45 - Jonathan

           

„Wochenende okay?"

Jonathan saß Raphael in der Cafeteria gegenüber und vermischte sein Essen, bis es eine gleichförmige Struktur erhielt. Raphael überlegte kurz, ob es wirklich Jonathan war, der ihm die Frage gestellt hatte. Immerhin war es schon Dienstag und normalerweise mied Jonathan Themen wie das Wetter, das Wochenende oder Hobbys, wie die Pest. Aber da ansonsten nur noch Frau Seidel, die Schulpsychologin, an einem der hinteren Tische am Essen war, musste es wohl so sein.

War sein Wochenende okay gewesen? Raphael zog die Schultern hoch und starrte weiter auf Jonathans Teller. Es gab Hühnerfrikassee. Faseriges Fleisch, das farblos in zähflüssiger Soße unterging und lieblos auf ein armseliges Häuflein Reis geklatscht worden war. Jonathan schien die undefinierbare Masse nicht an Erbrochenes zu erinnern, jedenfalls kaute er genüsslich. Raphael rollte einen Apfel von der einen Hand in die andere und hob die Schultern.

„Nichts Besonderes."

Vier Wörter, elf Silben und zu viele Buchstaben, um sie im Kopf zu zählen. Wahrscheinlich war das Konversationskontingent für die heutige Pause bereits erschöpft. Mit den meisten Menschen war Reden leichter als Schweigen, bei Jonathan war es umgekehrt. Schweigen war sein natürlicher Aggregatzustand. Vielleicht dachte er über Aggregatzustände nach, während er schwieg. Oder hatte in der fünften Klasse über Aggregatzustände nachgedacht und beschäftigte sich jetzt mit Quantenphysik und Determinismus. Irgendetwas musste man schließlich zu tun hatte, wenn man so langsam aß.

Eine Gabel nach der anderen wanderte in Jonathans Mund. Er hatte Raphael einmal ausführlich erklärt, warum es wichtig war, bedächtig zu essen und gut zu kauen. Wenn er so weiter machte, würde Raphael in etwa drei Minuten das erste Mal in seinen Apfel beißen können. Dann würden er und Jonathan gleichzeitig fertig werden. Sicherheitshalber sah er auf seine Uhr. Pünktlich nach drei Umrundungen des Sekundenzeigers nahm Raphael sich den Apfel vor. Das Mensaessen musste Im Voraus bestellt werden und wenn man zu spät dran war, bekam man eine Woche lang nichts.

Die letzten Male, als Raphael seine Bestellung vergessen hatte, hatte ihm seine Mutter etwas mitgegeben. Im Aufenthaltsraum der Oberstufe gab es sogar eine kleine Mikrowelle. Aber gestern hatte er es noch nicht gewagt, sie danach zu fragen, welche Dosen in der Tiefkühltruhe mitgenommen werden durften und welche nicht.

Am Samstag hatten sie gemeinsam zu Abend gegessen, auch wenn die Ereignisse vom vorherigen Tag wie ein riesiges Damoklesschwert über ihren Köpfen darauf gewartet hatten, sie zu enthaupten. Seine Mutter hatte sich Mühe gegeben. Sowohl mit dem Essen als auch mit ihrem Gesichtsausdruck. Das hatte selbst Raphael zugeben müssen. Trotzdem war er erleichtert gewesen, hinterher wieder alleine in seinem Zimmer zu sein.

Von dem Apfel waren nur noch Kerngehäuse und Stiel übrig, als Jonathan das Besteck ablegte und sorgfältig seine Essenmarke im Portemonnaie verstaute. Auffordernd nickten sie sich zu, Raphael versenkte die Überreste seines Apfels im Mülleimer und Jonathan schob sein Tablett unter knirschendem Quietschen zurück in den Waagen. Frau Seidel verzog gequält das Gesicht, hob dann aber die Hand, als sie Raphael erkannte.

„War das die Schulpsychologin?", fragte Jonathan, nachdem sie die Cafeteria verlassen hatten. „Mmh", machte Raphael nur und überlegte erneut, wer wohl noch zu ihr hin ging. „Kommst du mit zum Aufenthaltsraum? Ich muss noch an den Spind", schob er schnell hinterher, auch wenn er nur wenig Lust verspürte, das schwere Mathebuch in seinen Rucksack zu verfrachten. Zum Glück war das seine letzte Stunde. Außerdem hatte er zum ersten Mal seit Wochen seine Hausaufgaben verstanden. „Gut", lautete Jonathans knappe Antwort, dann schulterte er ebenfalls seinen Rucksack.

