48 - Paul
Die verdiente Ruhe des Wochenendes war so erholsam, dass die Zeit noch schneller als sonst verging. Raphael verbrachte den Samstag mit der gelegentlichen Beschäftigung mit seinen Hausaufgaben und kam sogar der Bitte seiner Eltern nach, den Backofen zu putzen und den Rasen zu mähen. Hauptsächlich natürlich, um die Schulaufgaben vor sich her zu schieben, bis keine Zeit mehr blieb, um sie vernünftig zu machen.
In den angrenzenden Gärten ratterten ebenfalls die Rasenmäher, es roch nach zerplatztem Chlorophyll und Tau, der unter der immer wärmer werdenden Sonne verdunstete. Raphael zerrte die alte Maschine aus dem Gartenraum. Sie war schwer, rostig und so laut, dass das Ministerium für Arbeitsschutz wahrscheinlich das Tragen von Kopfhörern vorschrieb.
Der Rasen war in den letzten Tagen so in die Höhe geschossen, dass man ihm beim Wachsen hätte zusehen können. Auch in den restlichen Ecken und Winkeln des Gartens sprossen Blumen und Pflanzen durchwirkt von Löwenzahn und anderem Unkraut explosionsartig aus dem Boden. Die Kletterrosen, die an der Hauswand empor wucherten, waren drauf und dran die Fensterrahmen in Angriff zu nehmen und die Feigenbüsche, die ursprünglich einmal neben der Terrasse gewachsen waren, ragten zunehmend in die Tischgruppe hinein.
Durch die Wohnzimmerfenster hindurch konnte Raphael sehen, wie seine Mutter hektisch hin und her rannte. Mal war sie in der Küche, nahm sich ein Glas Wasser und durchquerte trinkend das Wohnzimmer, dann war sie wieder oben im Schlafzimmer und schlug die Türen des Kleiderschrankes gegen die Fensterscheiben.
Raphael seufzte leise und ließ den Rasenmäher aufheulen. Ilse hatte anlässlich ihres Geburtstages die gesamte Frauengruppe der Nachbarschaft zum Brunch eingeladen und ohne dass Raphaels Mutter es ausgesprochen hatte wusste er, dass es seine Schuld war, dass sie so unruhig herum tigerte und minütlich ihr Outfit änderte.
Als Kindergärtnerin kannte Ilse alle Mütter sowie ihre Kinder aus ganz Hausen, Warnheim und Umgebung. Alles, was es an Gerüchten gab, würde an diesem Tag in Ilses Garten zusammen kommen. Als kleine Samen herbei getragen werden und von tausenden getuschelten Worten und immer größer werdenden Diskussionsrunden gewässert werden, bis hinzugedichtete Details Blüten trieben und Berichte von Augenzeugen tiefe Wurzeln in das allgemeine Gedächtnis schlugen.
Ächzend hievte Raphael den Rasenmäher um eine Pflanzinsel und konnte es nicht gänzlich verhindern, dass ein paar Blattenden einer Pflanze, dessen Namen Ricas Bruder sicherlich gewusst hätte, mit zerschreddert wurden.
Sich erste Schweißperlen aus der Stirn wischend, stellte Raphael den Rasenmäher ab und nahm den Auffangbeutel aus seiner Vorrichtung, um ihn zum Kompost zu bringen. Es war noch früh, trotzdem war es schon jetzt beinahe unerträglich warm. Abgeschnittene Grashalme stoben zu allen Seiten, als Raphael den Korb ausleerte. Auf dem Weg zurück zum Rasenmäher wagte er einen zweiten Blick durchs Wohnzimmerfenster. Sein Vater hatte einen Arm um die Schultern seiner Mutter gelegt und drückte sie behutsam an sich. Sie ließ es geschehen, nahm seine Hand ihre linke und strich mit der rechten den Stoff ihrer Bluse glatt.
Raphael beobachtete, wie sein Vater lächelte und seiner Frau einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn gab. Nach einem letzten Händedruck lösten sich ihre verschränkten Finger voneinander. Der Blick seiner Mutter wanderte nach draußen, schnell machte Raphael sich daran, am Verschluss des Benzintanks herum zu drehen. Nur um dann so beiläufig wie möglich ihrem Blick zu begegnen und die Hand zum Abschied zu heben.
