50 - Raphael
Gaia war eine mächtige Frau. Zu mächtig und allumfassend, um schön zu sein. Sie war ein Mysterium, sie war alles zu gleich.
Erde.
Der erste Sohn, den sie gebar, war ihr fremd. Zusammen waren sie Himmel und Erde, zu unterschiedlich, um nicht irgendwann mit unaufhaltsamer Kraft miteinander zu kollidieren. Uranos, der Herrscher des blauen Bandes, das tagtäglich die Erde umhüllte, Horizonte zog und die Dämmerung hereinbrechen ließ, war Gaias erster Sohn und zugleich ihr erbittertster Konkurrent.
Wenn Wolken das helle blau verdunkelten, Nebelschleier es trübten oder Stürme Regen mit sich brachten, ja dann prallten die Welten zusammen. Himmel und Erde vereinigten sich in ewigem Kampfe, im Ringen um sich selbst und um des andern willen.
Hekatoncheiren und Kyklopen. Das waren ihre Kinder. Unvollendete Gestalten, mit drei Augen, fünfzig Köpfen und hundert Händen. Uranos Groll gegen sie wuchs ins Unermessliche, der Himmel erboste und zwang seine eigenen Kinder in die dunkle Verdammnis des Tartaros.
Dort fristeten sie ihr Dasein abseits des bösen Blickes ihres Vaters. Uranos Entscheidung für die Verdammnis der Hekatoncheiren und Kyklopen trieb einen Keil zwischen Himmel und Erde, einen Keil der drohte, die beiden Welten auseinander klaffen zu lassen und tiefe Wunden zu hinterlassen.
Gaia war schon immer eine mächtige Frau gewesen. Und als sie erfuhr, dass sie ein weiteres Mal Kinder erwartete, verbarg sie sie vor ihrem Vater. In der beklemmenden Dunkelheit im Schoß der lehmigen Erde brachte sie die zwölf Titanen zur Welt und erzog sie im Widerstand gegen den Geliebten, der ihr nun zum Feind geworden war.
Die Titanen waren anders als ihre anderen Kinder. Ohne die Makel zusätzlicher Gliedmaßen, dafür mit ungeheurer Macht, die derer ihrer Eltern glich. Hyperion befehligte das Licht, Phoibe war die Göttin des Mondes. Tethys ließ Sternenbilder über das Himmelszelt tanzen und Kronos, er, war der jüngste der Titanen. Und mit seiner Geburt fand die Goldene Ära ihren Anfang.
Denn die Macht der Titanen wurde immer noch beschränkt und laut der stetig flüsternden Stimme Gaias gab es nur eine Möglichkeit, den Bann des Uranos zu brechen.
Es geschah in der Zeit zwischen der Schwärze der Nacht und der hellen Scheibe vor dem dunklen Firmament, als sich der Mond zu einer Sichel formte. Wieder waren es Gaia und Uranos, die sich unter der silbernen Sichel am Himmel vereinigten. Kronos jedoch konnte die Unterdrückung seiner selbst und seiner Geschwister nicht mehr hinnehmen. Und so nahm er die Sichel aus göttlichem Stahl, entmannte seinen Vater unter der Hilfe seiner Brüder, die Uranos an den vier Ecken der Welt fixierten.
Iapetos im Westen, Hyperion im Osten, Kreios im Süden und Koios im Norden. Sie alle wandten sich gegen ihren Vater, bis sich in der Gischt des Meeres Blut und Samen vermengten. Aus den Blutstropfen des Uranos die Gaia benetzten, gingen die Giganten, die Erinnyen und die melischen Nymphen hervor.
Die Giganten trugen Schuppen an den Beinen und ihren Körper strotzten vor Kraft, sodass sie Berge stapeln konnten. Die Erinnyen dagegen waren von schmaler Gestalt mit spitzem Kinn und funkelnden Augen. Ihre Blicke waren stechend, in ihrer Wut und vom Zorn getrübt waren sie tödlich. Ihre Schwestern die melischen Nymphen waren durchscheinende Wesen mit flachsblondem Haar. Die wässrig blauen Augen verloren sich unter dem weiten Himmelsband, suchten tiefes Grün und ein schützendes Blätterdach über ihren Köpfen.
