51 - Rica

Whoups, Überlänge im Anmarsch. Nehmt euch Zeit (;

Wahrscheinlich wäre Raphael überrascht gewesen, hätte seine Mutter wirklich ihre Unterschrift auf seinen Entschuldigungsbogen gesetzt. Aber die letzten Wochen hatten ihre Erziehungsgrundsätze nicht ins Wanken bringen können und so hatte Raphael in der folgenden Mathestunde keine Erklärung parat, die sein Unwissen über die Berechnung der Orthogonalität zweier Vektoren hätte erklären können.

Abgesehen von den zwei Fragen wo er in der letzten Stunde gewesen war und wie er gedenke die Lösungsmenge zu definieren, verlief die Schule jedoch in geordneten Bahnen. Der Rand von Collegeblockblättern löste sich immer noch nicht in einem Zug, die Lehrer waren nach Jahrzehnten der Berufserfahrung immer noch nicht auf die Idee gekommen, Arbeitsblätter direkt in einem Zug für alle zu lochen und die übrig gebliebenen Cafeteria Nudeln von Mittwoch kamen am Freitag wieder einmal als Auflauf auf den Tisch.

Am Ende ihres Briefes hatte Rica geschrieben, er solle sich den Freitagnachmittag frei halten. Was nicht sonderlich schwer gewesen war, denn Raphael hatte nicht vorgehabt, irgendetwas zu unternehmen.

Wahrscheinlich handelte es sich bei Ricas Idee um die gemeinsame Busfahrt nachhause, eine Partie Mau-Mau mit Victor und einer Pizza im Ofen. Vielleicht hatte sie es auch schlicht und ergreifend vergessen, dachte Raphael, als es klingelte und er sich langsam auf den Weg zur Bushaltestelle machte. Rica hatte ihm noch nicht geschrieben und bei ihr wusste man nie. Manchmal war sie Feuer und Flamme, plante ausufernde Aktionen samt Übernachtung bei ihrem Großcousin in Berlin und an anderen Tagen verbarg sich hinter derselben Aussage ein Eis am Stiel mit Mandelsplittern.

Neben dem verrosteten Bushaltestellenschild kniete Herr Marrlach mit krummem Rücken und verrenkten Nacken, da er sein Handy zwischen Schulter und Ohr einklemmte, um gleichzeitig mit einem nass bespuckten Taschentuch seine Schuhe zu polieren. „'lo", grüßte Raphael tonlos und nickte ihm zu. Es zuckte ihn in den Fingerspitzen seinen Rucksack abzusetzen und Ohrstöpsel sowie Handy hervor zu kramen, so wie er es früher immer getan hatte.

Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite wässerte Frau Niederbach ihre Pflanzenleichen im Vorgarten, alles war wie immer. Der Raum hinter Lissas Fenster lag hinter bleichen weißen Vorhängen verborgen und hinter der Hausecke lugte das Netz eines Trampolins hervor.

Raphael legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genoss einige Sekunden lang die Sonnenstrahlen des beginnenden Wochenendes auf seiner Nasenspitze. Es war friedlich, ruhig auf eine geschäftige Art und Weise. Bis plötzlich lautes Gelächter ertönte, Bremsen quietschten und eine Klingel rasselnde Tonsprünge von sich gab.

„Hellou Raphael!"

Würde irgendwann einmal ein Kinderanimationsfilm mit hyperaktiven Hamstern in der Hauptrolle Synchronsprecher suchen, Rica wäre bestens geeignet.

Er blinzelte. „Hi Rica",  sagte er und schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die Sonnenstrahlen ab. Sie sprang von einem viel zu großen Herrenrad und hob es schwungvoll über die Bordsteinkante. „Gehört das dir?", fragte Raphael und musterte es kritisch. Rica entblößte ein breites Grinsen und schüttelte den Kopf.

„Lukas", entgegnete sie. „Aber keine Sorge, ich hab gefragt, du darfst es dir ausleihen." Sie hielt Raphael auffordernd den Lenker entgegen. „Na los! Wartest du auf den Startschuss?" „Eine gemeinsame Radtour mit einem Fahrrad." Anerkennend nickend nahm Raphael den Lenker entgegen. Lukas Fahrrad hätte genauso gut das Fahrrad von seinem Vater sein können. An den Stellen des Rahmens, an denen sich der Lack gelöst hatte, hatte sich rotbrauner Rost abgesetzt, nur der Gepäckträger schien neu und von der Klingel hatte Raphael ja auch schon eine Gehörprobe bekommen.

