52 - Raphael
„Das neben Levi sind Jasmin und Marko, siehst du das Mädchen mit dem-" Das Blut in Raphaels Ohren rauschte, war lauter als Ricas Stimme. Levi hatte in dem Wagen gesessen. Er hatte den Wagen gefahren, er hatte das Lenkrad umklammert und starr geradeaus gesehen. Vielleicht hatte er mit sich gerungen auszusteigen, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte er dagesessen, ruhig und bedacht, hatte seinen größtmöglichen Schaden kalkuliert, während kaum einen Meter von ihm entfernt Lissa vor seiner Motorhaube lag.
„Also, was sind eure Tipps für die nächste Halbzeit?" Simon ließ sich neben Rica fallen und sah sie erwartungsvoll an. „Lars macht eins", vermutete sie und ließ sich von Simon bereitwillig eine Cola in die Hand drücken.
Hatte Levi Lissa überhaupt sehen können? Oder war die Motorhaube im Weg gewesen? Machte das überhaupt einen Unterschied?
„Lars ist der Torwart", fügte sie in Raphaels Richtung hinzu und ließ den Kronkorken mit einer erprobten Bewegung an der Betonabtrennung der Tribüne abspringen.
Was, wenn Levi sie auch noch überfahren hätte, bei dem Versuch, zu fliehen. Hatte er diese Möglichkeit auch mit einberechnet?
„Sorry, Raphael", sagte Simon und verzog entschuldigend das Gesicht. „Lukas hat die Cola eben schon für Rica mitgebracht. Aber dahinten werden noch welche verkauft."
Was machte die Schuld mit Levi? Empfand er Reue? Oder Angst. Angst doch noch dran zu kommen. Aufzufliegen. Hinter Gittern zu verschwinden. Wie viele Jahre Knast bedeuteten Fahrerflucht? Unterlassene Hilfeleistung? Mehr als ein Steuerbetrug, als ein Fehler in der Rechnung? Oder wog beides gleich viel.
„Kein Problem, ich hab sowieso keinen Durst", sagte Raphael und merkte gleichzeitig, wie sein Mund immer trockener wurde. Frederik und Matteo; Levi war der Trainer ihrer Mannschaft. Hatte er keine Skrupel gehabt, ihnen das Schießen und Zielen beizubringen?Die Luft war zu heiß, zu stickig, die Gespräche um ihn herum schienen von Sekunden zu Sekunde lauter zu werden, die Alte-Herren-Ehefrauen-Gruppe brach in ohrenbetäubendes Gelächter aus. Wie von selbst hatten Raphaels Finger damit begonnen, unablässig gegen die Plastikschale des Sitzes zu klopfen.
Rica runzelte die Stirn, er hörte damit auf. „Alles klar?", fragte sie, als Simon sich einen Moment lang zu Levi und Jasmin umdrehte. Raphael schluckte, nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Ich brauche Junas Handynummer", platzte es dann aus ihm heraus. „Hast du die zufällig?"
„Juna?" Rica zog die Augenbrauen hoch. „Warum in aller Welt brauchst du jetzt Junas Handynummer?" „Weil-" Raphael stockte und verschränkte seine Hände miteinander, bis die Fingerknöchel knackten. „Darum eben." Er stand ruckartig auf. „Hast du sie oder nicht?" Raphael ging ein paar Schritte und hätte dabei fast Ricas Cola über den Haufen gerannt. Sie erhob sich ebenfalls und stupste ihn gegen die Schulter. „Im Ernst, Raphael, alles klar?" Vielleicht war der Stupser doch eher ein Schubser gewesen. Hoffentlich in die richtige Richtung. „Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen."
Raphael warf einen schnellen Blick auf Levi und schüttelte dann energisch den Kopf. „Nein." Er ließ die Schultern sinken und nahm einen tiefen Atemzug. „Alles bestens. Aber ich müsste sie wirklich mal kurz anrufen." Bittend sah er sie an. Versuchte sich ein bisschen kleiner zu machen und löste die Arme aus ihrer Verschränkung. „Mein Handy ist ja immer noch im Eimer, daher-" Rica seufzte leise und bückte sich nach ihrer Tasche, aber der Argwohn war noch nicht aus ihrem Blick verschwunden, als sie Raphael ihr Handy entgegenstreckte.
„Hier", sagte sie und Raphael konnte sehen, wie sie das Innere ihrer Wangen zwischen die Zähne zog. „Ich hab ihre Nummer nicht", sagte sie knapp. „Aber schau mal nach, vielleicht stehen sie mit dem Festnetz im Telefonbuch." Raphael nahm das Handy entgegen, Rica hielt es einen Moment länger fest als es nötig gewesen wäre. „Danke", murmelte Raphael, hielt ihrem Blick aber nicht länger stand und drehte sich um. Das Handy fest in der Hand haltend, lief er die Ränge hinunter bis zum Spielfeldrand.