Bei jedem Ziehen am Anlasser pochte die Frage in Raphaels Kopf auf, ob er es sich getraut hätte, sich in diese Höhle des Löwen zu begeben. Ob er in Wahrheit nicht noch viel heuchlerischer war als seine Mutter. Ob er sich nicht selbst vor seiner eigenen Wahrheit versteckte. Immer noch. Das Aufheulen des Rasenmähers pendelte sich ein, mutierte zu einer besorgniserregenden Regelmäßigkeit, die alle Fragen übertönte. Als Raphael während seiner nächsten Runde am Wohnzimmer vorbei kam, waren seine Eltern schon wieder verschwunden.
Seine Mutter kam erst am späten Nachmittag wieder, Raphael kniete vor dem Backofen und hörte die Haustüre zuschlagen. Sie kam in die Küche, mit ihr zusammen wehte ihm eine Mischung aus dem Geruch vieler älterer Frauen mit ehemals frischen Frühlingsparfümen entgegen. Porzellan klirrte auf den steinernen Esstisch, gemischte Kuchen unter Frischhaltefolie, unter deren Oberfläche bereits Wassertropfen perlten. Wie immer bei solchen Festen war viel zu viel übrig geblieben.
„Und, wie war's?", fragte Raphael und schabte gleichzeitig schwarz verkrustete Essensreste vom Boden des Ofens. Es knirschte und quietschte, als die Metallkante des Schabers über die beschichtete Oberfläche fuhr.
„Nett." Sie verzog das Gesicht und musterte seine Putzaktion mit zusammengekniffenen Augen. „Es waren viele da." Raphael nickte in den Backofen hinein. Niemand aus ganz Hausen hätte wahrhaftig geglaubt, lediglich eine ausgewählte Gruppe würde zu dem Brunch erscheinen. „Außerdem hätte Ilse sich wohl kaum ein besseres Wetter wünschen können", fuhr seine Mutter mit den offensichtlichen Tatsachen fort. „Mmh", machte Raphael und kratzte mit seinen Fingernägeln an einer besonders hartnäckigen Stelle herum. „Es ist noch Kuchen da. Nimm dir gleich etwas, es ist mehr als genug." „Sehr gut, ja. Danke." Er drehte kurz den Kopf, wandte sich dann aber wieder dem Backofen zu.
„Sag mal, Ellie", bemerkte seine Mutter nach einigen Minuten sorgfältiger Beobachtung, „hast du das vorher eingeweicht? Mit dem Reiniger?" Raphael zog den Kopf aus der Backofenluke. Er räusperte sich und zog die Nase kraus. Seine Mutter schüttelte amüsiert den Kopf. „Und ich dachte schon, du würdest das vielleicht besser hinbekommen, als dein Vater."
Sie bedeutete Raphael mit einer Handbewegung beiseite zu treten und nahm eine Sprühflasche aus den oberen Küchenschränken. Die schwarzen Überbleibsel verschwanden unter einer weißen Schaumdecke, dann schloss sie die Backofentür und stellte zwei Teller auf den Tisch. „Kommt dein Vater auch noch? Wir sollten den Kuchen nicht trocken werden lassen."
Raphael fragte kein zweites Mal, wie der Nachbarschaftsbrunch gewesen war, beim anschließenden Kuchenessen, das ins Abendessen überging, sprachen sie über Ilses Stiefsohn, über die Ausrede von Ricas Eltern, mal wieder nicht zu erscheinen und wie seltsam das doch wäre, dass sie keine Lust auf dieses gemütliche Brunchen hatten.
Glücklicherweise leerte sich im selben Moment die Teekanne, sodass Raphael aufstehen konnte um sie nachzufüllen und schweigend in sich hinein zu schmunzeln. Nach all den Jahren und ständig abgelehnten Einladungen wirkte es paradox, dass all die redseligen und auf Spekulationen spezialisierten Nachbarn es nicht hinbekommen hatten, dieses Rätsel zu lösen.
Am Sonntag wurde es noch heißer als am Samstag, die Luft flimmerte über dem Asphalt und der Sommer kam mit geballten Kräften zurück. Raphael begann mit seinen Hausaufgaben für Kunst und hörte zufrieden damit auf, als sein Vater ihm ausrichtete, dass soeben eine E-Mail von Frau Dietrich gekommen war, dass die erste Stunde morgen leider ausfallen würde. Offiziell wegen einer heftigen Sommergrippe, wahrscheinlicher war jedoch, dass sie einfach keine Lust auf die stickige Luft im Werkraum so kurz unter dem Dach hatte. Ihm konnte das Recht sein, eine Stunde mehr Schlaf am Morgen vertrieb schließlich Kummer und Sorgen. Und verschob die Hausaufgaben auf irgendeine andere ungünstige Abend oder Nachtstunde.
