39 - Matthi

„Ich hatte einmal einen Bruder." Raphaels Stimme durchbrach die gefräßige Stille, er stellte den leeren Pizzakarton knirschend zu seinen Füßen in den dunklen Kies. Es gab ein flutschendes Geräusch, als Matthi seinen Finger aus den Mund nahm. Er hatte sich das Fett der Pizza von den Fingern geleckt, jetzt wischte er sie mit mechanischen Bewegungen an seiner Hose trocken. Dann war es still.

„Das war es, was ich Juna sagen wollte. Am See, du weißt schon." Raphael stockte, seine Stimme klang weich und dumpf in seinen Ohren. Bilder von dem Nachmittag tanzten vor seinen Augen wie eine heraufbeschworene Fata Morgana. „Oder besser, was ich ihr dann doch nicht mehr sagen wollte." Die schwimmende Badeinsel, das grünblaue Wasser, blonde Haarsträhnen. Bewegt von der Strömung oder nass klebend auf sonnengebräunter Haut.

„Ich hab es bisher nur meiner-", Raphael scharrte mit den Füßen im Schotter. Rica. Ich habe es bisher nur Rica erzählt. Rica, meiner Freundin. War sie das denn überhaupt noch? Matthi hörte damit auf, seine Hände im Innern seiner Hosentaschen zu säubern und sah ihn an. Die Spur eines Lächelns lag auf seinen Lippen und einen Augenblick lang rechnete Raphael fest damit, dass Matthi den Freundinnen-Witz fortführen würde.

Aber es blieb bei diesem Ansatz und Raphael war ihm dafür dankbar. Er konnte sich jetzt nicht auch noch mit der Frage beschäftigen, ob Rica jemals wieder mit ihm reden würde oder nicht.

„Ich hab die ganzen Leute auf Lissas Beerdigung gehasst, die nur ihre Mein herzlichstes Beileid - Karte abgegeben haben", sagte Matthi dann plötzlich und verschränkte seine Hände so fest miteinander, dass die Fingerknöchel knackten. „Aber was will man schon großartig anderes sagen." Er zog kaum spürbar die Schultern hoch. „Es tut mir leid."

Raphael wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Matthi schien das nicht zu überraschen, zumindest erwartete er keine Antwort. Wahrscheinlich waren schweigende Pausen auf einem Friedhof nicht weiter verwunderlich. „Ich kannte ihn nicht." Noch eine Pause. „Michael. Ich kannte Michael nicht." Michael, der oberste Erzengel, Michael, Bezwinger des Teufels in glänzender Rüstung. Matthi sammelte eine Handvoll scharfkantiger Steinchen vom Boden. Einige bohrten sich mit ihren Spitzen und Kanten in seine Handflächen, andere fielen herunter, noch bevor er sie richtig aufgehoben hatte. „Wahrscheinlich ist es schlimmer, sein Geschwisterkind erst kennenzulernen und dann zu verlieren."

Er sah zu Boden, auf der flachen steinernen Einfassung von Lissas Grab wirkten Matthis langen Beine seltsam fehlplatziert. Langsam fiel Stein für Stein zurück an seinen Platz. „Geburtsurkunde mit Sterbevermerk für Michael Lengsmann. Unwirklich, irgendwie. Die Dokumente lagen in einer kleinen Schachtel, zusammen mit einer winzigen weißen Socke. Ich hab die Kiste durch Zufall gefunden. Meine Eltern wissen bis heute nichts davon."

Raphael rutschte auf Ulrich von Babels Grabplatte herum, ließ den Blick schweifen. Der Friedhof lag ein wenig erhöht, die von Reihenhäusern gesäumten Straßen verschwanden zwischen Baumkronen und blitzten hin und wieder gräulich weiß hindurch. Manche der Gräber waren aufwendig bepflanzt, andere schön hergerichtet oder mühevoll aber armselig von Unternehmen der Grabpflege verunstaltet worden.

„Du solltest sie nicht dafür verurteilen, dass sie es dir nicht gesagt haben. Man geht unterschiedlich-" Matthi zupfte einen Löwenzahn aus dem Kies, „mit der ganzen Sache um." Ein leises Räuspern seinerseits. „Mit dem Tod, meine ich." Raphael nickte langsam. Hatte er es seinen Eltern überhaupt zum Vorwurf gemacht, ihm nichts davon erzählt zu haben? Hatten sie diesen Vorwurf nicht verdient indem sie ihm die Wahrheit doch bis heute schuldig geblieben waren?

„Mein Vater arbeitet bis in die frühen Morgenstunden, hat Lissas Zimmer seit Wochen nicht mehr betreten, während Mama immer noch regelmäßig ihre Wäsche wäscht. Sie soll nicht nach muffigem Schrank riechen, sagt sie." Matthi hob die Mundwinkel, wollte über die Allüren seiner Mutter hinweg schmunzeln und scheiterte kläglich. Zog eine Grimasse während Raphael ihm dabei zusah. Bemerkte, wie Matthis Hände zitterten, die Haut rund um die Fingernägel abgerissen, teilweise mit schorfig dunklen Flecken. „Matteo und Frederik werden sich in ein paar Jahren nicht mehr an ihre Schwester erinnern können. Und ich-" Er atmete ein und presste die Lippen aufeinander. Schluckte.