„Stimmt, ich hatte dir noch gar nicht gesagt, worum es geht." Rica schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, aber sie war schon immer eine schlechte Schauspielerin gewesen. „Übertreib es nicht", warnte Raphael sie. „Du weißt noch ganz genau, dass du mich mit dem kryptischen Ende deines Briefes zurückgelassen hast."

„Kryptisch, na so was", murmelte Rica und schüttelte tadelnd den Kopf. „Überraschung nennt man so was. Und jetzt hab dich nicht so, ich hab schließlich vor, dir ein Eis auszugeben." Sie zuckte mit ihrem Kopf in Richtung Fahrrad. „Schwing dich in den Sattel! Sonst ist das Eis geschmolzen bis wir da sind." „Und du rennst nebenher?", wollte Raphael wissen. „Fliegen war schon immer eher mein Ding." Rica verdrehte die Augen. „Was meinst du wohl, warum ich Lukas bestochen habe, einen Gepäckträger zu installieren, der nicht schon komplett durchgerostet ist."

„Achja", bemerkte Raphael und ergab sich seinem Schicksal, indem er seinen Rucksack schulterte und sich auf den Sattel sinken ließ. „Will ich wissen, womit du ihn bestochen hast?" Ricas Hände krallten sich um seinen Bauch, streiften die langsam verblassenden Blutergüsse, das Fahrrad kippte zur Seite, erst im letzten Moment gelang es Raphael gerade noch rechtzeitig, es in der Senkrechten zu halten.

„Losfahren, losfahren!", trieb Rica ihn an und ihre Beine schlackerten zu beiden des Hinterrades herunter. „Klappe auf den billigen Plätzen", brummte Raphael, dann stabilisierte er das Fahrrad mit einem verbleibenden Bein auf den Boden und stieß sich mit dem anderen schwungvoll ab. Schwankend und Kippend setzten sie sich in Bewegung, Ricas Kopf verschwand irgendwo hinter seinem Rucksack und ihr Beitrag an der Fahrradtour bestand darin, in jeder Kurve unpassende Geräusche und Kommentare abzugeben, während Raphael zunehmend ins Schwitzen kam.

„Weißt du noch, wie wir früher immer Schneckenrennen gespielt haben?", fragte Rica von hinten und klopfte gegen seinen Rucksack. „War das gerade der dezente Hinweis darauf, dass ich dir zu langsam fahre?", gab Raphael zurück und stemmte sich schnaufend in die Pedale. Sie ruckelten noch ein paar Meter über Kopfsteinpflaster, Rica machte den Mund auf und brummte aaaah um dann mit größter Faszination zu merken, wie ihre Stimme bei jeder Erschütterung auf und ab hüpfte.

Sie hörte sich an wie ein Grizzlybär mit Schluckauf und ein paar der Menschen, die sie trotz des eher gemächlichen Tempos überrundeten, sahen ihnen amüsiert hinterher.

Viele der kleinen Tische auf dem alten Markplatz waren schon besetzt, als Rica in einer fließenden Bewegung vom Rad sprang und es Raphael überließ, einen freien Platz am Fahrradständer zu finden. Als er es schließlich zwischen die anderen Drahtesel gequetscht hatte, war Rica in der Schlange vor der Eistheke schon ein gutes Stück vorangekommen.

Unter den missgünstigen Blicken der älteren Dame hinter ihnen, stellte Raphael sich zu ihr dazu. Ein kleiner Junge vor ihnen, wahrscheinlich in etwa so alt wie Matteo und Frederik, bestellte eine Kugel Schlumpfeis, die ihm prompt aus der Waffel plumpste. „Opa", sagte er und zupfte an den langen gekräuselten Armhaaren seines Großvaters. Betröppeld sah der Junge zwischen der schmelzenden cyanblauen Kugel und der üppig gefüllten Box in der Theke hin und her. Die ältere Dame hinter ihnen stieß einen Seufzer aus und trat unruhig auf und ab.

