43 - Raphael
Das Blut rauschte in Raphaels Ohren, als er dem Auto hinterherblickte. Dann war mit einem Mal alles still. Marlene und Sophie waren verschwunden, Matthi war verschwunden, noch nicht mal ein Hundebellen durchbrach die stoische Ruhe. Nur die blauen Hortensienbüsche unter dem Küchenfenster flüsterten im Wind. Aber vielleicht bildete er sich das auch lediglich ein.
Wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass die Welt nicht plötzlich um ihn herum erstarrt war, machte Raphael einen Schritt auf die Haustür zu. Dann noch einen und noch einen. Als er schon mit dem halben Fuß über der Schwelle stand, blieb er stehen. Er konnte nicht da rein gehen. Wenn seine Mutter ihn wirklich gesehen hatte, und das hatte sie, denn Matthi war einfach schlau, das musste man ihm lassen, halbe Sachen waren einfach nicht sein Ding, nein, dann konnte er das jetzt einfach nicht.
Raphaels Atem ging flacher, er krallte sich am Türrahmen fest, war einen Moment lang davon überzeugt, die Kontrolle über sein Gleichgewicht zu verlieren und umzukippen. „Verdammte Scheiße", flüsterte er und spürte, wie seine Augen vor lauter Wut, Enttäuschung und Hilfslosigkeit zu brennen begannen. Raphael rieb sich feste über die Lider, schloss sie und atmete tief durch. Zählte bis fünf und machte die Augen wieder auf.
Im Grunde hatte er keine Wahl, Matthi hatte all seine Alternativen mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Und Raphael wusste immer noch nicht, ob er das Recht dazu hatte, ihm das vorzuwerfen. Wäre das alles noch vor ein paar Wochen geschehen, hätte er jetzt zu Rica laufen können. Sie hätte ihm die stinkende Matratze aus dem Keller angeboten, Raphael hätte versucht sie die eng gewinkelte Treppe hochzuhieven. Rica hätte ihn ausgelacht und ab Mitte der Kellertreppe übernommen, weil sie seinen erbärmlichen Anblick nicht länger ertragen konnte. Sie hätte den Kopf schief gelegt, sich einmal gegen die Stirn getippt und die Matratze mit einer beneidenswerten Leichtigkeit neben ihr eigenes Bett verfrachtet.
Rica hätte aus einer verstaubten Ecke des Badezimmers ein Zahnbürstenfossil hervorgezaubert und ihm aus Victors Kleiderschrank einen hoffentlich unbenutzten Schlafanzug besorgt. Obwohl man sich diesbezüglich bei Victor auf nichts verlassen sollte. Sie hätten versucht einzuschlafen, den Atem des jeweils anderen gehört und irgendwann anfangen müssen zu lachen. Raphael hätte ihr alles erzählen können und Rica hätte zugehört. Stattdessen hatte er jetzt niemanden, zu dem er gehen konnte. Nicht Rica, nicht Matthi oder Juna und schon gar nicht seine Eltern.
Langsam rutschte Raphael am Türrahmen entlang zu Boden. Sein Blick fiel auf das Schild aus gebranntem Ton, das neben der Haustür hing. Hier wohnen Dirk, Miriam und Raphael stand dort in kleinen ordentlichen Lettern. Und darüber, etwas größer: Familie Lengsmann. Familie. Raphael lächelte bitter. Was für eine Familie waren sie eigentlich, wenn er sich jetzt nicht traute, sein eigenes Zuhause zu betreten.
Vielleicht sollte er das Schild abnehmen und im Restmüll entsorgen. Oder Jonathan fragen, was für eine Säure er aus dem Chemielabor entwenden musste, um seinen Namen wegzuätzen. Jonathan war im Moment wahrscheinlich sowieso die einzige Person, die überhaupt noch mit ihm reden würde.
„Ach hier steckst du!" Raphael sah, wie sich polierte spitzzulaufende Büroschuhe auf ihn zubewegten. Sein Vater besaß Schuhe dieser Art in zweihundertfacher Ausfertigung, daneben noch ein Paar Wanderschuhe sowie ein Paar Sandalen. Variation war etwas, was in Herrn Dirk Lengsmanns Leben noch nie existiert hatte.
