33 - Matthi
Matthi leckte sich die verbleibenden Reste der Pommes Gewürzmischung von den Fingern, Raphael saß einfach da und wunderte sich über das, in was er da hinein geraten war. Vor gut einem Monat hatte er Juna und Matthi quasi noch nicht gekannt, vor einem Monat war Lissa noch am Leben gewesen und vor einem Monat hätte er auch niemals einen Gedanken an die Lippen eines anderen Jungens verschwendet. Zumindest nicht so, wie er es jetzt tat.
Raphael barg den Kopf in den Händen und rieb sich die Schläfen. „Müde?", fragte Matthi und wischte sich die Finger am Handtuch ab. Fast, dachte Raphael, nickte aber. „Ganz eindeutig zu wenig Schlaf." Dass er nicht einschlafen konnte, weil ihm sein Gedankenkarussell Nacht für Nacht nicht zu Ruhe kommen ließ, erwähnte er nicht. Wie sollte er denn mit der ganzen Sache umgehen, wenn er sich noch nicht mal traute, sie beim Namen zu nennen? Und außerdem, wie sollte er einen klaren Gedanken fassen, wenn ihn allein die Tatsache, dass Matthi ihm gegenüber saß, furchtbar nervös und glücklich zugleich machte?
„Kaltes Wasser soll da helfen, hab ich gehört", fuhr Matthi fort und grinste. Raphael zog eine Grimasse. „Aber ich bin schon fast wieder trocken", erwiderte er schwerfällig und rutschte auf dem Handtuch herum, bis er komplett in der Sonne lag. Mit Juna und den anderen Zweien war es ihm vollkommen normal vorgekommen im Wasser herum zu albern. Er konnte sich es nicht vorstellen, dass es jetzt genauso werden würde. „Und außerdem bekommst du einen Sonnenbrand auf der Nase", versuchte Raphael die Diskussion damit zu beenden. Matthi tastete sich über Nase und Wangen, die gerötete Haut färbte sich erst weiß, bevor sie wieder ihre intensive Tönung annahm. Dann zuckte er mit den Schultern.
„Willst du noch hier bleiben, bis Tobi und die anderen für das Lagerfeuer kommen?", wechselte er das Thema. Raphael schürzte die Lippen, Matthi „Tobi war mal in deiner Stufe, oder?", fragte Matthi und während er ihn ansah, überkam Raphael das Gefühl, dass er mit nur einem einzigen Blick all seine Gedanken erfassen konnte. Er beschränkte sich auf ein knappes Nicken. Er hatte schon wieder verdrängt, was Juna über das Lagerfeuer und die Pläne der anderen erzählt hatte.
„Wir waren sogar relativ gut befreundet, bis er die Schule gewechselt hat. Aber danach haben wir uns kaum noch gesehen." Raphael biss sich auf die Zungenspitze und beobachtete die Entenfamilie, die laut schnatternd ein paar kreischenden Kindern auswich. Die Kinder warfen einander einen pinken Ball zu, Raphael fragte sich, ob Matthi auch schon dankbar dafür gewesen war, dass es kein grüner Ball war.
Er versank noch ein wenig tiefer in seinen Gedanken. Im letzten Sommer war auf einem benachbarten Weidestück hinter dem schmalen Waldstreifen ein elektrisch gesicherte Zaun defekt gewesen und auf einmal hatten sich die Badenden sich das Seewasser mit ein paar Kühen teilen müssen. Diese Sensation hatte tagelang das Sommerloch der Zeitungen gefüllt und schließlich kannte jeder mindestens einen Augenzeugen dieses denkwürdigen Tages.
Tobi war dagewesen, das hieß es zumindest. Aber Rica hatte das eindeutig verneint. Sie war auch eine dieser Augenzeugen und viele der Nachbarn hatten sich anschließend bei ihr nach dem Vorgehen derer erkundigt, die die Kühe gemeinsam mit dem einen einsamen und spitz hornigen Bullen wieder aus dem See heraus getrieben hatte. Und jetzt würde Tobi wieder da sein. Raphael seufzte leise. Matthi schenkte ihm einen wissenden Blick.
