in den Sinn. Und dass sie bereute, Lissa nie gesagt zu haben, wie wichtig sie ihr gewesen war. „Rica?", durchbrach er das Schweigen.
„Hm?"
„Ich hab dich lieb, weißt du?" Sie grinste. „Also, du weißt schon wie." Sein linkes Ohr wurde heiß und kribbelte ein bisschen. „Klar weiß ich das, du Idiot", antwortete Rica freundlich.
Raphael nickte und legte den Kopf in den Nacken. Sie atmeten beide in die Stille hinein und für ein paar Sekunden war die Stille unendlich. Dann wippte Ricas Fuß. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Ich glaube, Clemens muss mal raus", sagte sie und war auf den Beinen, noch bevor Raphael Luft holen konnte. Hummeln im Hintern nannte Viktor die Phasen, in denen Rica sich in ein wandelndes Energiebündel verwandelte und Federn unter den Fußsohlen trug. Raphael erhob sich mit einem Ächzen und ließ sich widerstandslos in den Flur schubsen.
Clemens war der Beagle von Frau Hader, der Nachbarin aus der linken Doppelhaushälfte von gegenüber. Clemens hieß in Wirklichkeit auch gar nicht Clemens, sondern Waldemar. Frau Hader war eine anstrengende Frau, die sich über alles beschwerte und dabei so verbissen drein blickte, als sei der dritte Weltkrieg in ihrem Garten ausgebrochen. Raphael glaubte, dass der dritte Weltkrieg erst dann ausbrechen würde, wenn Frau Hader nichts mehr fand, über das es sich zu klagen lohnte.
„Diese Hitze ist kaum auszuhalten", begrüßte Frau Hader sie in gewohnt mürrischem Tonfall und nahm sogleich die Hundeleine vom Haken neben der Tür. Clemens kam schwanzwedelnd angelaufen und steckte seine Hundenase zwischen Ricas Waden hindurch. Hechelnd versuchte er, seinen ganzen Körper durch die Lücke zu quetschen, blieb jedoch stecken.
„Gut, dass ihr jetzt kommt", schnaufte Frau Hader und zog sich in den Schatten ihres Hauses zurück. „Ich nehme meinen Vater gleich mit runter nach Altenstet. Wenn ich nicht da bin, wenn ihr wiederkommt, lasst den Waldi einfach in den Garten." „Alles klar", sagte Rica und reichte Raphael die Leine, damit er Clemens fest knipsen konnte. Kaum stellte sie sich etwas breitbeiniger hin, schoss Clemens auch schon wie ein geölter Blitz durch ihre Beine hindurch in Richtung Straße. Notgedrungen hastete Raphael am anderen Ende der Leine hinterher. „Tschüss", rief er Frau Hader über die Schulter hinweg zu, sie ließ die Plastik-beschichtete Haustür der linken Doppelhaushälfte vor Ricas Nasenspitze zufallen.
„Sympathisch sympathisch", murmelte Rica, nachdem sie ihn eingeholt hatte und kraulte Clemens zärtlich hinter den Ohren. Raphael drückte ihr wortlos die Leine in die Hand. Selbst auf dem kurzen Weg vom Dorf bis zu den Feldern zog Clemens jedes Mal so abnorm, dass es einiges an Muskeln brauchte, um ihn an Ort und Stelle neben sich zu halten. Aber Muskeln besaß Rica zu genüge.
Vom Babyschwimmen zum Kinderturnen, dann Fünfkampf. Ein halbes Leben lang Leichtathletik, bis sie ihre Disziplin gefunden hatte. Hürdenlauf. Raphael war es immer noch unbegreiflich, wie man so euphorisch über in den Weg gelegte Hindernisse springen konnte. „Was grinst du so?" Raphael zuckte mit den Schultern. „Nur so. Wegen deinem Hürdenlauf." Rica löste einen Moment lang ihre rechte Hand aus der Leinenschlaufe und tippte sich gegen den Hals. Das tat sie immer, wenn Raphael den Genitiv vergaß.
Sie gingen mitten auf der Straße an den Häuserreihen des Wohngebietes vorbei. Hausen war wie ausgestorben, die meisten hatten Fenster und Türen geschlossen. Nur am Ende der Straße quälte sich noch eine Frau durch die Mittagshitze.