„Juna hat Recht damit, wenn sie sagt, dass ich mich zuhause einschließe. Es ist verdammt wahr." Matthis Schultern bebten, der Kiesweg zwischen seinen und Raphaels Füßen schien unüberbrückbar. „Vor ein paar Nächten bin ich aufgewacht und schlaftrunken ins Bad gegangen. Einen Moment lang hab ich geglaubt, sie singen zu hören." Sein Mund öffnete sich, wie zu einem stummen Schrei. Es folgte ein Wispern, kaum verständlich. „Sopran. Ein heller Sopran."

Matthi rieb sich mit einer Hand über die Augen, Raphael sah weg. Es versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, Matthi so verzweifelt zu sehen. Raphael klammerte sich an verwaschenen Erinnerungen fest, versuchte sich an ein Schulkonzert zu erinnern. Vor ein oder zwei Jahren vielleicht, als er dazu verdonnert worden war, zusammen mit Tobi Getränke zu verkaufen. Apfelsaftschorlen, Fanta und Wasser gingen über die Theke während auf der schmalen Aulabühne ein Mädchen mit engelsgleichem blondem Haar, begleitet von Trompeten und Saxophonen ein Solo hinlegte. Vielleicht war es Lissa gewesen, das Gesicht des Mädchens blieb schemenhaft.

„Ich habe die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. Man kann die Leere dort spüren." Matthis Augen verengten sich, er sah mit flatternden Lidern an Raphael vorbei. „Ein Physiker hat mal die Theorie aufgestellt, dass die Temperatur in den Großstädten der Erde um einige Grad Celsius sinken würde, falls die Menschheit verschwände." Raphael folgte seinem Blick, drehte sich um und sah ebenfalls auf einen kleinen, unscheinbaren Grabstein ein paar Reihen weiter. Jemand hatte Stockrosen gepflanzt. Raphael fragte sich, ob Matthi das überhaupt wahrnahm. „In Lissas Zimmer war es eisig kalt."

Auf Raphaels Unterarmen machte sich eine schaudernde Gänsehaut breit. Matthi legte den Kopf in den Nacken und blinzelte. Tränenflüssigkeit trat aus seinen Augenwinkeln. Das Scharren des Pizzakratons auf dem Kies war unerträglich laut. Raphael hatte gar nicht gemerkt, dass er ihn mit den Füßen hin und her geschoben hatte. Seine Begegnung mit Matthi vor dem Sekretariat kam ihm in den Sinn.

Als Herr Büchner ihn angesprochen hatte, während Matthi hinter seinem Rücken ein elendiges Bild abgegeben hatte und immer weiter an der unnachgiebigen Wand herabgerutscht war. Unfähig, sich selbst auf den Beinen zu halten. Am Tag des Unfalls war Matthi wütend gewesen, nur wenige Stunden später hatte er den Kartoffelauflauf zu Boden geschmettert.

„Es gibt drei Klassifizierungen. Ich hab das nach meinem Fund damals recherchiert", sagte Raphael leise. Er wusste nicht, ob Matthi ihm zuhörte. Traute sich nicht aufzusehen, ihm ins Gesicht zu blicken. „Es gibt Lebend-, Tot- und Fehlgeburten. Wenn eine Frau ein Kind gebiert, das unter 500 Gramm wiegt, dann ist es kein Mensch."

Er hielt inne, dachte an den Abend zurück, an dem er die kleine Box gefunden hatte. Einen Tag später waren sie auf Kursfahrt nach Prag gefahren, Raphael hatte seinen Reisepass sicherheitshalber noch mitnehmen wollen. Und an dessen Stelle etwas vollkommen anderes gefunden. „Diese Kinder werden in keine Personenregister aufgenommen. Sie existieren nicht. Die Urkunden in der Kiste waren selbstgeschrieben, auf gewelltem Papier in der Handschrift meiner Mutter. Sie muss geweint haben, damals."

Raphael schluckte, dachte an seine Eltern. Wie sie manchmal einfach nur dasaßen, wie regungslose Marionetten. Michael war gestorben, noch bevor er gelebt hatte, er hatte nie die Möglichkeit gehabt sie kennenzulernen. Er wäre jetzt einundzwanzig, auf der Suche nach einem Studienplatz, mit einer Freundin, mit der er bald zusammenziehen würde. In eine mittelgroße Großstadt vielleicht, nicht zu weit entfernt, sodass zum Kaffee ein Besuch immer möglich wäre. Und stattdessen war Raphael geboren worden, mickrig und klein, dafür lebend. Jetzt siebzehn, auf der Suche nach ein paar interessanten Motiven für sein Kunst-Projekt, ohne Freundin und viel wichtiger noch ohne die Absicht, in nächster Zeit mit einer zusammenzukommen.