Die Mannschaften machten sich gerade bereit und sammelten sich auf der anderen Seite beim Vereinshaus. Raphael beobachtete, wie Lukas seine Schienbeinschoner richtete und breit in Richtung der Ränge grinste. In die Richtung, aus der er gerade gekommen war.
Hinter der Metallstange, die die Ränge vom Spielfeld trennte, blieb Raphael kurz stehen. Er wünschte, er könnte sein Leben einfach mit Lukas Leben tauschen. Er wünschte er könnte Fußball spielen, er wünschte er hätte mit der gesamten Matthi-Sache nichts mehr zu tun. Er wünschte er würde nicht in dem schlaksigen Körper stecken, der nun mal sein eigener war. Er wünschte er müsste sich nicht länger mit Levi befassen. Und tief in sich drin wünschte er sogar, er wäre heute niemals hergekommen und hätte die Levi-Sache nie in Erfahrung gebracht.
Lukas lief ein bisschen auf und ab, wippte auf den Fußballen und lachte, als ein anderer Junge etwas sagte.
Ricas Handy in seiner Hand fühlte sich plötzlich ungeheuer schwer an. Raphael griff es so fest, dass sich die Ränder in seine Handinnenfläche schnitten, dann tauchte er unter der Metallstange hindurch und überquerte das Feld. Ein Schiedsrichter beobachtete ihn misstrauisch, wandte sich jedoch wieder wichtigeren Dingen zu.
Vom Vereinshaus aus bildete sich ein Strom von Menschen, der alle zurück auf die Ränge führte. Raphael drängte sich zwischen den Menschen hindurch, am Verkaufsstand vorbei, am repräsentativen Eingang des Vereinshauses vorbei, bis er schließlich auf der Rückseite des Baus angelangt war. Ein Hintereingang führte zu den Umkleiden und Duschen, auf den schmalen Treppenstufen davor setzte er sich hin.
Die Stufen waren bei den Renovierungsmaßnahmen vergessen worden, sie waren aus altem bröckeligem Mörtel und an der Sonne abgewandten Seite wuchs ein weicher Moosteppich.
Die Sonne blendete und Raphael brauchte zwei Versuche, bis er Ricas Code, die Quersumme des Geburtstages ihres Bruders plus die Quersumme des Geburtstages ihrer Großmutter, eingetippt hatte. Er schraubte die Bildschirmhelligkeit hoch und öffnete den Browser.
Mair 59624 Warnheim Telefon
Es dauerte eine Weile, bis die Internetverbindung aufgebaut wurde, Raphael konnte dem blauen Ladebalken dabei zusehen, wie er von der einen Seite des Displays auf die andere kroch. Immerhin hatte man in Warnheim Empfang. Oben in Hausen oder in den umliegenden Käffern war es keine Seltenheit, auch mal gar kein Netz zu haben. Ein weiterer Grund, nach der Schule zu verschwinden.
Die ersten Suchergebnisse tauchten auf. Dastelefonbuch.de dasoertliche.de meinestadt.de. Egal, Hauptsache ein Treffer. Wieder trommelten Raphaels Finger auf die Treppenstufen, wieder zwang er sich dazu, damit aufzuhören.
Die häufigsten Suchanfragen in ihrer Umgebung. Akupunktur, Lohnsteuerhilfe, Altenheim. Wo war die verdammte Suchleiste? Mair 59624 Warnheim Telefon Klappe, die zweite. Raphael knirschte mit den Zähnen, vom Spielfeld schwappte die ausgelassene Stimmung zu ihm herüber. Die freudigen Stimmen, ein lautes Pfeifen, vereinzelte Buhrufe oder Schlachtgesänge. Die am häufigsten gesuchten Nachnamen in ihrer Regio... Beck Horsch Illner Henke. Mair. Er brauchte Mair. Und die Seite lud nicht. Dafür die Werbung an den Rändern. StayFriends alte Klassemfo...
Da!
Mair, Sabine. Samt Telefonnummer.
Die Werbung verkleinerte das Display von den Seiten her und rückte immer weiter in Richtung Mitte. Jetzt Kontakt aufnehmen. Jetzt Kontakt aufnehmen. Wenn er Pech hatte, war Juna gar nicht zu hause. Wenn er Pech hatte, würde sie auflegen. Wenn er Pech hatte, würde sie ihm nicht glauben. Wenn er Pech hatte, würde sie genauso wenig wissen, was zu tun war. Jetzt Kontakt aufnehmen.