Uranos Samen dagegen fiel ins kühle Nass des Meeres, tauchte in den salzigen Tropfen unter und wurde von den türmenden Wellen zerschlagen. Es war vor der Küste Zyperns, als das Meer zu schäumen begann und die Göttin Aphrodite ihm entstieg.
Aphrodite war von so allumfassender Schönheit, dass sie allen, die sie betrachteten den Atem nahm und mit vergehender Zeit den Wahnsinn verfallen ließ. Die Menschen verehrten sie als Göttin der Ehe, als Personifikation der Fruchtbarkeit und Verfechterin der sinnlichen Liebe. Aphrodite, die Göttin der Liebe, geboren aus dem Schaum des Meeres.
Ein paar Zeilen der Geschichte, die Rica auf eine herausgerissene Collegeblockseite gequetscht hatte, auf deren Rückseite nicht entzifferbare Neutralisationsgleichungen standen, wurden von einer Tafel Nussschokolade verdeckt. Auf ihr klebte lediglich ein kleiner quadratischer Klebezettel.
Hab von Paul gehört. Tut mir leid, er ist ein Arsch. Hoffe, dir geht es gut. Du übrigens auch. Irgendwie. Wir leben im 21. Jahrhundert, schon vergessen? Mach's gut, oder auch nicht, in diesem Kaff werden wir uns wohl oder übel nochmal über den Weg laufen müssen. Also iss die Schokolade und rüste dich.
C.
Es war offensichtlich, dass Celine sich nur wegen Paul verpflichtet gefühlt hatte, ihm zu schreiben. Es war auch nicht sie selbst gewesen, die die Schokolade und die Nachricht abgegeben hatte. Sie hatte Justus vorgeschickt. Raphael war noch nicht zuhause gewesen, es war seine Mutter, die ihm die Tür aufgemacht hatte. Erst nach dem Abendessen hatte sie an seine Tür geklopft und sich schließlich auf Raphaels Schreibtischstuhl gesetzt.
„Das ist von Celine", hatte sie gesagt und ihm die Schokolade entgegen gestreckt. „Ihr Bruder war da." Raphael hatte nicht gewusst, was er antworten sollte und es dabei belassen, die Schokolade und den Klebezettel auf den Schreibtisch zu legen. Eine Zeit lang hatten sie da gesessen, Raphael mit abgezogenen Beinen auf seinem Bett und seine Mutter mit beiden Füßen auf dem Boden, so als wolle sie jeden Moment aufspringen und sein Zimmer verlassen.
„Du solltest dir ein neues Regal aufhängen. Es ist nicht gut, wenn die Bücher auf dem Boden unter dem Fenster liegen. Hinterher regnet es noch ein", warf sie irgendwann ein und Raphael nickte. „Am Wochenende vielleicht." Er zögerte. „Ich und Papa könnten in den Baumarkt." Seine Mutter erwiderte das Nicken und löste eine Spange aus ihren Haaren, um sie wieder fest und ordentlich am Hinterkopf festzuklemmen.
Raphael strich seine Bettdecke glatt und zupfte an seinen Socken. Die Schürfwunden an seinen Knien verheilten bereits und auch seine Unterlippe war nicht mehr so geschwollen wie am Montag. Dafür hatte Paul ein zweites Mal dafür gesorgt, dass Raphaels linkes Auge von violetten Schatten eingerahmt wurde, die an den Rippenbögen fielen zum Glück niemandem auf.
„Ellie-"
Einen Moment lang wirkte seine Mutter als würde sie sich erheben, dann sank sie zurück in den Stuhl. Die Lehne rasselte metallisch, Raphael hatte die Vermutung, dass sich irgendwo eine Schraube gelockert hatte, die jetzt in der hohlen Konstruktion herum klapperte.
„Es tut mir leid." Ihre Augenlider zuckten nervös, sie blinzelte. „Das hatte ich dir schon früher sagen müssen." Raphael rutschte auf dem Bett herum. Die Socke an seinem rechten Fuß würde bald ein Loch bekommen, man konnte bereits sehen, wie sich der Baumwollstoff über dem zweiten Zeh spannte. Ein nie endendes Dilemma, wenn der Zeigezeh länger war als sein dicker Bruder.