Am Ende der Mittagspause war der Gemeinschaftsraum wie immer gerappelt voll, Raphael musste sich zwischen Sesseln und Stühlen und fliegenden Radiergummis hindurch winden, um zu seinem Schließfach zu gelangen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Jonathan zunächst im Türrahmen stehen geblieben war, jetzt aber von irgendeinem Mädchen zu sich gerufen wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach ging es um Physik-Hausaufgaben.

Die Spinde waren entgegengesetzt der Körpergröße vergeben worden. Anders konnte Raphael es sich nicht erklären, dass sich seine Bücher kaum drei Zentimeter über dem Boden befanden, während Lissas Schließfach, an dem immer noch Fotos, vertrocknete Blumen sowie ein Kaugummi klebten, in der obersten Reihe thronte. Das Schloss klemmte und während Raphael auf dem Boden kauerte und versuchte die Tür aufzusperren wurde ihm von hinten ein Sofa gegen den Rücken geschoben. Er seufzte leise, sagte aber nichts. Im letzten Jahr hatte ein Junge eines dieser Sofas hochgehoben und einen anderen damit abgeworfen. Mehr oder weniger jedenfalls, denn wie Jonathan anschließend nüchtern festgestellt hatte, waren Sofas nicht aerodynamisch und besaßen nur eine kurze Flugzeit.

Und während Raphael über gebrochene Zehen nachdachte, bemerkte er nicht, wie plötzlich jemand neben ihn trat.

Das Mathebuch wie eine schusssichere Weste vor die Brust gepresst, drehte er sich um. Juna stand vor ihm, die Arme in die Hüften gestemmt. Ihre Augen blitzten. „Du suchst mich, hab ich gehört", sagte sie mit einem Lächeln, hinter dem sich genauso viel Freundlichkeit verbarg wie in Cola Vitamine. Raphael stutze. „Ahm, ja. Klar." Dann runzelte er die Stirn und stutzte. „Warum noch gleich?"

Juna kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Raphael ahnte, dass er gerade etwas Großes übersehen hatte, gerade auf dem besten Wege war, sich in riesige Scheiße zu bugsieren, da packte Juna ihn auch schon an der Schulter. „He, sag mal-", beschwerte Raphael sich halbherzig, als sich der Stoff seines T-Shirts gefährlich spannte. Aber verdammte ihn mit einem vernichtenden Blick zurück in die Schockstarre. Er stolperte Juna hinterher und rammte Luisa aus seinem Kunstkurs versehentlich die Ecke seines Mathebuches in den Rücken. „Sorry", murmelte er leise, dann schleifte Juna ihn weiter durch den Raum. Der Tumult im Aufenthaltsraum schien größer zu werden, von irgendwo ertönte ein Pfeifen. „Jetzt geht's ab", grölte eine tiefe Jungenstimme, die Raphael nicht zuordnen konnte. Vielleicht würde ihm gleich ein fliegendes Sofa Gesellschaft leisten.

Erst auf dem Flur ließ Juna von ihm ab, nur um dann eine harsche Geste in Richtung eines leeren Klassenraums zu vollziehen. „Drei Sekunden." Ihr Gesicht war gerötet und von dem Finger, den sie ihm anklagend entgegenstreckte, blätterte Nagellack.  „Du hast verdammte DREI Sekunden Zeit UM MIR ZU SAGEN, DASS MATTHI GELOGEN HAT!"

Raphael zuckte bei Matthis Namen zusammen und das lag nicht daran, dass Juna plötzlich angefangen hatte zu schreien. Ein paar feine Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst, standen wahllos ab und ließen sie zusammen mit den geröteten Wangen aussehen wie ein explodierender Stern.

„Hör zu, ich weiß nicht was Ma-", Raphael stolperte über Matthis Namen, fing sich aber wieder. „Ich habe keine Ahnung was er dir gesagt hat, aber-", angesichts von Junas versteinerter Miene lenkte er hastig ein, „aber vermutlich stimmt es. Ja."

Sie atmete geräuschvoll aus und verschränkte die Arme. „Matthi hat gestern bei mir angerufen", sagte Juna dann. „Er wollte wissen wie es mir geht, ob irgendetwas Besonderes war." Langsam ballte sie ihre Hände zu Fäusten. „Nein habe ich gesagt. Mir geht es gut. Dann hat er gefragt, ob ich mit dir geredet hätte. Oder besser gesagt du mit mir." Betreten sah Raphael zu Boden. Er hatte gestern sogar kurz nach Juna Ausschau gehalten. Aber nach dem Wochenende hatte er erleichtert zur Kenntnis genommen, sie nicht auch noch verärgern zu müssen. „Komischerweise hat Matthi doch tatsächlich geglaubt, es würde mir nicht gut gehen, wenn ich gestern schon mit dir geredet hätte. Komisch, wirklich komisch."