Rica bekam davon nichts mit, sie begutachtete das Eissortiment und neigte grübelnd den Kopf von links nach rechts. „Ah, Nikolai. Wolltest du das Eis etwa wegwerfen?" Der Großvater des kleinen Jungens nahm sich mit zitternden Händen einen leeren Eisbecher von der Theke und straffte seine Hose, in Begriff sich hinzuknien und das Malheur seines Enkels zu beseitigen.

Der Mann hinter der Theke betrachtete die immer länger werdende Schlange und nutzte die Verschnaufpause, um sich erste Schweißperlen von der Stirn zu tupfen. „Dunkle Johannisbeere oder doch Maracuja?", sagte Rica und sah Raphael ernst an. Er hob die Schultern. „Beides?", antwortete er mit einer lapidaren Einfachheit, die Rica, wäre sie nicht so vertieft in ihre Auswahl gewesen, als persönliche Beleidigung empfunden hätte.

„Hmh, Entschuldigung?" Raphael ließ seine Hand über der Schulter des Großvaters schweben in der Hoffnung, er würde sich zu ihm umdrehen, noch bevor er sie tatsächlich würde berühren müssen. „Kann ich Ihnen helfen?", fragte er und ließ die Hand sinken, als er sich umdrehte.

Die Furchen und Falten in seinem Gesicht verzogen sich zu einem dankbaren Lächeln, als er Raphael den leeren Eisbecher in die Hand drückte. „Das ist aber nett von dem jungen Mann", sagte er in Richtung seines Enkels. „Sieh mal, Nikolai. Dann such' dir doch eine neue Sorte aus. Das blau sah etwas ungesund aus, findest du nicht?"

Raphael grinste und begann dann damit, die blaue Pfütze so gut wie es eben ging in den Eisbecher zu befördern. Unterdessen blieb Nikolai standhaft bei seinem Schlumpfeis, das sein Großvater seufzend ein zweites Mal bezahlte. „Schönes Wochenende", nickte Nikolais Opa Raphael zum Abschied zu und wandte sich kurz darauf schon wieder seinem Enkel zu. „Na das hast du dir aber verdient. Zwei Spitzen Tore, da wird-", sagte er, dann ging seine knarzende Stimme im allgemeinen Gemurmel unter.

Vielleicht spielte Nikolai im selben Verein wie Matteo und Frederik. „He, und du?" Metall klopfte auf Metall. Hektisch. Matteo und Frederik hätten sich bestimmt gefreut, wenn er zu ihrem Spiel gekommen wäre.

„Gehört ihr zusammen?" Der Mann hinter der Theke tauchte den Eislöffel in eine Tasse Wasser, das weiße Porzellan klirrte. Rica stieß ihm zischen die Rippen. „Ja, wir gehören zusammen, Raphael, was nimmst du?" „Himbeere und Zartbitterschokolade, bitte", sagte Raphael schnell. „In der Waffel", fügte er noch hinzu und verzog entschuldigend das Gesicht. Rica wandte sich schmunzelnd ab. Raphael bestellte schon seit Jahren dieselben Eissorten, während sie selbst sich nie entscheiden konnte.

Der Eisverkäufer kratzte eine halbwegs große Kugel zusammen und kaum hatten Raphael und Rica sich einen halben Meter zur Seite bewegt, drängte sich die resolute Dame nach vorn. Sie war klein, ziemlich klein und dass, obwohl sie hohe rote Schuhe trug, deren Absätze sich in die Pflastersteinritzen bohrten.

„Kleines Biest", bemerkte Rica gerade so laut, dass sie es hören konnte, dann setzte sie ihr freundlichtest Lächeln auf und schleckte vor den ungläubig geweiteten Augen der Frau einmal quer über ihre drei Eiskugeln hinweg. Maracuja, Himbeere und Schokolade.

Sie setzten sich auf eine Bank, der Mann, der sich unglücklicherweise anfangs zwischen ihnen befunden hatte, stand nach einigen Minuten auf. Rica rutschte auf und zog ein Bein zu einem halben Schneidersitz zu sich heran. „Danke für die Eiseinladung. War eine gute Idee", sagte Raphael und ließ das süßsaure Himbeereis zusammen mit angekauter Waffel und der herberen Zartbitternote auf der Zunge verschmelzen. „Da muss ich dir wohl oder übel zustimmen. Meine Idee war schon ziemlich genial." Rica lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken.