„Warum sitzt du denn auf dem Boden?" Raphael hob den Kopf. „Einfach so", antwortete er tonlos und beobachtete, wie sich zunächst Verwunderung und dann Resignation in der Miene seines Vaters widerspiegelten. „Nun gut." Sein Vater zog die Schultern hoch und lockerte gleichzeitig seine Krawatte. „Aber es gibt jetzt Abendbrot. Kommst du?" Raphael nickte schwach. „Sofort", erwiderte er, aber da war sein Vater auch schon im Flur verschwunden.
Raphael stellte seine Turnschuhe neben die schwarzen Lederschuhe seines Vaters in den Schuhschrank, hängte den Schlüsselbund sorgfältig an seinen Platz am Schlüsselbrett zurück. Alles muss seine Ordnung haben. Dieser Satz hatte sich in immer gleichen Tonfall in Raphaels Kopf eingenistet, so oft hatte ihn sein Vater schon über die Lippen gebracht. Vielleicht war es mit der Zeit sogar zu ihrem Familienmotto geworden. Alles muss seine Ordnung haben. Raphael ging ins Gäste WC und wusch sich seine Hände mit Seife. Trocknete sie ab und stand einige Sekunden regungslos vor seinem eigenen Spiegelbild.
Er hatte geglaubt, dass man es ihm irgendwie ansehen würde. Nicht unbedingt mit einem Sünder-Brandzeichen quer über der Stirn, aber selbst das... Es war beunruhigend, aber abgesehen davon, dass seine Haare ein wenig abstanden, sah er aus wie immer. Raphael strich einige der widerspenstigen Strähnen zurück und drückte sie ein bisschen platt, dann wandte er sich ab und ging in die Küche. Sein Vater saß bereits an seinem Platz und schenkte Wasser ein, Raphaels Mutter kehrte ihm noch den Rücken zu und hantierte mit der Brotschneidemaschine. Diese bretterte ungestüm vor sich hin, sie hatte ihn nicht kommen hören. „Ah, Raphael", übertönte sein Vater das Geräusch der fliegenden Brotkrümel, „könntest du die gerade zurück in den Kasten stellen?" Er streckte ihm die leere Mineralwasserflasche entgegen.
Raphael zögerte und fixierte die Schublade, in der sich der Kasten befand mit finsteren Blicken. Seine Mutter stand noch davor und Raphael hielt es für eine schlechte Idee sie anzusprechen, während in der Nähe ihrer Hände noch das Schneidemesser rotierte.
Schließlich verstummte das Summen der Maschine und der Stecker wurde aus der Steckdose gezogen. Raphaels Mutter drehte sich um, die Lippen kaum noch sichtbar, so fest hatte sie sie zusammen gepresst. Der Brotkorb wurde auf den Tisch gestellt, die leere Wasserflasche landete mit einem dumpfen Geräusch im Kasten.
Das Schweigen schien greifbar zu werden, als Raphael sich auf seinen Stuhl sinken ließ. Früher hatte seine Mutter jeden Abend ein Gebet gesprochen. Irgendwann hatte Raphael sie davon überzeugen können, dass ein stilles Falten der Hände ebenso genügen wurde. Jetzt waren ihre Hände so fest in einander verschränkt, dass er sich fragte, ob sie sie jemals aus der gegenseitigen Umklammerung würde lösen können.
„Guten Appetit", wünschte Raphaels Vater in die Runde, nahm sich eine Scheibe Brot und reichte den Korb an Raphael weiter. „Danke", murmelte er, den Blick immer noch gesenkt. Er angelte sich das Randstück des Brotlaibs und bemerkte, dass die Butterschale am anderen Tischende stand. In Reichweite waren lediglich Leberwurst, Blauschimmelkäse und Trauben mit Kernen.
„Guten Tag gehabt?" Wieder war es sein Vater, der zwischen zwei Bissen der Meinung war, ein Gespräch führen zu müssen. Er sah ihn auffordernd an und griff nach der Teekanne. „In Ordnung", antwortete Raphael, als ihm klar wurde, dass seine Mutter die Frage nicht wahrgenommen hatte. Raphaels Vater stellte die Teekanne wieder zurück. „Wir haben die Tassen vergessen", bemerkte er und warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. Sie schien das erst nach einigen Sekunden zu registrieren. „Oh." Und nach einer kleinen Pause: „Ja." war das einzige, das sie hervor brachte.