Raphael drückte auf die Telefonnummer, sofort wurde ein Anruf aufgebaut. Hastig presste er sich das Handy ans Ohr und stand auf. Hinter ihm war noch das Getöse des Spiels zu hören, vor ihm lag eine Pferdekoppel. Die zwei Ponys wirkten gelangweilt und standen regungslos vor sich hin, das Vertreiben der Fliegen als einzigen Zeitvertreib.
„Mair, hallo?"
Die hohe Stimme, die aus dem Hörer quoll, war so laut, dass Raphael unwillkürlich überprüfte, ob er den Anruf via Lautsprecher gestartet hatte. Was nicht der Fall war. „Hallo!", wiederholte die Stimme ein zweites Mal, als Raphael sich immer noch nicht gemeldet hatte. Es musste die richtige Nummer sein. Am See, kurz bevor Juna ihn und Matthi allein zurückgelassen hatte, da hatte ihre Mutter genauso laut ins Telefon geschrien.
„Hallo, hier ist Raphael. Ein Mitschüler von Juna", sagte er und hielt das Handy sicherheitshalber schon mal etwas von seinem Ohr entfernt. Am anderen Ende der Leitung war es erstmal still, als ein Knistern zu hören war, sprach Raphael weiter. „Ist Juna zuhause? Ich müsste einmal kurz mit ihr sprechen. Ist wichtig." Ist lebensentscheidend. Nur nicht auf Leben und Tod, dafür ist es schon zu spät.
„Einen Moment, ich frage sie mal."
Raphael legte den Kopf in den Nacken und atmete aus. Der erste Schritt war getan, jetzt kam es auf Juna an. Es knisterte wieder, durchmischt von einem Rauschen. Vermutlich hielt Junas Mutter gerade das Mikrophon zu. „Ein Raphael ist am Telefon", sagte sie, jetzt war ihre Stimme ungefähr so laut wie die anderer Menschen. Junas Antwort war ein unverständliches Gemurmel, es knirschte und auf dem Spielfeld brach Jubelgeschrei aus.
„Sie ist nicht-", begann ihre Mutter schließlich, stockte jedoch und ein weiterer für Raphael stummer Schlagabtausch folgte. „Moment, ich reiche dich weiter." Raphael nickte und raufte sich gleichzeitig mit seiner freien Hand die Haare. „Sehr gut. Danke." Er räusperte sich. „Und schönes Wochenende noch", fügte er halbherzig hinzu, um die Stille zu füllen. Dann entfernte sich das Rauschen.
„Bitte nicht auflegen", war das erste, was Raphael sagte. Zurück kam ein leises Schnauben. „Wenn ich dich hätte ignorieren wollen, hätte ich jetzt wohl kaum einen Telefonhörer in der Hand." Eine kurze Pause trat ein. „Gut", sagte Raphael und schwieg weiter. „Gut", wiederholte Juna spöttisch und Raphael konnte geradezu sehen, wie sie ihren Mund verzog. „Wie lange willst du das Guthaben einer mir unbekannten Person noch verschwenden?"
Raphael ging zurück zum Hintereingang und lehnte sich gegen die Tür. Eines der Ponys auf der Weide begann, sich im Kreis zu drehen. Wie ein Hund. „Du musst Matthi anrufen, Juna." Er presste die Lippen aufeinander, aber Juna fiel ihm nicht ins Wort, sondern ließ ihn ausreden. „Du musst Matthi anrufen, weil ich weiß, wer der Fahrer ist."
Das Pony erstarrte mitten in seiner Bewegung, so als sei ihm erst jetzt wieder eingefallen, dass Pferde für gewöhnlich nicht ihrem eigenen Schwanz hinterherjagen. So als wäre nie etwas passiert, versteinerte es und zuckte nur noch hin und wieder mit dem Kopf, wenn sich ein paar Fliegen zu nah heran wagten.
„Sicher?"
„Ja."
„Verdammte Scheiße", sagte Juna und Raphael war sich nicht sicher, ob die verdammte Scheiße positiv oder negativ war.
Sie verschwendeten noch ein paar Sekunden Ricas Guthaben mit nichtssagendem Schweigen. „Schick Matthi zum Fußballplatz", sagte Raphael dann. Wieder trat eine Pause ein, in der Juna weder sprach, noch zu atmen schien. „Und komm du auch, Juna", sagte er, dann nahm Raphael das Handy vom Ohr und legte auf.
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