Anders als am Anfang der Woche war die Hitze einem angenehmen Wechsel aus Sonne und Wolken gewichen, der Schatten durch die verwinkelten Gassen und Straßen von Warnheim tanzen ließ und Menschen Sonnenflecken ins Gesicht malte.

„Lukas Bruder feiert heute Abend Geburtstag. Ich hab gesagt ich komme, wenn ich noch jemanden mitbringen darf." Raphael ließ seine Waffel sinken und runzelte die Stirn. „Du gehst als die Begleitung deines Freundes auf den Geburtstag von dessen Bruder und fragst den dann noch, ob du jemanden mitbringen kannst, den derjenige gar nicht kennt?", vergewisserte er sich, aber Rica schien das nicht verwunderlich zu finden. „Beziehungsweise ob ich zwei mitbringen darf. Victor wollte uns nämlich nur fahren, wenn er selbst dabei sein darf." Sie verdrehte die Augen und biss von unten ein Loch in ihre Waffel, um das inzwischen cremig weiche Eis herauszusaugen.

„Wenn ich das richtig verstehe, sitze ich dann doch sowieso schon hier unten fest, oder?" Aus Ricas Richtung – ihr Gesicht war hinter der Eiswaffel verschwunden – drang ein schlürfend blubberndes Geräusch. „Exakt", bemerkte sie, nachdem die Waffel geleert war. „Außerdem hab ich Lukas und Simon eigentlich schon zugesagt." Raphael schüttelte halb fassungslos, halb amüsiert den Kopf. „Na dann bin ich ja mal gespannt auf deinen Lukas."

„Er ist nicht mein Lukas", protestierte Rica halbherzig, aber das Aufblitzen ihrer Augen verriet das Gegenteil. Als Raphael zu einer zweiten Bemerkung ansetzen wollte, stieß sie ihm mit den Hacken gegens Schienbein.  „Vorsicht Freundchen, iss du lieber erstmal dein Eis. Der Nachmittag ist noch lang!", rief sie aus und zerbiss knackend ihre Eiswaffel, sodass Krümel zu allen Seiten flogen.

Obwohl Rica behauptet hatte, der Nachmittag sei noch lang, verging er erschreckend schnell. Sie schlenderten am Ufer des kleinen Baches entlang, der innerhalb Warnheims kanalisiert worden war und wechselten sich dabei ab, Lukas Rad zu schieben.

Irgendwann rückte sie damit heraus, dass die Geburtstagsfeier von Lukas Bruder nicht das einzige gewesen war, wo sie bereits zugestimmt hatte. „Heute ist Turniertag. Fußball, du weißt schon", begann sie zögerlich und beobachtete Raphael aufmerksam von der Seite aus. Er nickte nur und dachte an Matteos und Frederiks Fußballspiel. Das er verpasst hatte. Sie hätten sich wahrscheinlich sehr drüber gefreut, wenn er gekommen wäre.

„Lukas und ein paar seiner Freunde spielen da heute noch. U21 oder so gegen-", sie runzelte die Stirn und kratzte sich im Nacken, „-gegen die Schulmannschaft vom Sankt Antonius. Und nochmal zum Spaß gegen die Alten Herren." Rica sprach weiter, als Raphael immer noch nichts sagte. „Wir könnten auch einfach nicht hingehen. Wäre bestimmt auch nicht so schlimm. Wie du willst." „Ne, schon in Ordnung", sagte Raphael und schüttelte die Gedanken an Matteo und Frederik und ihren großen Bruder ab.

„Fußball ist doch voll mein Ding", schob er sarkastisch hinterher und Rica knuffte ihn mit der Lenkradstange des Fahrrads zwischen die Rippen. „Jaah, ich weiß." Sie zog die Nase kraus und wirkte ebenfalls nur wenig enthusiastisch. „Ach, zu blöd, dass dein Lukas ausgerechnet Fußball spielen muss", sagte Raphael feixend und kniff ein Auge zu. „Weiß dein Lukas eigentlich, dass du Fußball ungefähr so interessant findest wie-" „-wie Unkraut jäten finde?", ergänzte Rica seinen Satz und schob ihre Zunge zwischen den Schneidezähnen hervor. „Tatsächlich weiß er das." Sie lächelte. „Das war einer der ersten Sätze, die ich vor ihm rausbekommen habe."