„Ich hab Tobi vor ein paar Wochen nochmal in Warnheim gesehen. Aber mehr als ein Hallo, wie geht's hatten wir uns nicht mehr zu sagen. Dabei, wie gesagt, hab ich mich früher wirklich gut mit ihm verstanden. Teilweise sogar besser als mit Rica.", erzählte Raphael. „Rica ist deine mysteriöse Freundin?" „Jep", sagte er zustimmend und schmunzelte über den schlechten Witz, den Matthi unbedingt bei jeder Gelegenheit auspacken musste. „Sie hat so rosa blonde kurze Haare. Du kennst sie bestimmt vom Sehen. Ich hab immer das Gefühl, sie kennt die ganze Stadt und die ganze Stadt kennt sie."
Matthi überlegte kurz, dann ging ihm ein Licht an. „Stimmt, jetzt wo du es sagst. Sie hat bei diesem dummen Bundesjugendspielen auf dem Sportplatz immer die Ehrenurkunde bekommen, hab ich Recht?" Bei dem Gedanken an die Bundesjugendspiele und die unnützen Stunden, die sie auf dem staubigen roten Schotter verbracht hatten, lachte Raphael kurz auf. Die Sportfeste der beiden Schulen fanden schon seit Jahren zusammen statt. Vermutlich, um sich die Kosten zu teilen, die der finanziell solide aufgestellte Warnheimer SV jedes Jahr einforderte.
Ricas Schule war grundsätzlich besser und sie selbst hatte die Disziplinen lediglich als Aufwärmübung für ihr späteres Hürdenlauftraining gesehen. „Sie hat sich immer darüber lustig gemacht, wie schlecht Tobi und ich sind. Rica war immer schneller und ist immer weiter gesprungen." Raphael lächelte schwach. „Bei den letzten Bundesjugendspielen stand ich dann mit Jonathan da und Tobi war bei den Leuten von seiner neuen Schule." Raphael räusperte sich und machte eine wegwerfende Handbewegung.
So war es einfach und jetzt konnte er sowieso nichts mehr daran ändern. Man konnte nicht mit jedem den Kontakt halten und Tobi hatte schließlich auch das Recht dazu, sich neue Freunde zu suchen. Freunde, die ihm sofort mehr wert waren, schoss es Raphael durch den Kopf, aber er verbannte den Gedanken aus seinem Gedächtnis. „Mit Jonathan hat Rica sich dann noch nicht mal verglichen. Wahrscheinlich fand sie es erniedrigend ihm gegenüber."
Matthi lachte leise, Raphael schwieg. Die Entenfamilie hatte sich jetzt von den Kindern mit ein paar wabbeligen Pommes anlocken lassen, ein kleiner Junge schrie erschrocken aus, als ein besonders frecher Erpel nach ihm schnappte. Der pinke Ball trieb achtlos im Wasser und verfing sich an einem veralgten Stück Treibholz. Raphael sah den Kindern noch eine ganze Weile lang zu, bis Matthi weiter sprach.
„Nach Australien ging es mir ähnlich. Mit den meisten meiner Freunde hab ich über das Jahr hinweg lockeren Kontakt gehalten, hab ihnen geschrieben oder wir haben geskypt. Aber danach, als man sich dann plötzlich gegenüber stand, war es merkwürdig." Er stockte und sah auf seine Handflächen. Raphael sah weg, als Matthi aufblickte und den Kopf in seine Richtung drehte.
„Sie haben gesagt, ich hätte mich verändert." Wieder eine Pause. „Was bestimmt auch stimmt. Man geht nicht ein Jahr lang ans andere Ende der Welt und kommt dann als genau derselbe wieder zurück. Außerdem-" Er stockte und warf Raphael einen unsicheren Blick zu. Er betrachtete immer noch Matthis Hände. Die Fingerkuppen waren ein wenig verschrumpelt vom Wasser. Wie früher, als man Ewigkeiten im Planschbecken verbringen konnte. Matthi schien seinen Blick bemerkt zu haben und lachte zögernd.
