46 - Jonathan
„Was hast du erwartet?", fragte Jonathan und reichte Raphael einen Müsliriegel. Ohne Zusatz künstlicher Aromen, dafür mit recycelter Verpackung. „Das hier ist Warnheim. Gerüchte verbreiten sich schneller als Magen-Darm." Raphael packte den Müsliriegel aus, die verklebten Körner vermischt mit einigen Nusstückchen, sahen selbst aus wie frisch aus der Toilette.
„Schmeckt besser als es aussieht", bemerkte Jonathan mit einem tadelnden Blick. „Ich gebe dir etwas von meinem Essen ab, das ist eine Ehre." Raphael lächelte halbherzig und überwand sich zu einem Bissen. „Sehr schön", kommentierte Jonathan, so als füttere er gerade ein Kleinkind. „Mhm", gab Raphael von sich, zu mehr war er nicht im Stande. Der Müsliriegel musste eine Art biologisch abbaubaren Superkleber enthalten, der seine Zähne zusammen pappen ließ.
Sie hatten das Schulgelände verlassen und schlenderten in Richtung Bushaltestelle. Jonathan sah ziemlich zufrieden aus, er grinste unentwegt und trotz seiner kurzen Beine war er Raphael einige Schritte voraus.
Er kam als erstes am verrosteten Bushaltestellenschild zum Stehen. Prüfend besah er den Fahrplan und nickte. Danach setzte er sich wie selbstverständlich auf den Bürgersteig und sah Raphael auffordernd an. Er kam seiner stummen Bitte perplex nach, immer noch vollkommen von Jonathans Wandlung überrumpelt. Heute hatte er schon so viel gesagt wie in der ganzen letzten Woche.
„Was genau war das da gerade?", sagte Raphael, nachdem er die zähe Masse des Müsliriegels runtergeschluckt hatte. Trotzdem wollte sich das Gefühl vom dicken Kloß im Hals nicht auflösen. „Das war die Jonathan'sche Kombinierungsgabe", antwortete er. „Deren Existenz erst heute entdeckt wurde." Raphael hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Stattdessen stellte seinen Rucksack ab und kramte nach seiner Wasserflasche. Dann ließ er sich neben Jonathan auf den Bürgersteig sinken und streckte seine Beine über die Bordsteinkante hinweg auf die Straße.
Weiter ging sein Blick nicht. Nur bis zur Straße, keinen Meter weiter. Nicht zu Frau Niederbach und schon gar nicht zu Lissas Haus. Es genügte zu wissen, dass es da war. Dass Matthi da saß und glücklich war, während er hier von Jonathan die Welt erklärt bekommen musste, weil ihm alles über den Kopf wuchs.
Das Wasser rann seine Kehle hinunter, es war lauwarm geworden und ein Großteil der Kohlensäure hatte sich verflüchtigt. „Ich wohne im Hasewinkel. Und die ersten zwei Wochen jedes Monats fahren meine Eltern, die beiden letzten Wochen fahren die Finkens. Fahrgemeinschaft. Ist praktischer." Raphael nickte langsam. „Finkens, das ist-" „Joshua. Joshi", unterbrach Jonathan ihn. „Obwohl ich jetzt nur noch mit seinem kleinen Bruder zusammen fahre. Finn. Siebte Klasse, wenn ich mich nicht irre. Vielleicht war er letztes Jahr aber auch schon in der siebten. Achte ist also auch möglich."
Jonathan zupfte an seinem rechten Ohrläppchen, das tat er manchmal, wenn er sich an etwas erinnern wollte, dass er schon vergessen hatte. „Der ist in der siebten. Gestern hat uns aber Joshi hingefahren. Er war ziemlich schlecht gelaunt weil er dafür früh aufstehen musste."
Jonathan hielt inne, das Ohrläppchen noch zwischen Daumen und Zeigefinger. „Als erstes hat er gar nicht gesprochen und hinterher gefragt, ob ich wüsste, mit wem du zusammen bist." Raphael starrte auf den Asphalt und sagte nichts. Ein Auto fuhr vorbei und wirbelte Staub auf. „Ich hatte natürlich keine Ahnung. Aber Juna hatte ja mal was von dieser Celine erzählt. Also hab ich auf sie getippt." Raphael löste seinen Blick von der Straße und blinzelte. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und rieb sich mit den Handrücken über seine Schläfen.