Vor ihm rausbekommen, also wirklich. Dass ich einmal von einem Menschen höre, der Veronica Dreyer sprachlos macht, hätte ich auch niemals gedacht." Rica schirmte ihr Gesicht mit einer Hand gegen die Sonne ab und sah zu ihm hoch. „Ach dein nächstes Eis kannst du dir selbst kaufen, Raphael Lengsmann, du Idiot." Raphael lachte leise in sich hinein und fuhr mit der Hand über das warme schmiedeeiserne Geländer, das den Kanal säumte. „Unbegreiflich, wie du so etwas zu mir sagen kannst." Er schüttelte den Kopf. „Schließlich sind wir Anti-Fußball verbündete. Der einzige Sport, den es sich lohnt anzusehen, ist Hürdenlauf." Raphael nickte ernst und langsam. Es dauerte einige Sekunden, bis Rica begriff, dass der zweite Satz ein Scherz gewesen war.

Sichtlich ergriffen fasste sie sich ans Herz und formte den Mund zu einem erbosten O. Drohend wackelte sie mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum, bis das Rad in ihrer anderen Hand die Balance verlor und sie beide gegen Raphael und das Geländer torkelten. „Lass uns einfach die erste Hälfte schwänzen und erst zum zweiten Spiel kommen", schlug Rica vor, als sie das Rad wieder unter Kontrolle hatte. Das gute an einem alten Fahrrad war, dass man nur schwerlich mehr kaputt machen konnte. Wortlos reichte sie es zum Schieben an ihn weiter. „Nach dem Eisessen die beste Idee des Tages", stimmte Raphael ihrem Fußballvermeidungsvorschlag zu. „Wir könnten sagen, dass wir noch eins essen waren und es deswegen länger gedauert hat."

Rica zog die Achseln hoch und blieb plötzlich stehen. Sie bückte sich nach einem flach geformten Stein und ließ ihn über die gekräuselte Wasseroberfläche des Kanals flitschten. Auf der anderen Seite des Kanals stieß er gegen die grünlich verfärbten Einfassungen und ging schließlich unter. „Wir könnten wirklich noch ein zweites Eis essen und dadurch etwas länger weg bleiben", korrigierte sie seine Ausrede und schnappte sich das Fahrrad zurück. „Jetzt bin aber ich dran mit Fahren. Sichern Sie sich einen der Elite-Plätze und ziehen Sie die Beine an, die Sauerstoffmasken befinden sich über Ihren Köpfen."

Der Rückweg zur Eisdiele dauerte fahrend länger, als wenn sie einfach gelaufen wären. Raphaels Beine waren so lang, dass sie den Boden streifen und er irgendwann einen Krampf vom ständigen Anziehen bekam. In den Kurven bekamen sie eine solche Schlagseite, dass sie ein paar Mal fast umgekippt wären. Die letzten Meter funktionierten sie das Fahrrad zum Laufrad um, in dem Raphael von hinten weiteren Schwung beisteuerte.

Da Rica der Meinung war, sich nach dieser Anstrengung was Besonderes verdient zu haben, bestellte sie ein Eis mit Sahne und weil der Mann hinter der Theke gewechselt hatte und offensichtlich noch nicht eingearbeitet war, dauerte das Prozedere umso länger. Raphael musste sich ein Grinsen verkneifen, zwischen dunkler Johannisbeere und Cookies-Eis plötzlich ihr Handy klingelte und sie mit sehr überzeugender Stimme erzählte, dass sie sich leider etwas verspäten würden.

Sie erreichten den Echtrasen-Fußballplatz, Stolz der gesamten Umgebung, kurz vor der Halbzeit des zweiten Spieles gegen die Alten Herren. Rica war es außerdem gelungen, ihr weißes T-Shirt farblich mit einem dunkelroten Johannisbeereisfleck auf zu peppen. „Als Beweismittel dafür, dass wir wirklich Eis essen waren", hatte sie nach einem halbherzigen Fluch optimistisch gesagt und den Fleck mit den Fingern noch größer und fester in den Baumwollstoff gerieben.

