36 - Juna und Jonathan
„Vielleicht solltest du ihr Schokolade geben. Meistens funktioniert das." Joshi sprang neben Raphael aus dem Bus und deutete mit dem Kopf auf Rica, die ihnen missmutig hinterher starrte. „Jaah, vielleicht sollte ich das", erwiderte Raphael und versenkte die Hände in den Hosentaschen. Er bezweifelte, dass Schokolade reichen würde.
Joshi und Raphael gingen eine Weile nebeneinander her, Joshi war ein wenig kleiner als Raphael, aber seine Schritte leichter und federnder. Raphael meinte sich daran zu erinnern, dass Joshi bei den jährlich stattfindenden Hochsprungwettbewerben immer über die Messlatten geflogen war.
„Gehst du zur Schule?", fragte Raphael nach einer kurzen Pause. Die mündlichen Prüfungen waren schließlich vorbei, eigentlich hätte Joshi zu dieser Zeit ausschlafen können. „Ja, ich muss noch ein paar Sachen abholen. Nichts wildes, nur ein paar Sachen aus meinem Schließfach." Joshi lachte auf. „Aber ich wollte dieses Schließfach nicht schon ausräumen, wenn noch gar nicht klar war, ob ich das Abi überhaupt packe."
Raphael erwiderte sein Grinsen zögerlich. „Also hast du es gepackt?" Er nickte bestätigend. „Sieht so aus. Frau Molls hat mir doch tatsächlich noch die sieben Punkte geschenkt." „Na dann herzlichen Glückwunsch. Frau Molls in seiner Abiturprüfung zu haben ist aber auch echt eine Strafe."
Joshi nickte und sie unterhielten sich noch eine Weile über das übliche. Lehrer, dumme Lehrer und Lehrer, die ihren Beruf verfehlt hatten. Hatten beinahe alle Fächer durch, bis sie bei Englisch angelangten. „Herr Hubner ist auch einer dieser Gründe, warum mein Schließfach erst jetzt geräumt wird. Mein Wissen stammt aus amerikanischen Serien und Songtexten, wie bitte soll ich Gedichte aus dem 18. Jahrhundert interpretieren?"
Joshi schüttelte den Kopf, seine Haare waren nicht mehr so nass wie zu Beginn seiner Busfahrt. Es ging ein leichter Wind, der einige, bereits trockene Haarsträhnen, übereinander legte. „War Matthi auch mit bei dir in Englisch?", fragte Raphael. Joshi nickte. „War er." Raphael linste zu ihm herüber, versuchte zu erahnen, ob er seine Frage merkwürdig gefunden hatte. Anscheinend nicht.
„Die Sache mit Lissa ist furchtbar." Joshi drehte sich zu ihm um, erwähnte nicht, dass er dabei gewesen war. „Muss ihn wirklich mitgenommen haben." Joshi trug ein schwarzes Lederband um sein linkes Handgelenk, beim Sprechen schob er es unruhig hin und her. „Herr Hubner hat Matthi dafür geliebt, dass er in Australien war. Er hatte diesen Dialekt und hat da unten offenbar gelernt, wie man Gedichte aus dem 18. Jahrhundert interpretiert. Matthi hätte sich nur noch in diese verdammte Prüfung setzen müssen und hätte sein Abi auch mit einem Ergebnis von null Punkten bestanden."
Raphael biss sich auf die Unterlippe. „Schon komisch, sein Abi so kurz vor dem Ziel hinzuschmeißen", bemerkte Joshi, ließ von seinem Lederband ab und nickte Raphael zu. Sie waren vor dem Eingang angekommen. „Aber was soll ich sagen, hab's jetzt ja schließlich doch noch selbst geschafft."
Er hob die Hand zum Gruß, drehte sich im Weggehen nochmal zu Raphael um. „Viel Glück für dich im nächsten Jahr!", rief er ihm über die Schulter hinweg zu, dann verschwand Joshi in Richtung der Schließfächer. Raphael blieb noch einige Sekunden lang stehen, dann warf er einen Blick auf seinen Stundenplan. Chemie. Und wenn sie die Klausur zurückbekommen würden, konnte er Joshis Glück auf jeden Fall gebrauchen.
Jonathan wirkte ein bisschen enttäuscht, als Raphael ihm eröffnete, trotz seiner ausgiebigen Chemie-Hilfe nur knappe sechs Punkte erreicht zu haben. „Immerhin sind es noch sechs geworden", bemerkte er auf dem Weg zu den Sporthallen. „Ich glaub du hast in der letzten Aufgabe Kohlenstoffdioxid als Produkt der Esterbindung angegeben. Allein dafür-" Raphael verdrehte die Augen und verpasste Jonathan mit seiner grandiosen Chemie Klausur einen Schlag auf den Kopf. Dazu war der Papierbogen wenigstens noch zu gebrauchen.