Schon auf dem morgendlichen Weg zur Bushaltestelle stach Raphael die Sonne in den Nacken. Er war früh dran und ließ sich Zeit, wechselte die Straßenseite regelmäßig und ging von Schatten zu Schatten. Er hatte sich extra eine große Wasserflasche eingepackt und auch wenn sie aus Glas war und wie ein Wackerstein in seinem Rucksack lag, war es die richtige Entscheidung gewesen sie mitzunehmen.
An der größten und einzigen Bushaltestelle Hausens angelangt, die sogar ein eigenes Wartehäuschen samt eines halben und einen ganzen Metallsitzes sowie einen aktuellen Fahrplan hinter Plexiglas besaß, stellte Raphael seinen Rucksack ab und zog den Reißverschluss auf um die Flasche heraus zu holen. Bereits auf dem kurzen Weg hatte sie es geschafft, mit ihrem Gewicht das Englischbuch unter sich zu begraben. Halbherzig schlug Raphael die Eselsohren um und versuchte die Seiten zu glätten, als sich ein knatterndes Motorengeräusch näherte. In seiner Lautstärke hätte es ohne Probleme dem Rasenmäher Konkurrenz gemacht.
Raphael ließ das Englischbuch zurück gleiten und schraubte den Drehverschluss der Wasserflasche auf. Er erhob sich, die Flasche an den Lippen und sah, dass das Motorengeräusch zu einem sich nähernden Mofa gehörte. Der Fahrer trug einen schwarzen Helm und näherte sich definitiv schneller als mit 25 Kilometern pro Stunde.
Ein paar Monate lang hatte Raphael auch mal mit dem Gedanken gespielt mit einem eigenen Mofa endlich unabhängig von den örtlichen Bussen zu werden. Thomy hatte sich sogar schon für ihn nach einem geeigneten Modell umgesehen und versprochen, es fit zu machen. Was in seinem Fall ungefähr so viel bedeutete wie die Höchstgeschwindigkeit zu optimieren und geringfügig nach oben zu korrigieren. Letztendlich war sein Plan aber an der Zustimmung seiner Eltern gescheitert, die von der Idee, ihren Sohn die Kurvenstrecke runter nach Warnheim fahren zu lassen, nicht begeistert gewesen waren.
Schon auf dem Fahrrad konnte es einem durch die Steigung gelingen, von dem Blitzer am Ende der Kurvenstrecke erwischt zu werden. Seine Kinder Schauergeschichten über Unfälle und Knochenbrüche zu erzählen, gehörte fast schon zum guten Ton dazu und all diejenigen, die über Umwege und kleinere Bestechungen ihr Blitzerfoto auf dem Fahrrad hatten erwerben können, waren in Warnheim und Umgebung zu halben Göttern empor gehoben worden.
Erst als er den Flaschenhals vom Mund nahm, bemerkte Raphael, dass das Mofa nur deswegen so laut war, weil es eben nicht nur das Mofa war. Es waren zwei, die über die Hügelkuppe hinweg auf die Bushaltestelle zu rollten. Raphael wischte sich mit dem Handrücken ein paar Wassertropfen vom Kinn und bückte sich, um die Flasche wieder in seinem Rucksack zu verstauen.
Die Motoren der beiden Mofas gaben noch ein letztes heiseres Brummen von sich, dann blieben sie am Straßenrand stehen. Rückblickend betrachtet hätte Raphael da schon klar werden müssen, dass das kein gutes Zeichen sein konnte.
„Na was für ein Zufall."
Der Fahrer des ersten Mofas zog sich seinen schwarzen Helm vom Kopf, darunter klebten ihm seine Haare schweißnass an der Stirn. Raphael hatte die vom Helm gedämpfte Stimme nicht erkannt, aber der breite Unterkiefer und die kleinen, eng zueinander liegenden Augen gehörten einwandfrei zu dem mickrigen Kopf von Vin, der auf viel zu breiten Schultern lag. Und wo Vin war, konnte man sich einer Sache sicher sein: Paul war meistens nur eine Armlänge entfernt.