Bitterer Sarkasmus tropfte aus jedem ihrer Worte. „Ich wollte es dir gestern sagen und habe dich nicht gefunden." Selbst in Raphaels Ohren hörte sich diese Verteidigung mickrig an. Sie war in der Tat so schlecht, dass Juna sie schlichtweg ignorierte.

„Hat es dir Freude bereitet, meine Nachrichten zu lesen?" Sie pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „War es irgendwie cool das Handy des toten Mädchens zu besitzen? Hast du dir 'ne Packung Chips geholt und gleichzeitig ein bisschen von ihrem Netflixaccount profitiert?" Junas Stimme wurde immer schriller und schriller, sie redete sich in Fahrt und Raphael fiel nichts ein, um sie zu stoppen. Er wich ein paar Schritte zurück um Abstand zwischen sich und den explodierenden Stern zu bringen. An die Tafel hinter ihm hatte jemand eine Partie Hängemännchen gespielt, nur noch Arme und Beine fehlten, gerademal ein Buchstabe war gefunden worden.

„Es war ein praktisch ein Versehen. Und es tut mir leid." Anders als bei Matthi zitterte Raphaels Stimme jetzt nicht. Vielleicht war das so, wenn man sich gewiss sein konnte, das Schlimmste bereits überstanden zu haben. „Ich habe dir in der Nacht damals geschrieben", sagte er. „Dass ich nicht Lissa bin. Erinnerst du dich? Ich wollte nicht so tun, als wäre ich sie." Juna presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, ihre Fingernägel bohrten sich in die Haut ihrer Unterarme. „Ehrlich", beteuerte Raphael und sah bei ihr erstmals etwas, das bei Matthi nicht dagewesen war. Verständnis.

Sie musterte ihn prüfend, zwischen ihren Augenbrauen stand noch immer eine steile Falte. „Ich habe nicht Lissa geschrieben", flüsterte sie. „Ich habe ihr nicht geschrieben!" Eine Spur von Wahnsinn querte ihren Blick. „Ich habe gedacht, sie macht einen Witz. Ich habe gedacht, sie-" Juna schluckte und schlug die Augen nieder. „Lissa hat oft Witze gemacht. Halbe Prüfungen, weil sie einem Geschichten erzählte und man hinterher entscheiden musste, ob sie wahr sind oder nicht."

Ihre Schultern zitterten, dann waren es plötzlich Raphaels Arme, die sie umklammert hielt. „Ich habe mit ihr geschrieben, habe gelglaubt mit ihr, ich... Ich habe mit dir geschrieben, als Lissa schon tot war!" Junas Nägel hinterließen rote Striemen. Sie packte ihn an den Oberarmen. Schüttelte ihn und schlug mit Fäusten auf ihn ein. Es tat nicht weh. „Du hast gelesen, was ich ihr vorher geschrieben habe!", stieß sie aus und Raphael konnte die wütende Hitze spüren, die von ihr ausging. „Dazu hattest du kein Recht. Du durftest nicht, hättest nie gedurft-" Die Schläge wurden schwächer, zurück blieb nur noch das sanfte Brennen der Kratzspuren.

Junas Schultern bebten, und wie als hätte jemand in ihrem Innern einen Schalter umgelegt, spritzen Tränen aus ihren Augen. „Du hast gelesen, dass ich im Freibad war." Wimmernd verzog sich ihr Mund, sie zog die Nase hoch und wischte sich über die Augenlider. „Ich hätte da sein müssen, verstehst du, ich wollte nicht – Ich..." Nach Luft ringend sank Juna zurück. Sie stützte sich am Lehrerpult ab und verbarg gleichzeitig den Kopf in den Händen.

„Meine Schuld."

Der Kloß in Raphaels Hals wuchs. Er wollte ihr irgendwie helfen und ihr sagen, dass es nicht stimmte. Aber tat es das nicht irgendwo? Waren sie nicht eigentlich jeder Schuld? In vielen kleinen Teilen, die sich zum großen Ganzen zusammenfügten?

„Es ist nicht deine Schuld. Nicht ganz und auch nicht mehrheitlich."