Die Sportumkleiden waren alt und muffig. Der Geruch, der sich in den Holzbänken eingenistet hatte, war unverkennbar. Raphael würde ihn unter tausenden erkennen. Es roch nach vergessenen Pausenbroten, nach überquellenden Toiletten und nach Frustration. In einer Ecke des Raumes hingen ein Paar Turnschuhe an einem Nagel, der aus der Wand herausragte. Niemand wusste, warum die Turnschuhe dort hingen und niemand wusste, warum sie nicht entsorgt wurden.
Wie immer sicherte Raphael sich seinen Stammplatz neben dem Mysterium der vergessenen Turnschuhe. Die Umkleide füllte sich schleppend, die meisten zogen sich schnell um, freuten sich bereits auf die eine Stunde Sport, das Beste an ihrem Schultag. Raphael versuchte, sich extra langsam die Schuhe zuzubinden. Er hasste Volleyball wie die Pest. Generell war er nicht für Dinge geschaffen, die auch nur im Entferntesten etwas mit Bällen zu tun hatten.
Allein das Einspielen war schon eine Qual. Jonathan und er spielten sich die Bälle zu, liefen ihnen hinterher, wenn sie mal wieder quer durch die Halle sprangen. Jonathans Gesicht hatte schon nach wenigen Minuten eine tiefrote Färbung angenommen, die sich noch intensivierte, als Annika, ein Mädchen mit rot getönten Haaren, die zu zwei dicken Zöpfen geflochten waren, ihm seinen verlorenen Ball zuwarf. Jonathan fing den Ball zu spät, er knallte ihm auf die Nase.
Annika wendete sich seufzend ab, Raphael klopfte Jonathan auf die Schulter, dann wurden sie von Frau Gruber zusammengerufen. „Mika und Luca, ihr wählt die Mannschaften", verkündete sie, während Raphael versuchte abzuschätzen, ob er als vorletzter oder letzter aufgerufen werden würde.
Vorvorletzter. Besser, als das letzte Mal. Mika hatte sich mal wieder von seiner Größe täuschen lassen. Natürlich hätte Raphael die Bälle rein theoretisch im besten Winkel übers Netz schlagen können, in der Realität klappte das jedoch nicht so gut.
„RAPHAEL!"
Er zuckte zusammen. Für seinen Geschmack waren das am heutigen Tag schon viel zu viele Wutreden gewesen, die genauso anfingen. „Raphael, sag mal, kannst du mir das mal erklären?" Frau Gruber unterbrach das Spiel, Mika verkniff sich ein Grinsen. „Du stehst hier am Netz, nicht wahr?" Raphael nickte. „Sehr gut. Dann heb mal deine Arme." Raphael tat wie geheißen, spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg und Jonathan ihn mitleidig ansah. Seine Hände und Unterarme ragten über das Netz, auf der anderen Seite stand eine von Annikas Freundinnen. „Jetzt hebst du mal bitte deine Arme", herrschte Frau Gruber sie an. Annikas Freundin tat wie geheißen, ihre Fingerspitzen erreichten nicht im Entferntesten die Oberkante des Netzes.
Mika lachte, ein paar andere grinsten. Frau Gruber schien das nicht so lustig zu finden. „Wie Raphael, wie kann es sein, dass sie besser blockt als du?" Raphael seufzte. „Ich versuche es jetzt besser zu machen", murmelte er halbherzig. Frau Gruber wirkte nicht überzeugt, eher resigniert. „Dann los, weiter. Luca, ihr habt Aufschlag."
Zurück in die stinkenden Umkleiden, der Geruch verschiedener Deodorants vermischte sich zu einer ekelhaften Wolke, die einem Kopfschmerzen bereitete. Sie hatten gnadenlos verloren, jetzt war Raphael schon beinahe froh, Erdkunde zu haben. Packte Sportschuhe und Kleidung zusammen, erzählte Jonathan auf dem Weg ins Hauptgebäude von seinem ertränkten Handy.
Erfuhr, dass er vergessen hatte, sich die nahende Erdkunde Klausur in den Kalender einzutragen, verzweifelte noch mehr, als Frau Dietrich in Kunst erwähnte, dass sie alle für den anstehenden Film-Workshop Sequenzen vordrehen sollten. Sie fragte, ob jemand schon ein paar vorläufige Ideen präsentieren konnte und eskalierte, als niemand auch nur eine halbe Minute bewegte Bilder besaß.
Raphael betrachtete ihr verzerrtes Gesicht, die hektischen Flecken, die sich auf ihren Wangen bildeten. Sah die Blicke, die die anderen im Kurs untereinander austauschten und überlegte gleichzeitig, wie er etwas filmen sollte, wenn er kein funktionierendes Handy besaß und die Familienkamera aus Gesichtern Pixel machte.
„Du siehst gestresst aus."
Raphael konnte die Stimme erst zuordnen, als er das passende Gesicht dazu erblickte. Junas Gesicht. Eine willkommene Abwechslung zu dem Text in Schriftgröße acht, der sich über zwei Seiten erstreckte und sich leider nicht von selbst zusammenfasste.
„Bisschen", antwortete Raphael und klappte seine Unterlagen zu. Im Aufenthaltsraum Hausaufgaben machen zu wollen hatte noch nie funktioniert. Unter den aufgehängten Plakaten, die Hilfe bei psychischen Problemen anboten, veranstalteten zwei Typen einen Ringkampf um ein halbes Snickers.