Im selben Moment in dem Raphael den Reißverschluss seines Rucksackes zuzog, landete ein zerkratzter Helm auf den Pflastersteine neben ihm. „Und ich hab mich schon gefragt, ob du dich überhaupt noch aus dem Haus traust." Paul stieg schwerfällig von seinem Mofa, das von nahem auch ein Motorrad sein konnte. Oder zumindest irgendetwas zwischen Fahrrad und Auto. „Es ist gutes Wetter", Raphael hob zögernd den Arm, ließ ihn aber bereits auf halber Höhe schon wieder sinken. „Da muss man raus gehen. Vitamin D und so Zeug. Ist gesünder."
Paul tat so, als hätte er nichts gehört. Stattdessen kickte er seinen eigenen Helm beiseite und spuckte vor Raphael auf den Boden. „Lustig, nicht wahr?" Paul drehte sich zu Vin um, der gespannt zwischen Raphael und Paul hin und her blickte. „Da hat er doch wirklich gedacht, er würde mit allem davon kommen." Vins eng beieinander liegenden Schweinsaugen wurden noch winziger, als er lachte.
„Aber man kommt nicht mit allem einfach so davon." Paul machte ein paar Schritte auf Raphael zu, er ging unwillkürlich rückwärts. „Das kann Vin dir mit Sicherheit bestätigen." Pauls Stimme wurde drängender und schärfer, Vin hörte auf zu lachen sondern fasste sich an den Unterarm.
„Mir scheint es, als hätte deine Mutter vergessen, dir Manieren bei zu bringen, klein Raphael." Paul versenkte die Hände in den Taschen seiner Jeans. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Zähne und grinste. „Wohl nicht das einzige, worin sie gescheitert ist", sagte er spöttisch und trat gegen Raphaels Rucksack. Er kippte um und landete in Pauls Spucke, die trotz der brennenden Sonne noch nicht verdunstet war. Raphael verzog das Gesicht und presste die Kiefer auf einander.
Der Bus würde kommen. Der Bus würde kommen und Pauls und Vins Mofas würde ihm so sehr im Weg stehen, dass der Fahrer sie vertreiben würde. Irgendwie. Oder auch nicht. Denn bis der Bus kommen würde, wäre Pauls Spucke an seinem Rucksack wahrscheinlich schon getrocknet. Er verfluchte sich selbst dafür, ausgerechnet heute so früh dran gewesen zu sein. An allen anderen Tagen der Woche wäre er Vin und Paul nie begegnet, ausgerechnet-
„Muss richtig geil gewesen sein für dich." Pauls Stimme, die sich anhörte wie das Kratzen von Schlüsseln über Autolack, holte Raphael zurück unter das Dach der Bushaltestelle, unter dem sich die stickig warme Luft staute und ihm die Luft abschnürte. Seine Finger schwitzen, er versuchte sie an seiner Hose abzuwischen. Sie zitterten, er verkrampfte und bohrte sich die Nägel in die Haut seiner Handballen.
„So im Sportunterricht in den Umkleiden." Paul lachte wieder und ballte gleichzeitig die Hände zu Fäusten. Vin kletterte unterdessen von seinem Mofa und kam breitschultrig auf sie zu. „Da hätten wir uns auch gerne bei den Mädchen umgezogen, was? Immer was nettes zum Anschauen." Vin stieß Raphael mit der Faust gegen den Oberarm. „Aber Brüste sind ja nicht so dein Ding." Paul schnaubte verächtlich. „Außer die meiner Freundin, die hättest du noch genommen, kleine Schwuchtel."
Die Schwere des Sommers lastete auf ihnen und verpuffte, als Paul Raphaels Rucksack über das Pflaster bis hin auf die Straße kickte. Einen kurzen Augenblick lang hoffte Raphael, Paul habe sich an der Glasflasche den Fuß gebrochen, dachte an sein Englischbuch und daran, dass er die Flasche hätte austrinken sollen, um eine Überwässerung seiner Schulsachen zu verhindern. Falls das Glas überhaupt zerbrochen war, denn es konnte genauso gut sein, dass-
Ein Faustschlag traf ihn in der Magengrube. „Das war für den Kirmesabend", spuckte Paul ihm entgegen, schwer atmend, das Gesicht gerötet. Raphael krümmte sich keuchend zusammen. Er würgte und hustete, stolperte ein paar Schritte zurück und spürte die Rückwand des Bushaltestellenhäuschens in seinem Rücken. Vin stand rechts von ihm, Paul links.