„He, Vogel-Strauß. Nicht den Kopf in den Sand stecken!", fuhr Jonathan ihn an. Raphael stöhnte auf und raufte sich die Haare. Nichts wäre ihm gerade lieber als eine riesige Wüste ohne Menschen, in der er alles der letzten Wochen einfach so im Treibsand untergehen lassen könnte.
„Joshi hat danach nichts mehr gesagt, nur Finn meinte sowas wie Er war's also schon mal nicht."
Jonathan stockte und scharrte mit seinen Füßen über die Pflastersteine. Raphael sah auf und beging damit den Fehler, den er nicht hatte begehen wollen. Lissas Haus, das immer irgendwie Lissas Haus geblieben und nicht zu Matthis geworden war, sah aus wie immer. Hinter dem Gartenzaun erstreckte sich weiß blühender Bauernjasmin, der Raphael den Blick auf die Haustür versperrte. Das Gartentörchen stand offen und quietschte, wenn Windböen es in Richtung Straße drückten. Hinter dem Küchenfenster bewegte sich etwas. Jemand.
Matthi.
Er sah aus wie immer. Sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn, er hatte den Kopf gesenkt und die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. Von seiner Umwelt schien er nichts mit zu bekommen, geschweige denn davon, dass Raphael nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Bürgersteig saß. Es kam Raphael geradezu voyeuristisch vor, ihn so zu beobachten. Gleichzeitig hätte er Stunden auf dem Gehweg vor seiner Haustür verbringen können. Um Matthi dabei zu zusehen, wie er ruhig in der Küche herumwerkelte, mit unerschütterlicher Geduld an etwas arbeitete, von dem Raphael keine Ahnung hatte.
Es war schon nach Mittag, vielleicht backte er etwas. So wie damals den Marmorkuchen, der außen zwar verbrannt, im Innern aber so intensiv und saftig geschmeckt hatte wie kein anderer, den Raphael jemals gegessen hatte.
„So richtig verstanden habe ich es erst eben. Durch Juna." Raphael zuckte zusammen, als Jonathan weitersprach. Einen Moment lang hatte er vergessen, dass er auch noch da war.
Im Haus auf der anderen Seite der Straße schien irgendetwas von der Arbeitsplatte gefallen zu sein, denn einen Augenblick lang verschwand Matthis Kopf. Als er wieder auftauchte, bemerkte er ihn. Raphaels Herz machte einen Satz, er wollte wegsehen, weglaufen und Matthi nie wieder sehen während er im selben Atemzug hoffte, er würde das Fenster öffnen und herausrufen, dass Raphael gleich einen Marmorkuchen probieren konnte, der außen nicht voller heterozyklischer Amine war.
In Wahrheit aber passiere nichts von beidem. Matthi stand dort, auf der anderen Seite der Straße hinter verschlossenen Fenstern und Raphael blieb regungslos auf dem Gehweg sitzen. Vielleicht wird es mir auch leidtun. Das hatte Matthi gesagt, bevor er ihn geküsst hatte. Bevor einen Moment lang alles gut gewesen war. Was hatte er damit gemeint; Was tat ihm leid, ihn zu küssen oder ihn zu verraten? Im schlimmsten Fall beides, im besten -
Matthi hielt seinen Blick fest, Raphael hatte nie jemanden kennengelernt, der ihn allein mit einem beiläufigen Blinzeln außer Gefecht setzen konnte. Matthis Augen lagen im Schatten, das Blau seiner Iris war nur zu erahnen. Aber Raphael wusste, wie seine Augen von Nahem aussahen, wie die verschiedenen Nuancen von blau zusammenflossen und leuchteten, wenn er glücklich war. Oder sich verdunkelten, wie der Gewitterhimmel am See, wenn er verärgert war. Matthi schaffte es immer noch, Raphaels Verbindung zwischen Herz und Hirn zu kappen. Er ließ ihn mit Leichtigkeit fühlen, was er jahrelang nie gefühlt hatte.
„Erde an Vogel-Strauß, jemand zu Hause?"
Raphael nahm Jonathan nur am Rande wahr. Matthi sah ihn immer noch an. Es war kein unbewegliches Starren, inhaltsleer. Stattdessen lag in seinem Blick viel mehr, als Raphael erfassen konnte.
„Du hast mir gar nicht zugehört, hab ich Recht?"