„Hallo Ilse!", rief Rica fröhlich und winkte. Ilse schob sich eine gigantische Schutzbrille ins schlohweiße Haar und stellte den Flammenwerfer aus, mit dem sie das Unkraut in ihrer Einfahrt verbrannte. „Veronica, wie schön dich zu sehen", entgegnete sie lächelnd. Ilse war mit der einzige Mensch, dem Rica es erlaubte, sie bei ihrem richtigen Vornamen zu nennen. Was daran lag, dass Ilse Ricas und Raphaels Kindergärtnerin gewesen war und Rica kennengelernt hatte, noch bevor sie zu ihrem Spitznamen gekommen war.
„Und dich auch, Raphael", fügte Ilse hinzu, als hätte sie ihn gerade erst bemerkt. Wenn Raphael eine geheime Superkraft hatte, dann war das unentdeckt zu bleiben, obwohl er die meisten seiner Mitmenschen rund fünfundzwanzig Zentimeter überragte.
„Wie geht es euch?" Ilse trat an den Gartenzaun, Rica hielt Clemens mit einem freundlichen Stupser davon ab, dagegen zu pinkeln. „Ganz in Ordnung", antwortete sie und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. „Mallorca war schön?", schob Rica schnell hinterher und Raphael konnte nicht anders, als sie für ihr Talent, sich die nebensächlichsten Dinge zu merken und dann auch noch eine Konversation aus ihnen zu basteln, zu bewundern.
„Schön und warm. Vielleicht in etwa so wie heute. Wir sind viel gewandert. Und das zwei Wochen lang." Ilse strich sich durch die Haare und sah versonnen gen Himmel. Als ihr Blick wieder auf Raphael und Rica fiel, seufzte sie leise. „Und kaum eine Woche zurück, erreichen mich derart schlechte Nachrichten. Ich nehme an, ihr wisst es schon ..." Ihre Stimme verlor sich in der schwülen Sommerwärme. Raphael senkte den Blick, Rica nickte betroffen. „Ihre Mutter hat mich angerufen, ich hatte Pia noch eine Postkarte geschickt. Schrecklich, wirklich schrecklich." Ilses Lippen wurden weiß, als sie sie zusammenpresste.
„Woher kennen Sie Lissas Mutter?", unterbrach Raphael ihren Trübsinn. Ilse wirkte überrascht, so als hätte sie es nicht für möglich gehalten, dass er auch mal etwas sagte. „Sie war in meinem Nachbereitungskurs. Nach der Geburt von Melissas Bruder. Das war, noch bevor ich im Marienkindergarten angefangen habe. Pia und ich haben uns gut verstanden, als sie überlegten umzuziehen, hatten sie sich schon ein Grundstück hier ein bisschen die Straße runter angelacht. Seitdem sie unten in Warnheim wohnen sind wir nur noch selten einen Kaffee trinken gegangen. Die Zwillinge haben sie auf Trab gehalten. Weiß der Himmel, warum sie ausgerechnet mich angerufen hat."
„Nach solchen Ereignissen tun die Leute wahrscheinlich noch absurderes", bemerkte Rica und Raphael musste an Matthis Kartoffelauflauf denken. Ilse schluckte, dann packte sie den Flammenwerfer fester und setzte sich die Schutzbrille wieder auf. Sie schwitzte auf der Nase und die Brille rutschte. „Wahrscheinlich bräuchte ich das Unkraut gar nicht verbrennen, die Sonne erledigt ihre Arbeit auch nicht gerade schlecht", sagte sie mit einem Seufzen und Rica reagierte mit einem müden Lächeln auf den Themenwechsel.
„Da haben Sie wohl Recht." Es folgte ein einvernehmliches Nicken. „Wir machen uns dann mal weiter auf den Weg, Clemens hat auch bei diesen Temperaturen einen unglaublichen Bewegungsdrang." „Waldemar. Rica meint Waldemar", fügte Raphael auf Ilses verwirrten Blick hinzu. Auch wenn es eher Ricas Bewegungsdrang war, der auskuriert werden musste. „Dann viel Spaß euch beiden", wünschte Ilse ihnen zum Abschied, „und einen gelungenen Endspurt bis zu den Ferien." Rica und Raphael bedankten sich einstimmig, Ilse und der Flammenwerfer rückten dem Unkraut an den Kragen.
Schweigend passierten sie den Tante-Emma-Laden, der schon seit Jahren leer stand. Dahinter begannen die Felder. Mais, Weizen und Raps. Rica bückte sich und löste die Leine von Clemens Halsband. „Na lauf schon!", befahl Raphael unnötigerweise, denn da peste Clemens auch schon den ersten Krähen hinterher. Als sie sich in die Lüfte erhoben, quietschte er vor Freude.