„Ich weiß auch nicht was für eine komische Mutation meine Hände haben. Die werden schon nach kürzester Zeit so hutzlig." Raphael schmunzelte über das Wort. Hutzlig. Es klang schön. „Aber wenn man davon absieht, dass es komisch aussieht, ist es ziemlich praktisch. Die Falten erhöhen die Oberflächenhaftung. Es ist weniger rutschig." Matthi sah ihn strahlend an, begeistert von seinen hutzligen Fingerkuppen. Dann fingen er und Raphael gleichzeitig an zu lachen. Raphael spürte, wie die Anspannung plötzlich von ihm abfiel, wie ihm leichter ums Herz wurde und all die Gedanken und Fragen einen Augenblick lang verschwanden.
„Lissa und ich haben mal so Art Alienhüte für meine Finger gebastelt. Sie hatte so ekelhafte Klebenägel für Halloween und ich durfte dann als Alien mit Schrumpelfingern gehen." Raphael grinste, denn Matthi wirkte immer noch so, als würde er ihr das nachtragen. „Ich bin an Karneval mal als Zebra gegangen", eröffnete Raphael ihm dann. „Das war peinlich, kann ich dir sagen." Er verbarg einen Moment lang den Kopf in den Händen. „Ich hätte dieses verdammte Kostüm am liebsten noch in der Schule ausgezogen." „Aber den Adam spielen ist dann auch nicht wirklich besser", witzelte Matthi. Raphael wartete geradezu darauf, dass er vom Zebra auf den Ellie-Elefant überging, aber dann stahl ihm ein Vibrieren diese Möglichkeit.
Das monotone Brummen zerteilte den Augenblick und nach ein paar Sekunden, in denen sie wie erstarrt da saßen, streckten Raphael und Matthi sich gleichzeitig nach der Sporttasche, von der das Vibrieren ausging.
Matthis hutzligen Finger steiften Raphaels Unterarm und sandten tausend kleine Wellen durch seinen Körper. Er hielt den Atem an und merkte trotzdem, wie ihm Matthis Duft in die Nase stieg. Er roch nach kaltem Seewasser und Sonne, nach Pommes Gewürzmischung und einem Hauch von Vanille. Nicht nach Vanillinzucker, in dem kein einziges Stück echter Vanille steckte, sondern nach dem würzigen, beinahe schon herben Geruch der dunklen Schote, die ihr Aroma erst entfaltet, wenn man sie mit größter Behutsamkeit behandelt.
„Dein Handy. Willst du nicht rangehen?"
Matthi hatte es als erstes aus einer der Seitentaschen gefischt. Raphael sah auf die Nummer. Er kannte sie nicht, sie war noch nicht mal eingespeichert. Dann fielen ihm die zwei Nachrichten ein, die Celine ihm gesendet hatte. Raphael blinzelte und atmete scharf ein. Matthi hob eine Augenbraue. „Wer ist das?", fragte er, das vibrierende Handy immer noch in den Händen haltend. „Celine", antwortete Raphael gequält und zwang sich zu einem unwilligen Lächeln, als er das Handy entgegennahm.
„Hallo?", begann er und bemerkte Matthis Grinsen im Hintergrund. Er zog ihm eine Grimasse, Celine antwortete und Raphael musste nachfragen, was sie gesagt hatte, weil er immer noch mit Matthis unverschämten Feixen beschäftigt war.