Die Ränge und Bänke neben dem Feld waren gut gefüllt, einige Frauen, die wahrscheinlich ebenso viel Ahnung von Fußball hatten wie Rica und Raphael, hatten sich zusammengefunden und sahen den Alten Herren bei ihrer Niederlage zu. Im Vereinshaus wurden Getränke sowie Kaffee und Kuchen verkauft.

Der Ansturm aufs Essen war groß, das Spiel anscheinend nur noch mäßig interessant. Rica lehnte sich gegen eine der metallenen Spielfeldbegrenzungen und winkte. Raphael reckte den Hals, um einen Blick auf Lukas zu erhaschen, aber im Gewusel um den kleinen Ball herum ging er unter.

Die Warnheimer U21 Mannschaft trug orangefarbene Trikots, die den Spielern alles in allem eine ziemlich ungesund aussehende Gesichtsfarbe verpassten, es aber nicht schafften, die Hässlichkeit der braun weiß gestreiften Trikots der Alten Herren zu übertrumpfen. Mit einem müden Pfeifen wurde die erste Halbzeit beendet und das braunorangefarbene Knäul zerstreute sich.

„Hey!", rief Rica und winkte wieder, Raphael konnte immer noch keinen Lukas erkennen. Was vielleicht auch daran lag, dass er nicht wusste, wie Lukas überhaupt aussah. Aber immerhin; auf die Geburtstagsfeier seines Bruders würde er schon mal gehen.

„Ist er das?", zischte er aus den Mundwinkeln und zuckte mit dem Kopf in Richtung eines Spielers, dessen gerötetes Gesicht sich furchtbar mit dem orange des Trikots biss. Rica rümpfte die Nase, sah ihn an, bis sie plötzlich zu strahlen begann und sich kurzerhand über die Metallstange hinweg aufs Spielfeld schwang. „He, du", begrüßte sie Lukas, bei dem Raphael erst nach ein paar Sekunden klar wurde, das er Lukas sein musste. Und das auch nur, weil Rica sich auf Zehenspitzen stellte und sich von ihm einen verschwitzen Kuss geben ließ.

Nachdem Victor Raphael von Lissas Beerdigung abgeholt hatte, waren sie bei Lukas vorbeigefahren, um Rica einzusammeln. Damals hatte ein braunhaariger Junge mit Grübchen auf der linken Wange an sein Fenster geklopft, um Rica ihr Halstuch wieder zu geben, das sie vergessen hatte.

Der Junge, dessen Hand nun auf Ricas Schulter ruhte, hatte nichts mit einem braunhaarigen Jungen mit Grübchen zu tun, sondern erinnerte eher an eine geschorene Version von Ed Sheeran. Lukas Haar hatte dieselbe Karottenfarbe wie sein Trikot und war ungefähr so lang wie die Bartstoppeln an seinem Kinn, Nase und Wangen waren mit unzählbar vielen Sommersprossen gesprenkelt.

„Hi. Ich bin Raphael", brachte Raphael etwas perplex hervor und eine kleine Pause entstand. „Hattest du nicht vor ein paar Wochen noch braune Haare?", rutschte es dann ihm unwillkürlich aus ihm heraus, woraufhin er und Rica lachten. „Sofern ich mich richtig erinnere, nein", sagte Lukas grinsend. „Aber manchmal, je nach Licht, sieht es gar nicht so orange aus." Er lachte über seinen eigenen Witz, Raphael schmunzelte. Kein Licht der Welt würde verhindern können, dass Lukas so wirkte, als hätte er einem Multivitaminsaft sämtliche Pigmente entzogen.

„Falls du aber den meinst, der hinterher nochmal zum Auto gekommen ist als du und Vic mich abgeholt haben", Rica zeigte auf eine Jungengruppe, die auf den hinteren Rängen herumlungerte, Raphael drehte sich um, konnte aber mehrere braunhaarige Köpfe erkennen, „das war Levi." Levi. Etwas in Raphaels Kopf ließ verlauten, dass er den Namen schon mal gehört hatte, aber er kam nicht drauf. „Ist ein Freund von mir und meinem Bruder", ergänzte Lukas und rieb sich mit seiner freien Hand über die Stirn.