Sie sahen ihm hinterher und als Rica sich zu Raphael umdrehte, ahnte er bereits, um was es ging. „Weiß deine Mutter es?" Raphael schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Ich wusste nicht wie." Er sah, wie Rica die Innenseite der Wangen zwischen ihre Zähne zog. Sie hatte Probleme mit dem Zahnschmelz ihrer Eckzähne, weil sie das so oft tat. Raphael tippte sich gegen den Hals. Sie verdrehte die Augen.
„Sie würde überreagieren und mich zu einem Psychologen bringen", sagte Raphael. „Schon", gab Rica zu und zog die Schultern hoch. „Aber sie wird es so oder so erfahren. Es braucht bloß einer zu wissen und schon fängt das Gerede an und hört nicht mehr auf, bis irgendjemand unter achtzehn schwanger wird, Herr Hader seine Frau ermordet oder der Wolff seinen ersten Pornoauftritt hat."
Raphael verzog das Gesicht. „Und genau deswegen möchte ich ab in die Großstadt. Wo man tun und lassen kann was man will." Rica schenkte ihm einen Träum-weiter-Blick. Es von Hausen nach Altenstet zu schaffen war die das höchste aller Gefühle. Mehr Kilometer Entfernung zur Heimat überlebte ein eingefleischtes Dorfkind nicht. Altenstet besaß knappe siebzehn tausend Einwohner.
„Ich bin übrigens für die Westdeutsche Meisterschaft qualifiziert", sagte Rica und schnappte sich Clemens, der mit wehender Zunge an ihr vorbeiraste. Sie strich ihm übers Fell und ließ ihn wieder laufen. „Glückwunsch!", erwiderte Raphael überrascht. „Wann war das Qualifizierungsrennen und warum hast du nichts erzählt?"
„Das war letzte Woche Samstag." Rica hielt sich an seiner Schulter fest und schüttelte sich ein Steinchen aus den Sandalen. „Ich wollte dir es eigentlich gestern im Bus erzählen." „Du hättest mir auch ganz einfach schreiben können oder schon am Sonntag vorbeikommen können."
„Beleidigt?", fragte Rica lachend und stieß ihn den Ellenbogen in die Seite. Raphael ging nicht darauf ein. Stattdessen fragte er: „Wie viele Sekunden waren es denn?" „61,65 auf 400 Meter", antwortete sie nüchtern und Raphael scheiterte daran zu erkennen, ob sie stolz darauf war oder nicht. „Mmh", machte er anerkennend, Rica rollte mit den Augen. „Tu nicht so, als würdest du dich damit auskennen", sagte sie feixend und stellte sich auf Zehenspitzen, um ihm eine liebevolle Kopfnuss zu verpassen. Raphael duckte sich unter ihrem Arm hindurch. „Sonst noch etwas, das ich wissen müsste?"
„Für wie interessant hältst du mein Leben?"
Entschuldigend hob Raphael die Arme. „Na, kann ja auch nicht jeder nebenberuflich Leben retten", entgegnete er, ohne richtig drüber nachzudenken. „Oder es versuchen", fügte er leiser hinzu. Rica enttarnte sein halbherziges Lächeln mit einem durchdringenden Blick.
„Du hast ihr wirklich das Leben gerettet, Raphael. Lissa hätte es geschafft, wenn diese Hirnblutung nicht gewesen wäre." Er wich ihr aus. „Jaah, wahrscheinlich."
Als sich der Feldweg in einem Trampelpfad verlor, der von Brennnesseln und Brombeerdornen in Beschlag genommen wurde, kehrten sie um. Am Tante-Emma-Laden angelangt pfiff Rica Clemens zurück und zückte die Leine. Nachdem sie ihn festgemacht hatte, blieb sie stehen. „Raphael", begann sie entschieden, „bitte versprich mir, dass du es deinen Eltern sagst, ja?" Gequält schaute er sie an. „Vielleicht werden sie stolz auf dich sein. Immerhin warst du der Einzige, der etwas unternommen hat." „Ich-" „Versprich es mir", schloss sie in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
„Ich werde versuchen mit ihnen zu reden." Rica seufzte. „Und wehe wenn nicht." Raphael rollte mit den Augen. „Ich hab's verstanden." Dann nach einer Weile: „Danke, Rica."
„Du weißt, dass ich da bin. Zur Not. Du kannst nochmal rüber kommen, wenn du magst."
„Danke, Rica", murmelte Raphael ein zweites Mal.
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