„Das mit Celine war so nicht meine Absicht. Ehrlich." Raphael atmete vorsichtig ein, Paul hatte ihn kurz unterhalb der Rippen getroffen. „Nicht deine Absicht?", wiederholte Vin und sein Nacken knackte, als er den Kopf zur Seite neigte. „Ja, nicht meine Absicht", bestätigte Raphael langsam und senkte beruhigend seine Stimme. „Und du", er wandte sich an Paul, „kannst ihr das auch gerne ausrichten. Falls du Cel-"
„Als ob ich ihr auch nur irgendetwas von dir ausrichten würde", fiel Paul ihm unwirsch ins Wort. „Das kannst du dir gleich mit in den Arsch schieben." Vin lachte über seinen Witz, bis Paul ihn mit einem Blick zum Verstummen brachte. „Celine sitzt zu Hause und heult wegen dir." Er packte Raphael an der Schultern und presste ihn gegen die Wand. „Weil ihr toller Raphael anscheinend doch ein Wichser ist", blaffte er und während er sprach sah Raphael winzig kleine Spucketropfen aus seinen Mundwinkeln fliegen.
Raphael wand sich unter Pauls Griff, wollte ihn von sich wegschieben. „Fass mich nicht an", presste Paul hervor, die Lippen zu einem farblosen Strich zusammengezogen. Raphael ließ die Hände sinken. „Ganz ruhig, klar?", murmelte er leise und Paul ließ ihn schlagartig los. Quälend langsam vergehende Sekunden taxierten sie einander.
Raphael meinte, den Widerstand in Pauls Augen bröckeln zu sehen, glaubte fast, er würde einsehen, was für einem Irrsinn er gerade nachging. In dem Moment, in dem er die angestaute Luft entweichen ließ, verwandelte sich seine Einsicht erneut in blanke Wut. Raphael sah, wie Paul ausholte, er wollte ausweichen und knallte mit dem Kopf gegen die Plexiglasscheibe des Fahrplans. Von der Wucht des Schlages blieb ihm die Luft weg. Nach Atem ringend stützte er sich mit einer Hand nach hinten hin ab und sank langsam neben den Sitzen des Wartehäuschens auf den Boden. Dort, wo Raphael einmal Organe vermutet hatte, knäulte sich sein Bauch zu einem schmerzenden Wulst aus Eingeweiden zusammen.
Er versuchte erneut wieder auf die Beine zu kommen und beobachtete nur aus den Augenwinkeln, wie sich Vin ihm näherte. Ein Tritt in die Kniekehlen und er sackte zu Boden. Mit der nackten Haut rutschte Raphael über die Pflastersteine und schürfte sich die Knie auf. „Ich hab euch nichts getan, verdammt", fluchte er, hielt aber noch im selben Moment schützend die Arme vor den Oberkörper. Pauls Tritte trafen erneut, Raphael rammte sich selbst die geballte Hand von unten gegen die Nase.
„Nichts getan? Wenn man am Boden liegt ist es leicht, das zu behaupten." Raphael setzte sich auf, zog sich an einem der metallenen Stühle hoch und glaubte, Sterne zu sehen. „Ich will nichts von deiner Freundin, okay", brachte er mit erstickter Stimme hervor. „Ich will nichts von deiner Freundin", äffte Vin ihn nach und trat auf Raphaels Hand, die immer noch die Metallstreben umklammert hielt.
Raphael verlor das Gleichgewicht, einen Moment lang war oben unten und unten oben, nur die Schmerzen brachten ihn zurück in seinen Körper. Auf seiner Oberlippe klebte etwas verdächtig feuchtes, Blut oder Schweiß, aber wen interessierte das schon, Raphael hustete, hatte das Gefühl, sich übergeben zu wollen. Pauls Turnschuhe waren immer noch da, gleich würden sie ein weiteres Mal ihren Weg in seine Magengrube finden. Raphael sah, wie sie zuckten, wie sie sich auf ihn zubewegten-
„Einen Schritt weiter und ich mache Wein aus deinem Blut."
Die Turnschuhe verharrten. Raphael drehte den Kopf und stöhnte auf, als der Schmerz ihn bis in die Zehenspitzen entflammte. Aber es war nicht mehr notwendig sich umzudrehen, um zu sehen, wer es war, der Paul davon abhielt, sein Gesicht zu Matsch zu treten.