„Der Haryana-Reis-Junge. Matthias, so hieß er doch, nicht wahr?" Raphael biss die Zähne zusammen. Aus dem Mund seiner Mutter hörte sich sein Name seltsam fremd an. „Matthi", erwiderte er leise und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.
„Er wirkte nett." Unbeholfen rückte seine Mutter einen Stapel Blätter auf seinem Schreibtisch zurecht. Wenn es schon so keine Ordnung gab, konnte man wenigstens so tun als ob. „Nett, jaha", wiederholte Raphael und fragte sich, ob er seiner Mutter mit dieser Antwort Recht geben wollte oder nicht.
Matthi war so nett wie man eben sein konnte, wenn man die Kaltblütigkeit besaß, sein Gegenüber auszuspielen. „Eigentlich nicht."
Seine Mutter hielt inne und hörte damit auf, die Eselsohren aus Raphaels Französischbuch zurück zu biegen. Le Petit Prince. Aber seitdem Raphael herausgefunden hatte, dass man baobab mit Affenbrotbaum übersetzte, hatte er sich nicht mehr auf die eigentliche Handlung konzentrieren können. Affenbrotbaum. Wie absurd.
„Er ist ein bisschen eigensinnig. Ein bisschen stur." Und witzig. Und spontan. Und ein vielleicht auch ein bisschen einsam, dachte Raphael, sprach es aber nicht laut aus. „Oh, dein Vater war auch stur." Raphaels Mutter lachte auf, verstummte aber schlagartig, als sie merkte, dass es irgendwie unpassend war. Sie schwiegen wieder eine Zeit lang, Raphael dachte an die Filzpantoffeln seines Vaters und dass er selbst im Hochsommer nicht auf sie verzichten konnte. War das Sturheit oder war das Gewohnheit? Wurde nicht alles mit der Zeit weniger Wille und mehr eine Sache der alltäglichen Angewöhnung? Stetiges Schwinden scheinbarer Selbstbestimmung.
Raphaels Mutter neigte den Kopf zur Seite zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
„Ich möchte nicht, dass es dir so vorkommt, als sei es deine Schuld." Sie lächelte sanft. Immer wenn sie das tat wurden ihre Gesichtszüge weniger hart und ihre Stimme weicher. Wie Honig in warmer Milch. „Dass ich überfordert war und vielleicht auch ein Stück weit überrumpelt. Überrascht." Sie presste die Lippe zusammen und sah auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß.
„Ich hab ein paar dumme Sachen gedacht." Sie stockte. „Dass es irgendwie meine Schuld ist und warum du es dir so schwierig machen musst aber-" Sie streifte ihre Hände an dem festen Jeansstoff ihrer Hose ab. „Du warst doch gerade erst mein Kleiner." Sie blickte auf und sah Raphael tadelnd an, als er mit den Augen rollte. „Ehrlich gesagt, war ich war noch nie so wirklich klein, Ma."
Die Spur eines Lächelns ließ ihre Mundwinkel zittern. „Als du sieben warst, hat man dich mal für neun gehalten." „Und neun ist schon ziemlich klein", ergänzte Raphael den Satz, der sich vor Jahren mal auf einer unendlich langweiligen Familienfeier kurz nach seinem zehnten Geburtstag etabliert hatte.
„Übrigens, wegen der Sache mit deinem Auge-" Sie deutete vage auf Raphaels violette Augenschatten. „Wenn du möchtest, könnten wir mit den Eltern des Jungen reden." Raphael musste sich dazu überwinden, nicht breit zu grinsen. Seine Eltern im Gespräch mit Pauls Eltern wären sicherlich lustig geworden. „Schon okay, keine Sorge." Sie runzelte die Stirn. „Bist du dir sicher? Das wäre kein Problem." „Ja, ich bin mir sicher", bestätigte Raphael nachdrücklich. Ihr entwich ein erleichtertes Ausatmen. Die Radermachers waren ähnlich wie ihr Sohn nicht unbedingt dafür bekannt, diplomatisch zu sein.
„Aber vielen Dank, ich weiß es zu schätzen." „Auf keinen Fall, Ellie", sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Auch ihre Schultern hatten sich merklich entspannt, jetzt, wo sie das, was sie hattet sagen wollen endlich hinter ihr lag. „Sag einfach, wenn wir was tun können." „Mach ich."