Juna blickte auf, als würde ihr erst jetzt wieder bewusst werden, dass Raphael noch da war. Augen und Nase waren gerötet, an ihren Handinnenflächen klebte noch etwas verschmierter Lippenstift. „Geh." Raphael machte einen zögerlichen Schritt in Richtung Tür. „Ich habe gesagt, VERSCHWINDE!" Mit einem Satz sprang sie vom Lehrerpult und drängte ihn rückwärts. „Du kannst froh sein, dass Matthi dich so leicht hat davon kommen lassen."

„Leicht?" Raphael lachte auf und versenkte die Hände in den Hosentaschen. „Schön wär's." Juna fegte seinen Einwand mit einer unwirschen Handbewegung vom Tisch. „Hat er dir im Grunde nicht noch einen Gefallen getan?" Raphaels Atem ging schneller. Was, wenn Matthi ihr alles erzählt hatte. War es das, was Juna als Gefallen bezeichnete? „Im Ernst, du solltest ihm Blumen schicken", fuhr sie halbherzig fort, „wäre Lissa meine Schwester und mein Vater Richter, dann-"

Aber Raphael erfuhr nicht, was dann passiert wäre. Denn mit einem Mal wurde Juna unterbrochen. „Du weißt, dass das nicht stimmt." Sie fuhren alle beide herum. Im Türrahmen stand Jonathan. Seine Stimme klang vollkommen anders als normalerweise. Fest und autoritär.

„Die Besprechung der Orthogonalität zweier Vektoren findet einen Raum weiter statt."

Jonathan reagierte nicht. Juna schnipste vor seinem Gesicht herum. „He Mathegenie, deine Fähigkeiten werden hier nicht gebraucht!" Jonathan ließ sich auch davon nicht abbringen. Ganz im Gegenteil. Sein Gesichtsausdruck war genauso entspannt wie beim Essen der widerlichen Hühnerfrikassee-Pampe. Über Junas Gesicht glitt binnen Sekunden die volle Bandbreite an Emotionen. Das Gesicht bleich mit hektisch roten Flecken, die Augen gerötet und die Wangen nass. Ihre Arme baumelten hilflos an ihr herunter, knibbelten an einem losen Faden.

„Es ist nicht leicht. Und du weißt das", sagte Jonathan mit deutlich klarer Stimme. Raphael sah zwischen ihm und Juna hin und her. Er fühlte sich plötzlich wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte und nun dabei zusah, wie die Souffleuse seinen Platz einnahm. Mit dem Unterschied, dass er keinen blassen Schimmer hatte, was für ein Theaterstück gerade vor seiner Nase aufgeführt wurde.

„Ich brauche mich vor dir nicht zu rechtfertigen", blaffte Juna ihn an und deutete dann mit halber Hand auf Raphael. „Er hat es verdient, oder etwa nicht? Es war eine Scheiß-Aktion!" Kurz spielte Raphael mit dem Gedanken, noch selber etwas zu sagen, aber offensichtlich war er inzwischen vollkommen aus der Unterhaltung ausgeklammert worden. Jonathan ließ sich Zeit um zu antworten. Die langen Pausen ließen Junas Fragen wie Zugeständnisse wirken. „Matthi war grausam", beendete er die Diskussion. „Ihr seid quitt."

Mit diesen Worten kehrte er ihnen den Rücken und verließ aufrechten Ganges den Klassenraum. Juna und Raphael sahen sich einige Sekunden lang perplex an, bis ihnen wieder einfiel, dass sie eigentlich noch irgendwie sauer aufeinander waren. Jeder blickte in eine andere Richtung und als Raphael sich sicher war, dass Juna nichts mehr sagen würde, folgte er Jonathan. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte vollgestopft. Die ganze Situation war so absurd und widersprüchlich gewesen, dass sie einfach nicht in seinem Hirn ankommen wollte.

Jonathan wartete im Gang auf ihn. Den Rucksack wie immer gerade am Rücken tragend, die Hemdkragen ordentlich gerichtet. „Du wirst gerade krank", sagte er, als Raphael auf seiner Höhe war. „Achja? Ich bin schon okay, ich fühle mich gu-" Jonathan unterbrach ihn mit einem Seufzer. „Wir schwänzen", erklärte er schließlich, als sei diese Tatsache so offensichtlich wie das x in Sex. „Die Berechnung der Orthogonalität zweier Vektoren kann warten, findest du nicht?" Verdutzt blieb Raphael stehen und schüttelte den Kopf.

„Wer bist du und wo zum Teufel ist Jonathan abgeblieben?"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top