Jonathan seufzte, Raphael presste die Lippen zusammen. Matthis Mund stand ein wenig auf. Nicht so, als dass man seine Zähne hätte sehen können. Eher so, als wäre er gerade Inbegriff etwas zu sagen und jemand hätte die Zeit gestoppt. Aber die Zeit lief weiter und würde nicht für sie beide stehen bleiben. Raphael löste sich von seinem Anblick und sah Jonathan zum ersten Mal seit dem sie hier saßen wirklich an.
„Nein, habe ich nicht. Tut mir leid", sagte er in Jonathans Richtung. „Dann hör mir jetzt zu. Das, was ich sage ist normalerweise immer wichtig." Raphael schmunzelte. „Natürlich ist es das. Besonders, wenn es um Chemie und Mathe geht. Ungeheuer wichtig." Jonathan rümpfte die Nase und schob den Unterkiefer vor. „Wie du heute gesehen hast, kann ich auch noch andere Dinge." „Auch wahr. Also schieß los."
Jonathan nickte bedächtig und faltete die Hände in seinem Schoß. „Erstens: Dir braucht nichts leid zu tun." Raphael holte Luft und setzte an, um ihm von dem Handy zu erzählen. „Du weißt nicht alles, Juna-" Jonathan legte den Kopf schief. „Wolltest du mir nicht zuhören?", sagte er mit einem strengen Blick in seine Richtung. Raphael räusperte sich und seufzte. „Ich bin absolut leise", fügte er sich seinem Schicksal du schwieg.
„Punkt eins besitzt noch zwei Unterpunkte. Punkt eins Punkt eins: Dir braucht nichts leid zu tun, weil ich dich kenne und du es noch nicht mal über dich bringst mir zu sagen, dass die Müsliriegel ekelhaft schmecken. Punkt eins Punkt zwei: Dir braucht nichts leid zu tun, weil du jetzt nichts mehr daran ändern kannst. Es ist passiert, fertig aus. Jeder hat seine Entscheidungen getroffen. Und sich jetzt in Vorwürfen zu ertränken ergibt keinen Sinn." Raphael pulte etwas Moos aus einer Pflastersteinritze.
„Kommen wir jetzt zu Punkt zwei. Als Joshi Finn und mich rausgeworfen hat, hat er mir noch eine Warnung mitgegeben. Für dich." Raphael hob den Kopf, wandte sich dann aber wieder dem Moos zu. Jonathan fuhr fort. „Joshi hatte die ganze Geschichte von einem gewissen Justus, der sie zusammen mit seiner Schwester von seiner Mutter bekommen hat. Korrigiere mich, wenn ich es falsch im Kopf habe, aber Justus Schwester ist Celine." Raphael nickte müde. Wenn das die Richtung war, in die sich alles entwickelte, sollte er schnellst möglich den Rückwärtsgang einlegen. Aber Jonathan fuhr unbeirrt fort.
„Sehr gut. Celine gleich Schwester von Justus. Wo wir schon fast bei der Warnung wären. Denn sie war nicht so begeistert, wie du dir sicher denken kannst. Ihr Bruder noch weniger. Trotzdem bezog sich die Warnung auf einen weiteren Typen." Raphael kratzte sich etwas Erde unter den Fingernägeln hervor, Jonathan sah ihm pikiert dabei zu. „Paul. Sagt dir der Name etwas?"
Raphael atmete geräuschvoll aus, während er versuchte Jonathans Redeschwall in seinem Kopf zu ordnen. Wenn Celine und Justus von ihm und Matthi durch ihre Mutter erfahren hatten, musste ihre Mutter das irgendwo aufgeschnappt haben. Was wiederrum ein Zeichen dafür war, dass er bald allgemeinen Bekanntheitsgrad erreichen würde. Und Paul konnte er dabei noch weniger gebrauchen.
„Paul ist Celines Exfreund. Zumindest irgendwie Ex. Keine Ahnung, vielleicht inzwischen auch nicht mehr. Wer weiß." Er dachte an das letzte Mal zurück, als er zu Celine gegangen war. Auf dem Hinweg war ihm Marina begegnet. Und hinterher Paul. Schon damals hatte er ihm eine Warnung mitgegeben.
Jonathans Stirn runzelte sich, er legte die Hände wie zu einem Gebet zusammen und führte sie zu seinen Lippen. So verharrte er einige Sekunden lang. Raphael schwieg und versuchte möglichst leise zu atmen. Das war Jonathans Denkerpose. Wenn er daraus erwachte hatte er entweder eine Lösung oder Raphael würde sich wirklich eine geeignete Wüste suchen müssen, um den Kopf in den Sand stecken zu können.