Raphaels Mutter klopfte sich einmal auf die Knie und erhob sich dann langsam. Der Schreibtischstuhl rasselte abermals. Ihr Blick fiel auf die Schokolade mit dem Klebezettel und Ricas Brief darunter. „Es gibt gleich Abendbrot." Sie nickte Raphael zu, ihre Augen blieben jedoch auf dem Ende des Briefes haften. Elendige Neugierde.
„Das ist interessant, was Veronica schreibt", sagte sie, rümpfte aber gleichzeitig die Nase. „Hmh", antwortete Raphael und dachte an Uranos abgeschnittenes Geschlechtsteil aus dem Aphrodite entstanden war. „Hat sie sich das selbst ausgedacht?" Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe, wahrscheinlich war sie gerade an der Entmannungsszene angelangt. Raphael lachte trocken. „Ich hoffe nicht. Das wäre dann doch etwas gruselig." Seine Mutter schob die Schokolade beiseite um auch noch das Ende zu lesen. „Faszinierend, dass dieses Mädchen sich immer noch so dafür begeistert." Raphael nickte und versuchte über die dieses Mädchen Formulierung hinweg zu sehen. „Uranismus. Wie kreativ. Hast du das gelesen?", fragte sie und reichte den Brief zu Raphael zurück.
Uranos mag dir wahrscheinlich etwas gewalttätig vorkommen, aber stör dich daran am besten nicht weiter. Er hat seine Kinder immerhin nur in den Tartaros verbannt. Kronos und Zeus haben ihre teilweise gefressen. Aber das nur nebenbei. Denn der Sinn dieses Briefes ist eigentlich, dass er deine Lücken im Gedächtnis mit unnützem Wissen füllen soll. Früher hat man Homosexualität als Uranismus bezeichnet. Wegen des Geburtsmythos von Aphrodite. Es gibt nämlich noch einen anderen, aber da ist Aphrodite ein normales Kind. Nur eben in göttlich. Deshalb kannst du den vergessen. Der oben (von Hesiod) ist wie du siehst der coolere.
Du bist also ein Urning. Ich finde das hört sich süß an. Wenn man dabei nicht an Blutstropfen im Meer und brachiale Götterkämpfe denkt. Was natürlich richtiger wäre. Aber meine Griechen-Phase ist jetzt für beendet erklärt. Fürs erste zumindest (hoffentlich, bestimmt). Wie dem auch sei, hab noch eine schöne Woche, Raphael. Hast du Freitag schon was vor? Wenn nein, halt dir den Nachmittag frei! Ich hab nämlich eine Idee. Und heb dir diesen Zettel auf. Erstens, weil ich dir das nicht nochmal aufschreiben werde und zweitens, weil hinten drauf was zu Chemie erklärt wird. Ich glaub das kannst du gebrauchen (;
Raphael fuhr mit den Fingern über die Rückseite des Blattes. Rica hatte mit Kugelschreiber geschrieben. Sie schrieb immer mit Kugelschreibern, die sie in irgendwelchen Klassenzimmern fand und hatte in den letzten Jahren wahrscheinlich keinen Cent für Schreibutensilien ausgegeben. Die Worte hatten sich durchgedrückt und waren zu einem abstrakten, spiegelverkehrten Muster geworden.
„Natürlich hab ich das gelesen. Nur das über Chemie noch nicht", sagte Raphael und grinste. „Aber da ist nichts mehr zu retten." Seine Mutter gab einen Ton der Resignation von sich. „Na wenn es nur das ist." Sie schüttelte amüsiert den Kopf und stand auf.
„Wie bereits gesagt, Abendbrot. Gleich", wiederholte sie und legte die Hand auf die Klinke. „Ach Ma, eine Sache noch", hielt Raphael sie zurück. „Es gäbe tatsächlich noch etwas, was ich gebrauchen könnte." Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Ach ja, was denn?", fragte sie und konnte den Argwohn nicht vollkommen unterdrücken. „Du müsstest mir unterschreiben, dass ich am Freitag und am Montag beim Arzt war. Das wäre wirklich... perfekt."
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