„Hey", wiederholte Celine und Raphael wäre beinahe zusammen gezuckt. Er hatte ihre Stimme weniger schrill und hoch in Erinnerung gehabt. „Ich wollte mal fragen wie es dir so geht und-" Sie stockte und schwieg. Raphael kratzte sich am Hinterkopf. „Ja, doch. Mir geht es ganz gut." Eine Pause entstand, Matthi als amüsiert zu beschreiben, wäre eine Untertreibung gewesen. „Eh, und dir?", fügte Raphael mit einer so deutlichen Verspätung hinzu, dass sie selbst Celine zum Lachen brachte. Allerdings nur kurz.
„Gut."
„Schön."
Im Gegensatz zu Juna stand Raphaels Handylautstärke nicht auf hundertfünfzig Prozent, daher konnte Matthi Celine nicht hören, aber scheinbar war das Gespräch auch so schon belustigend genug. „Was macht Paul?", fragte Raphael in Ermangelung eines besseren Gesprächthemas. „Nichts, macht der", sagte Celine und schien zu überlegen. Raphael konnte ihren Atem durch den Hörer hindurch hören. „Obwohl, Jus meinte, er habe ihn nach mir gefragt und letztens lagen ein paar Blumen vor der Tür. Hässliche zwar, aber dennoch."
„Aha", machte Raphael und zwang sein Gehirn fieberhaft dazu, sich eine bessere Antwort einfallen zu lassen. „Das ist doch schon mal kein schlechtes Zeichen, oder?" Er biss sich auf die Zunge. Falsch, das war jetzt wahrscheinlich ganz falsch gewesen. Zumal Celine nichts mehr sagte. Mehr als falsch. Falsch im negativen Bereich. „Also, ich meine-", stotterte er, unwissend, was er wirklich sagen wollte. „Du kannst die Blumen zur Not ja immer noch wegwerfen."
Matthi entwich ein lautes Prusten. Raphael starrte ihn missbilligend an, konnte sich ein Schmunzeln über seine eigene Unfähigkeit aber selbst nicht verkneifen. „Hab die schon weggeworfen." Raphael räusperte sich und sagte nichts. Gleichzeitig wollte er aber auch irgendetwas sagen, denn wenn er schwieg würde Celine Matthis Lachen hören können. Also atmete er etwas geräuschvoller und tiefer, in der Hoffnung, das würde wenigstens ein bisschen helfen.
„Okay, Raphael, hör zu", sagte Celine dann und im Hintergrund war ein schwaches Rufen einer männlichen Stimme zu hören. „Jus, halt den Mund!" Sie musste die Hand über den Hörer gehalten haben, denn der Ausruf war nur gedämpft zu hören. „Einen Moment, Raphael, Jus findet die Grillkohle nicht. Dieser Idiot. Ich meine, grillt er oder grill ich?"
Es gab ein lautes Scheppern und Celine legte ihr Handy beiseite. Raphael starrte auf sein eigenes Display und schüttelte den Kopf. „Hat sie aufgelegt?", fragte Matthi, den nächsten Witz schon auf der Zunge liegend. „Nein", gab Raphael zurück und runzelte die Stirn. „Was zur Hölle ist eigentlich so komisch?" Matthi glättete eine Falte seines Handtuchs. „Du kannst die Blumen zur Not ja immer noch wegwerfen." Er lachte immer noch. „Ich weiß zwar nicht um was es ging, aber ich glaub das ist in keinem Kontext gut."
Raphael verdrehte die Augen. „Ach lass mich in Ruhe mit diesen dämlichen Blumen", murmelte er und hörte sich schon so an wie Rica in ihrer Phase elterlicher Rebellion. Er hielt sich das Handy nochmal ans Ohr um zu überprüfen, ob Celine wieder da war, aber als das nicht der Fall war, drehte er sich zu Matthi um. „Weißt du, ob Justus, also Celines Bruder heute auch hierher kommt? Zu diesem Lagefeuer? Er sucht nämlich gerade Grillkohle." Matthi runzelte die Stirn. „Vielleicht grillen die ja auch im Garten", erwiderte er, allerdings nicht wirklich überzeugt. „Ich könnte Joshi fragen. Wenn er kommt, kommt Jus auch. Aber ich wüsste nicht, seit wann die viel mit Tobi und-"
„Raphael!", unterbrach Celine Matthis Ausführungen.