„Das passt nicht", stellte Jonathan schließlich fest. „Paul müsste glücklich sein, dich los zu sein." Er kniff weiterhin grübelnd die Augen zusammen. Raphael nickte nur. Der Gedanke war ihm tatsächlich auch schon gekommen. Dann wagte einen verstohlenen Blick hinüber zum Küchenfenster, aber Matthi war verschwunden. „Das passt nicht, außer natürlich Paul ist selber schwul und jetzt ist er sauer weil der Typ, der dich geküsst hat kein Interesse an ihm hat."
Raphael starrte Jonathan einige Sekunden lang an, dann lachte er. „Unwahrscheinlich?" Jonathan verzog gekränkt das Gesicht. „Ziemlich unwahrscheinlich", bekräftigte Raphael grinsend.
„Das würde aber ziemlich gut passend. Stell dir vor, vielleicht hat Paul sein Interesse für Celine nur vorgetäuscht um an ihren Bruder heran zu kommen. Ist der nicht Schauspieler oder so?" „Model", entgegnete Raphael, „aber du warst nah dran. In einem Film hat er auch schon mal mitgespielt." Triumphierend schossen Jonathans Mundwinkel in die Höhe. „Model. Na also! Was sag ich denn. Da hat der liebe Paul sicher ein Auge auf ihn geworfen."
„Ach ja? Aber wenn Paul ein Auge auf Justus geworfen hat, wie soll er dann gleichzeitig Interesse an dem Typen haben, den ich geküsst habe?", warf Raphael kritisch ein. Jonathan überlegte kurz, dann schnipste er wie Wickie bei einem genialen Einfall vor Raphaels Nase herum. „Ich hab's", stieß er euphorisch aus. „Paul ist polyamourös. Glasklar."
Raphael schüttelte den Kopf. „Oh, Mann." Er verdrehte die Augen, konnte aber nicht umhin, die wirren Hypothesen auf verschrobene Art und Weise lustig zu finden. „Wenn einer nicht polyamourös ist, dann Paul. Das kannst du mir glauben." Jonathan zuckte mit den Achseln. „Steht das den Menschen neuerdings auf die Stirn geschrieben. Frag ihn doch mal, ich schätze, das würde lustig werden."
„Sehr lustig. Besonders, weil der Sinn von Joshis Warnung bestimmt war, ihn zu fragen ob er polyamourös ist." Jonathan lachte, dann stieß er Raphael seinen Ellenbogen zwischen die Rippen. „Das wird schon", sagte er und nickte ihm aufmunternd zu. Eine kleine Pause entstand. „Generell meine ich", fügte Jonathan noch hinzu.
„Danke", erwiderte Raphael und sah auf seine Uhr. Der Bus würde gleich kommen.
„Stets zu Diensten." Jonathan schnalze mit der Zunge. „Auch wenn ich eigentlich nicht vorhabe, mir in Zukunft so oft den Mund fusselig zu reden." Er stand auf und klopfte sich Staub von der Hose. „Wir sehen uns morgen." Raphael erhob sich ebenfalls und schulterte seinen Rucksack. Er brauchte sich nicht umzudrehen, das Schnaufen und Ächzen des nahenden Busses war unverkennbar. „Ja, bis morgen. Ich war noch nie so froh, Mathe geschwänzt zu haben." Jonathan rümpfte die Nase. „Das kann ich mir gut vorstellen. Arbeite das nach, Raphael. Es ist nicht gut, dass ich dich dazu überredet habe." Er sah auf die Pflastersteine zu ihren Füßen. Einen Augenblick lang kaufte Raphael ihm die reumütige Miene ab. Dann allerdings verriet ihn sein breites Grinsen. „Ich hab' noch nie geschwänzt. War aber ganz in Ordnung fürs erste Mal."
Der Bus bremste, kam nähe rund näher, dann, kurz bevor er anhielt machte Jonathan einen Schritt auf ihn zu und klopfte Raphael auf die Schulter. Die Türen des Buses öffneten sich, Jonathan hob eine Hand zum Abschied. „Fand ich auch", rief Raphael, dann nickte er dem altbekannten Busfahrergesicht zu und stieg ein.
Durch das breite Fensterband im Innern des Busses sah er Lissas Fenster. Die Gardinen hinter der Scheibe schaukelten sanft, so als hätte sie gerade erst jemand zum Tanzen gebracht.
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