„Ah", machte Raphael, obwohl Levi seinen Namen schon auf der Stirn gedruckt haben müsste, damit er ihn erkannt hätte. Lukas nutzte den schweigsamen Moment, um Rica vernarrt in die Nase zu kneifen. „Wir haben noch eine kurze Besprechung", sagte er und zog die Mundwinkel in die Höhe. „A la wie viele Tore wir dem Selbstbewusstsein der Alten Herren noch zumuten können." Rica verpasste Lukas einen Klapps auf den Hinterkopf. „Bloß nicht so selbstgefällig", sagte sie und verdrehte die Augen. „Ich hoffe die Alten Herren machen euch noch fertig."

Lukas tauschte einen übertrieben fassungslosen Blick mit Raphael, dann klopfte er sich auf die Brust. „Nie im Leben kommen die an unserer Abwehr vorbei", sagte er stolz und reckte das Kinn. „Er ist ein eingebildeter schnöseliger Abwehrspieler", bemerkte Rica in Raphaels Richtung, wandte sich dann aber wieder Lukas zu, um ihm einen hastigen Kuss mit auf den Rückweg zu geben. Ihre Lippen hatten dieselbe Farbe wie der Johannisbeereisfleck auf ihrem T-Shirt angenommen und selbst dieser schien plötzlich nicht mehr fehl am Platz, sondern genau richtig. Als gehöre er dort hin, ebenso wie Ricas ausgeblichen lilafarbenes Haar genau dort vor Lukas verschwitztes Trikot gehörte, das sie bestimmt nicht ausstehen konnte oder vielleicht auch gerade wegen seiner Farbe, die Lukas Haaren so sehr ähnelte, irgendwann lieben lernen würde.

„Wir sehen uns nach dem Spiel", sagte Lukas zum Abschied und hob eine Hand. „Du kommst doch?", vergewisserte er sich in Raphaels Richtung und nickte zufrieden, als er die Daumen reckte. „Prima", schloss Rica und sah Lukas ein paar Sekunden versonnen hinterher. „Jaja", sagte Raphael. „Zum Glück bist du niemand, der sich Hals über Kopf verlieben würde." Rica biss sich auf die Unterlippe und schnaubte leise. „Ach halt doch deinen Mund, Raphael", sagte sie grinsend, dann zog sie ihn in Richtung Levi und der Jungengruppe davon.

Sie drängten sich zwischen einer der Alten-Herren-Ehefrauen-Gruppe hindurch und Ricas Johannisbeereisfleck hätte beinahe Gesellschaft von einer fliegenden Frikadelle bekommen, die während eines aufbrausenden Gesprächs über die neuen Umbauarbeiten des Einkaufszentrums ihren Weg kreuzte.

„Hi Leute, das ist Raphael", stellte Rica ihn vor, als sie endlich bei Levi und den anderen angelangt waren. „Raphael, das sind die Leute." Rica zeigte auf einen blonden sommersprossigen Jungen, der sich als Simon und Lukas kleinerer Bruder vorstellte, neben Simon saßen zwei weitere Fußballspieler in orangefarbenen Trikots, die aber gerade aufstanden, um sich so wie Lukas zur Teambesprechung zu versammeln.

„Der da hinten ist Levi", erklärte Rica zum Schluss und zeigte auf einen Jungen, der mit dem Rücken zu ihnen stand. „Levi!", rief sie etwas lauter, bis er sich umdrehte. „Und? War Levi, den du an dem Tag gesehen hast?", fragte Rica und bedeutete Levi, dass er sich wieder umdrehen konnte.

Aber Levi drehte sich nicht wieder um, denn für den Bruchteil einer Sekunde floss die Zeit langsam wie zähflüssiger Honig an ihnen vorbei. Levis Gesichtszüge entglitten ihm, als er Raphael wieder erkannte und als die Zeit wieder ins Lot kippte, vorspulte, als müssten verloren gegangene Sekunden wieder eingefangen werden, Rica ihn fragend ansah und Levi ihnen erneut den Hinterkopf zeigte, hatte dieser winzige Moment der Zeitlosigkeit ausgereicht, um Raphael mit Übelkeit erregender Sicherheit davon zu überzeugen, dass er Levi bereits drei Mal gesehen hatte. Und das erste Mal hatte er hinter dem Steuer eines schwarzen Seat Ibiza gesessen.

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