„Ja, bin noch da. Was wolltest du eben sagen?" Am anderen Ende der Leitung räusperte Celine sich. „Ich wollte mal nachhören, ob du am Wochenende schon etwas geplant hast. Ich zumindest hätte Zeit." Celine lachte und Raphael hätte sein Taschengeld darauf verwettet, dass sie sich genau in diesem Moment eine Haarsträhne hinters Ohr klemmte. „Am Wochenende..." Er atmete geräuschvoll aus. „Wann würde es denn für dich passen?"
Matthi verbarg den Kopf in den Händen, Raphael drehte sich von ihm weg, um sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Obwohl er vom Konzept mittlerweile schon so weit entfernt war wie die Welt vom Frieden.
„Samstag vielleicht?" „Samstag, also", wiederholte Raphael um Zeit zu schinden. Celine war nett, ohne Frage, aber war es denn nicht einfach nur heuchlerisch und unaufrichtig ein Treffen mit ihr zu vereinbaren? Besonders, weil er sie oder sie ihn ohnehin nie hätte küssen dürfen? Ringend suchte Raphael nach einem Ausweg. „Samstag ist bei mir leider schlecht. Und Sonntag wird es schwer sich loszueisen. Familientag und so." Raphael hustete, obwohl er nichts im Hals stecken hatte, allein um die unangenehme Stille zu überbrücken.
„Oh ja, klar. Dann nicht", sagte Celine etwas zu schnell. Raphael schloss die Augen und rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. Als er die Augen wieder öffnete, hielt Matthi ihm die Hand auffordernd entgegen. Raphael runzelte die Stirn. „Was?", sagte er tonlos ohne die Lippen zu bewegen. „Lass mich das regeln." Matthi hatte seine selbstüberzeugte Miene aufgesetzt und streckte ihm immer noch die offene Handfläche entgegen.
Als Raphael nicht darauf einging, nahm Matthi ihm das Handy einfach aus der Hand. Raphael schnappte entrüstet nach Luft, aber da hatte Matthi sich auch schon zu Wort gemeldet. „Hey Celine", begrüßte er sie und Raphael bekam große Lust, sich im See ertränken zu gehen. Andererseits war er einfach nur erleichtert, dass er nicht mehr derjenige mit Handy am Ohr war. Anscheinend war Celine genauso perplex wie er über den plötzlichen Wechsel der Gesprächspartner. Denn das nächste, was Raphael hörte war: „Matthi, was dachtest du denn?"
Dann lachte er. Matthis Oberlippe wurde schmaler, wenn er lachte und spannte sich, sodass die Einkerbung unterhalb der Nase noch markanter wurde. Matthi nickte Raphael aufmunternd zu und zwinkerte. Wieder dieses Zwinkern. Zum Teufel mit dem Zwinkern. „Weißt du, Raphael hat am Samstag wirk-lich keine Zeit." Matthi reckte einen Daumen in die Höhe. „Siehst du, ich regele das!", formten seine Lippen, dann sprach er weiter. „Er wollte nur nicht, dass du dich versetzt fühlst. Er trifft sich mit Juna. Du weißt schon, Lissas Freundin."
Wäre Raphaels Kinnlade nicht an seinem Kopf festgewachsen, läge sie jetzt auf dem klammen Handtuch zu seinen Füßen. Celine sagte irgendetwas, Matthi grinste. „Nein." Er lachte. „Nein, natürlich nicht." Eine kurze Pause. „Nur so, einfach so. Ist ja nicht verboten." Raphael löste sich aus seiner plötzlichen Starre und klappte den Mund wieder zu. „Matthi, gib mir das Handy wieder. Mach keinen Mist." Matthi hörte nicht auf ihn, warum denn auch, dafür klang er viel zu flehentlich.