„Ist das Auto wieder heil bei dir zuhause angekommen? Matthi hatte glaub ich vergessen, das Fenster zu schließen." Juna nickte. „Ja, alles klar. Ihr seid nass geworden, oder? Hab von den anderen gehört, dass sie samt Grillzeug und allem auf halben Weg wieder umgedreht sind, weil es so angefangen hat zu schütten."
Raphael dachte an den Nachmittag zurück, an die dunklen Gewitterwolken und die zuckenden Blitze. „Sind nur ein wenig nass geworden." Ein wenig. Das war eine Untertreibung. Raphael schmunzelte. „Allerdings hat mein Handy nicht überlebt. Seit Donnerstag macht das gar nichts mehr." Juna verzog das Gesicht. „Eine Arbeitskollegin meiner Mutter will ihr Handy verkaufen, wenn du willst kann ich mal nachfragen, wie viel sie dafür haben will."
Juna sah Jonathan, der neben Raphael in seine Physik Hausaufgaben vertieft war, fordernd an und ließ sich dann neben sie fallen. „Ja, das wäre nett", erwiderte Raphael und sträubte sich bei den Gedanken an sein Bankkonto. Lissas Handy lag immer noch in der hintersten Ecke seiner Schreibtischschublade.
Er hatte es kein einziges Mal angefasst, seit dem es dort lag. Die meiste Zeit über schaffte er es, die Anwesenheit des Handys zu ignorieren, aber in Momenten wie diesem schien es allgegenwärtig. Er hätte es nie anmachen dürfen, er hätte nie auch nur irgendwelche Nachrichten an Juna senden dürfen. Hätte das Problem nie so lange vor sich hin schieben dürfen. Schon gar nicht, weil es Juna und Matthi etwas bedeutete.
„Aber was ich eigentlich fragen wollte-", Juna hob die Stimme und durchdrang seine Gedanken, „-ist, ob du irgendwann Zeit hättest ein paar der Werkstätten anzurufen." Sie senkte ihre Stimme, als Jonathan sich räusperte. „Nur zwei oder so. Ob die in letzter Zeit matten Lack verwendet oder verkauft haben. Du kannst ja auch nochmal deinen Freund fragen. Diesen-" „Thomy", ergänzte Raphael und stöhnte resigniert auf. „Ja, genau der. Ich hab am Wochenende sein Instagram-Profil gefunden. Der arbeitet doch immer noch da."
Raphael schüttelte den Kopf. „Teilweise, ja. Ansonsten macht der eine Art Ausbildung." Sie zuckte mit den Schultern. „Kann sein, das stand nicht in seiner Beschreibung." Juna lachte, Jonathan warf Raphael über ihre Schultern hinweg einen fragenden Blick zu, bevor er sich wieder seinen Berechnungen widmete.
„Frag erstmal Matthi", wand er ein. „Ich möchte mich da nicht zu sehr-" Juna unterbrach ihn energisch. „Du kannst nicht einfach Hinweise fallen lassen und dann wieder aussteigen! So läuft das nicht!"
Raphael hob abwehrend die Hände. „Es ist aber auch nicht meine Entscheidung. Rede mal mit Matthi, vielleicht kann der nochmal bei der Polizei nachhaken." Juna schnaubte leise und seufzte. „Matthi hat gesagt, ich solle dich fragen. Jetzt frage ich dich und du erzählst mir ich solle dahin gehen, wo ich schon mal war?" Raphael kniff die Augen zusammen, nickte. „Ja, das trifft es ganz gut."
Juna verdrehte die Augen, stand auf. „Besten Dank", sagte sie zum Abschied und drehte sich nochmal zu ihm um. „Und übrigens, wo wir schon mal bei Instagram waren-", sie grinste und entblößte dabei eine Reihe weißer Zähne, „mir folgt seit kurzem eine gewisse Celine Wolf. Matthi hat mir von deinem Alibiplan erzählt, du Spaßvogel." Raphael riss den Mund auf, wollte sich rechtfertigen und sagen, dass Matthi derjenige mit dem Alibiplan war, aber da war Juna auch schon auf dem Weg zurück zu ihren Freundinnen.
„Celine Wolf, Juna Mair - Sag mal hab ich was verpasst?"
Physik Hausaufgaben waren wohl auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Wenn sie sogar Jonathan zum Sprechen brachten. Raphael zog die Schultern hoch. „Frag mich nicht, ich weiß es doch auch nicht", antwortete er und legte die Füße auf einem ramponierten Beistelltisch ab.
„Na dann." Jonathan grinste und begann bereits damit seinen Taschenrechner mit neuen Zahlenreihen zu speisen. „Korrigier mich, falls ich falsch liege, aber Juna und Celine klingt beides nicht schlecht." Raphael würdigte Jonathan mit einem kurzen Seitenblick, dann lehnte er sich zurück. Nicht schlecht war die eine Sache. Aber richtig gut die andere.
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