Raphaels Vater runzelte die Stirn und sah seinen Sohn fragend an, während seine Mutter aufgestanden war, um Tassen und Untertassen zu holen. Ausweichend griff Raphael nach seinem Glas. Die entwichene Kohlensäure hatte dem Wasser einen schalen Geschmack verpasst.
Porzellan schlug gegen Porzellan, als Raphaels Mutter Teetassen samt Untertellern auf dem Tisch positionierte. Alles muss seine Ordnung haben. Sie richtete den Henkel ihrer Tasse millimetergenau aus und schüttelte den Kopf, als Raphaels Vater ihr einschenken wollte. War sein Stirnrunzeln zuvor noch zurückhaltend gewesen, so glich es nun dem Relief des Marianegrabens im Pazifik.
„Und wie war es bei dir?", versuchte Raphael den Gesprächsfluss nicht gänzlich versickern zu lassen und ihm gleichzeitig keine Zeit zum Nachdenken zu geben. Sein Vater kaute zu Ende, bevor er antwortete. „Nichts Besonderes. Es gibt ein neues Bauprojekt auf dem alten Industriegelände neben dem Einkaufszentrum, es soll wohl erweitert werden." Raphael nickte nur, wenn es eines gab, dass ihn mehr langweilte als der Erdkundeunterricht, dann war das der Beruf seines Vaters.
Er arbeitete beim Katasteramt, was bedeutete, dass er Lagepläne von Grundstücken verwaltete und Architekten aushändigte, wenn diese Bauanträge stellten. Oder so ähnlich. Denn immer, wenn er versucht hatte, Raphael seinen Beruf zu erklären, hatte er immer an irgendeinem Punkt angefangen abzuschalten.
Jetzt wandte sein Vater sich an Raphaels Mutter. „Jens ist übrigens erst dreiundsechzig. Er hat heute mit seiner Frau telefoniert und es erwähnt. Erstaunlich, ich hätte ihn viel älter geschätzt. Nicht wahr?" Jens war sein Arbeitskollege, sehr faul und wurde als Gesprächsthema eingesetzt, sofern es die Situation in Notlagen erforderte. „Mmh." Die Antworten seiner Mutter waren eine solche Notlage. „Wahrscheinlich liegt es daran, dass er so häufig ins Solarium gegangen ist", setzte Raphaels Vater fort und wartete auf den berüchtigten Jens-Effekt. Plötzliche Kommunikationsergüsse - „Möglich." – die heute ausblieben.
„Habe ich dir eigentlich schon einmal erzählt, dass er mir vor Jahren angeboten hat, mitzukommen? Ins Solarium? Ich fand ihn ja schon auf den ersten Blick unsympathisch, aber das-" Raphael schaltete ab und besah wieder das traurige Endstück von Brot auf seinem Teller. Er beschloss, dass kernhaltige Trauben immer noch das geringste Übel waren und zupfte sich ein Nebenästchen ab.
„Sagt mal, habe ich irgendetwas verpasst? Ihr wirkt beide so-", Raphaels Vater zögerte und machte eine fliehende Handbewegung, „...abwesend." Er legte das Messer klirrend zurück auf seinen Teller, stützte die Ellenbogen auf und sah sie abwechselnd an.
Raphael schluckte und stopfte sich eine Traube in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Aber die Stille dauerte an. „Ging es um die Löcher in der Wand?", wagte sein Vater einen neuen Versuch. „Wegen dem Regal, das dir letztens runter gefallen ist?" Raphael dachte an Rica und ihren Genetiv-Fetisch und tippte sich an den Hals. „Ich habe mit deiner Mutter schon darüber geredet, es sieht unmöglich aus. Aber man könnte die Beschädigungen zu spachteln und dann einen Bilderrahmen drüber hängen." Raphael seufzte leise.
„Gute Idee, danke Papa." Er nickte geschäftsmäßig. „Keine Ursache. Ist es dann damit geklärt?" Seine Augenbrauen wanderten fragend in die Höhe. „Ja, können wir gerne so machen", gab Raphael mechanisch zurück, dann quietschten plötzlich Stuhlbeine übers Parkett.