„Die Ärztin, die Lissa den Totenschein ausgestellt war, sah aus wie eine Praktikantin. Sie hat ein bisschen gelispelt und trug farbige Kontaktlinsen." Matthi blinzelte, mit dem Blau seiner Iris hätte er für diese Kontaktlinsen werben können. In einem der Augen war ein Äderchen geplatzt, rote feine Linien durchzogen das weiß, umgaben das blau. „Es war ihr allererster eigener Totenschein. Das hat die Ärztin hinterher zu einer der Schwestern gesagt. Die Schwester hat geantwortet, dass sie ihr lieber einen älteren Herrn mit Prostatakrebs gewünscht hätte. Weil solche Schicksale wie Lissas Tod einen nur schwer wieder loslassen."

Mit den Fingern der linken Hand zog Matthi an einem Hautfetzen am Zeigefinger der anderen Hand, eine salzige Tränenspur führte bis zu seinem Kinn. Die Haut unter den Augenbrauen hatte sich vom Weinen rötlich gefärbt. „Komisch, nicht wahr?" Matthi hob seinen Kopf, sah ihn an. „So oft, wie jemand stirbt, müssten wir uns eigentlich mal langsam dran gewöhnt haben."

Ein flaues Gefühl machte sich in Raphaels Magengrube breit. „Denkst du, dass es jemals wieder besser wird?" Matthis Stimme klang heiser, erstickt. Raphael spürte, wie sein Herz aus seiner Brust zu springen drohte, als er aufstand und einen Schritt auf ihn zumachte. Dachte an seine Eltern. War es bei ihnen jemals wieder besser geworden? „Ich weiß es nicht", antwortete er. Und obwohl Matthi saß und Raphael stand, er sich irgendwie halb zu Matthi herunterbeugte, alles im falschen Winkel und seltsam merkwürdig war, legte Raphael ihm seinen Arm um die Schulter, kniete sich hin um ihn ungelenk zu umarmen.

Matthi strahlte eine Hitze aus, die Raphael durch den Stoff des T-Shirts hindurch fühlen konnte. Er strich ihm über den Rücken, spürte Matthis Stirn auf seinem Schlüsselbein liegen. Sein Brustkorb zog sich zusammen, verkrampfte, bevor er in sich zusammensackte. „Es ist in Ordnung", wisperte Raphael mit belegter Stimme und hielt ihn fester. Matthi unterdrückte ein leises Wimmern, hielt die Luft an. „Es ist in Ordnung", wiederholte Raphael leise, merkte, wie sich Matthis Hand an seiner Schulter festklammerte. Er schloss die Augen, wiegte langsam hin und her. Erinnerte sich daran, wie seine Mutter das früher immer so gemacht hatte, wenn er weinend nach Hause gekommen war.

Von einer Seite zur anderen, mit kreisenden Bewegungen der Handflächen auf seinem Rücken. Mit dem warmen Geruch menschlicher Nähe in der Nase. „Sie wissen es nicht, Raphael", stieß Matthi aus, drückte sich von ihm weg, sodass die roten Striemen in seinem Gesicht sichtbar wurden. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, aber die Tränen liefen ihm immer weiter über die Wangen. Die Hand auf den Mund gepresst, entwich ihm ein gedämpfter Schrei. „Und ich kann es ihnen nicht sagen, verstehst du? Ich kann ihnen nicht sagen, dass-"

Sein Oberkörper krümmte sich zusammen, er verbarg den Kopf in den Händen. „Ich bin schuld daran, dass Lissa hier liegt. Wenn ich-" Er wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt, zitterte und rang nach Luft. „Es war mein Ball. Ich habe den Ball geschossen und als meine Mutter mich gefragt hat, da-" Der Rest seines Satzes ging unter, wurde hilflos in den durchnässten Stoff von Raphaels Sweatshirt geweint. „Meine Schuld, es ist meine Schuld", wiederholte Matthi immer wieder. „Und ich kann es nie wieder gut machen."

Raphael spürte, wie ihm selbst die Tränen in die Augen stiegen. Wie verdammt ohnmächtig er sich fühlte, wie machtlos. Tausend Dinge schossen ihm durch den Kopf, tausend Worte, mit denen er Matthi beruhigen konnte. Blasse Worte, Versprechen, die nicht gehalten werden konnten. Alles wird gut. Selbst nach einundzwanzig Jahren war bei seinen Eltern nie wieder alles gut geworden. Schshsch, leise, leise. Du brauchst nicht zu weinen. Man brauchte auch nichts zu sagen, man benötigte lediglich den eisernen Mantel des Schweigens. Die einlullende Decke gewebt aus belanglosen Gesprächsfetzen, die entstandenen Löcher gestopft mit vorwurfsvoll warnenden Blicken.

„Ich bin hier, es ist in Ordnung. Matthi, es ist in Ordnung." 

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