„Weißt du, was die Griechen mit ihren Kindern gemacht haben?"
Raphael ließ den Kopf wieder sinken und wenn ihm nicht jede Bewegung wehgetan hätte, hätte er wohl oder übel grinsen müssen. Die Turnschuhe bewegten sich zögerlich von ihm weg. „Mir ist scheiß egal was die Griechen mit ihren Kindern gemacht haben. Kümmere dich um deine eigenen Probleme und verpiss dich." Als Raphael sich sicher sein konnte, dass Vin und Paul gerade nicht auf ihn achteten, rollte er sich vom Rücken zurück auf die Seite.
„Dann möchtest du also wissen, was die Griechen mit ihren Feinden gemacht haben?"
Paul schwieg und auch Vin wirkte plötzlich verstummt. Raphael zog sich ein Steinchen aus der blutenden Wunde aus seinem Knie. In Lissas Wunde im Gesicht hatten die Reste eines Zigarettenstummels geklebt. Immerhin das war ihm erspart geblieben. „Na los, worauf wartet ihr noch? Dass ihr den Scaphismus testen dürft? Glaubt mir, das ist nicht zu empfehlen." Pauls Turnschuhe verschwanden aus seinem Blickfeld. „Ach, und eines noch. Stellt den Rucksack bitte wieder vernünftig hin. Raphael ihn in diesem Zustand aufheben zu lassen, wäre doch eine Zumutung."
Neue Sportschuhe bewegten sich in den Radius aus Pflastersteinen um Raphael herum. „In diesem Zustand", nuschelte Raphael leise und merkte, wie sich an seinem Mundwinkel eine ekelerregende Mischung aus Blut und Spucke bildete. „Vielen Dank auch, Rica." Er hob vorsichtig den Kopf, Rica entblößte das Lächeln einer stolzen Löwin. Mit federnden Schritten ging sie auf Raphael zu und hielt ihm eine Hand hin.
„Steh auf langer Lulatsch. Ich glaube, wir haben noch einen abgelaufenen Verbandskasten zuhause." „Klingt vertrauenswürdig", röchelte Raphael und ließ sich von ihr hochziehen. Die Straße verschwamm vor seinen Augen, Paul und Vin hatten sich ihre Helme geschnappt, Vin versuchte bereits in beträchtlichem Tempo sein Mofa zum Laufen zu bringen. Paul warf Raphael einen finsteren Blick zu.
Noch bevor er etwas sagen konnte, kam Rica ihm zuvor. „Lass stecken", sagte sie nur. „Eine Entschuldigung deinerseits würde jetzt eher unglaubwürdig wirken." Pauls Augenbrauen zogen sich zu einem wütenden Strich zusammen. „Und wenn du etwas Derartiges ein zweites Mal auch nur zu denken vermagst-" Rica ging auf ihn zu und schnipste, sodass Paul unwillkürlich zusammen zuckte, „-würde ich dir zur Vorbereitung einmal empfehlen antike Foltermethoden zu googeln."
Sie starrte Paul einige Sekunden lang an, aber Raphael hatte Rica noch nie ein Blickduell verlieren sehen. „Daniel hat Recht, du hast sie doch nicht mehr alle", sagte Paul zum Abschied, wirkte mit seiner Beleidigung aber ungefähr so harmlos wie ein zahnloses Kaninchen. Der Motor seiner Maschine heulte im Gegenzug dazu umso lauter auf und ließ eine dunkle Wolke von stinkenden Abgasen zurück, die aber schon wenige Sekunden später genauso wie die Anwesenheit von Paul und Vin der Vergangenheit angehörte.
„Was genau haben die Griechen mit ihren Kindern gemacht?", fragte Raphael interessiert und versuchte den Geschmack von Blut in seinem Mund zu ignorieren. Rica zuckte mit den Schultern. „Geliebt und aufgezogen schätze ich mal." Sie zog die Nase kraus und zwirbelte sich eine ihrer ausgewaschenen lila Haarsträhnen um den Zeigefinger. „Aber wenn du möchtest, kann ich dir etwas über ihre Foltermethoden erklären."
Nur mal so zur mentalen Vorbereitung (auch für mich, ich sehe meine innere Krise schon kommen), wir neigen uns hier langsam dem Ende. Genaue Kapitelanzahl weiß ich nicht, aber so viel ist nicht mehr geplant...
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