Raphaels Mutter war vom Tisch abgerückt und presste die Hände vor den Mund. „Miriam? Miriam, was-", stammelte Raphaels Vater, aber seine Frau schien sich unter seinen Worten regelrecht zusammenzukrümmen. Das Rauschen in Raphaels Ohren war zurückgekehrt. Es wurde lauter, als seine Mutter am gesamten Körper zu zittern begann. Raphael spürte, wie ihm immer elender zumute wurde. Ein gepresstes Schluchzen drang aus ihrer Brust und falls Raphael überhaupt noch so etwas wie Hoffnung besessen hatte, dann zerbrach es in genau diesem Moment.
Menschen, die glaubten, eine Nahtoderfahrung erlebt zu haben, berichteten oft davon, völlig losgelöst über ihrem Körper zu schweben. Raphael überkam dasselbe Gefühl, als ihn der Anblick seiner Mutter auf einmal mit gleichgültiger Kälte erfüllte. Er verfolgte teilnahmslos, wie sein Vater den Esstisch umrundete, seine Frau an den Schultern fasste. „Miri", flüsterte und seine Stimme dabei weicher und sanfter klang, als Raphael sie je erlebt hatte. Seine Hände ihr beruhigend über den Rücken strichen.
„Alles ist gut, alles ist gut, Miri." Verdammte Lügen. „Na komm schon, was ist denn los?" Wieder brach ein Wimmern aus ihr hervor und dieses Mal jagte es Raphael einen Schauer über den Rücken. Wortlos erhob er sich, legte Brot und Trauben zurück, dann räumte er sein Geschirr in die Spülmaschine. Sein Vater fuhr seiner Mutter sachte über den Kopf, sie lag an seiner Brust und in ein paar Minuten würden ihre Tränen sein Hemd mit Flecken zieren.
Raphael dachte daran, wie Matthi geweint hatte, wie er ihn festgehalten hatte und seinen Herzschlag gespürt hatte. Wie es sich angefühlt hatte, als er für wenige Sekunden alles gehabt hatte, was er sich wünschte. Jetzt konnte er sich kaum vorstellen, dass seitdem nur wenige Stunden vergangen waren. Es fühlte sich so an, als stammten diese Erinnerungen aus einem komplett anderen Leben.
Niemand hielt ihn auf, als er die Küche verließ und mit schweren Schritten die Treppe hoch ging. Er duschte. Zunächst war das Wasser eisig kalt, dann brühend heiß, sodass es Spiegel und Fenster beschlagen ließ und seine Haut sich rötete. Unter dem brausenden Wasser hörte er das Blut in seinen Ohren, das Weinen seiner Mutter und die leeren Versprechungen seines Vaters nicht mehr.
Zurück in seinem Zimmer schloss Raphael sich ein. Den Schlüssel im Schloss herum zu drehen und zu wissen, dass er der einzige war, der es wieder aufsperren konnte, war ein befreiendes Gefühl.
Die Schreibtischschublade stand noch einen Spalt breit offen, eine quälende Erinnerung daran, was alles ins Rollen gebracht hatte. Raphael zog sie gänzlich heraus, bis er fand, was er gesucht hatte. Es war ein alter Discman, den seine Großmutter ihm zusammen mit ihrer alten Polaroidkamera geschenkt hatte. Die Kamera hatte er Rica zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt, den Discman noch nie benutzt. Auf den Lautsprechern seiner Stereoanlage stapelten sich noch ein paar CDs, Raphael zog wahllos eine aus dem Stapel hervor. Es war eine gebrannte in selbst gebastelter Hülle ohne Titel.
Raphael ging zu seinem Bett zurück und legte sie ein. Der Discman gab ein leises Surren von sich und einen Moment lang schien er gegen seine erneute Benutzung zu rebellieren. Raphael stöpselte die Kopfhörer ein, es knarzte und knackte, dann ebbte das Surren ab und die CD begann sich zu drehen. Moderne Hypnose. Bestimmt hatten die Menschen auch schon vor hundert Jahren vor ihren Plattenspielern gesessen und den unendlichen Drehungen der Scheibe zugesehen.
Raphael ließ sich auf sein Bett sinken, legte den Discman neben sich ab und starrte, begleitet vom Soundtrack von „Die fabelhafte Welt der Amélie", empor zur Decke.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top