„Ne, die ist nicht mit Joshi zusammen. War Lissa übrigens auch nie." Raphael entwich ein verzweifeltes Stöhnen. „Gib mir mein Handy wieder, bitte." Matthi verdrehte die Augen, ihm schien die Angelegenheit Spaß zu machen. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Matthi, jetzt reicht es!", wehrte Raphael sich protestierend und lehnte sich zu ihm herüber. „Gib es zurück, komm schon!"
Matthi rückte von ihm weg, Raphael rückte hinterher und streckte sich, um seinen Arm zu packen. „Celine, tut mir wirklich leid, aber ich glaub Raphael will, dass ich ihm sein Handy wiedergebe. Eines noch, hat Jus heute Abend noch was vor?" Raphael ließ von ihm ab und blieb auf Matthis Handtuch sitzen. Er nickte, das Hand immer noch am Ohr haltend. „An den See mit ein paar Freunden? Und da bist du dir sicher? Ja, gut. Danke, Celine. Und sei nicht zu streng mit dem armen Ellie. Wie gesagt, er wollte nicht, dass du denkst-"
Raphael blickte gen Himmel, jetzt war es wahrscheinlich sowieso schon egal. Der Karren stand schon im Dreck, das Kind war schon in den Brunnen gefallen. „Dann ciao, schlag Jus von mir. Ich gib dich dann mal wieder weiter." Anstatt Matthi das Handy so schnell wie möglich wegzunehmen, nahm Raphael es nur widerstrebend entgegen.
„Celine, sorry, Matthi hat mir das Handy einfach aus der Hand gerissen", entschuldigte er sich, sobald er es wieder an sein Ohr hielt. „Keine Ursache. Ich kenne Matthi schon was länger." Celine lachte. „Jus und er waren Sandkastenfreunde, als Ludwigs noch hier oben gewohnt haben." Raphael nickte. „Ah, okay. Na, dann." Celine gab einen zustimmenden Laut von sich. „Aber du hättest mir das ruhig sagen können, Raphael." Sie lachte etwas zu hektisch und unbesorgt. Raphael gab sein bestes den Karren aus dem Dreck zu ziehen und das Kind aus dem Brunnen zu retten. „Ja, schon. Aber, hm, es ist nur für ein Schulprojekt und da wollte ich nicht, dass du-" Celine unterbrach ihn. „Spar dir das, ist schon okay. Dann eben nächste Woche."
Raphael nickte erleichtert. „Klar, warum nicht. Gerne." Die Erleichterung war nicht von langer Dauer gewesen. „Ich rufe dich an, ja?" Celine atmete laut in den Hörer aus. „Ich freu mich. Schlag Matthi von Justus und dann sehen wir uns bald." „Mach ich", bestätigte Raphael und wartete ein paar Sekunden lang. Dann murmelte er ein undeutliches „Bis dann", in den Hörer und legte auf.
„Himmel", sagte er mehr zu sich selbst als zu Matthi, dann packte er sein Handy zurück in die Sporttasche. „Du hast sie echt nicht mehr alle", sagte er in Matthis Richtung und schüttelte den Kopf. „Komm schon", forderte Matthi ihn auf und grinste breit. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass du schon wieder die Geburtstagsfeier deiner Oma als Ausrede benutzt. So viele Großmütter besitzt kein Mensch."
„Wofür gibt es Opas?", konterte Raphael und schmunzelte.
Matthi rollte mit den Augen. „Warum hast du nachgefragt, ob Justus und die anderen kommen?", fragte Raphael nach einer Weile und zerrupfte einen Grashalm. Matthi überlegte, bevor er antwortete. „Weil ich nicht weiß, mit wem Tobi befreundet ist." Ein paar Sekunden verstrichen. „Und ich habe heute keine Lust auf eine Prügelei." „Ach, heute mal ausnahmsweise nicht?", betonte Raphael und lachte über seine eigene Bemerkung.
Bis er merkte, dass Matthi es augenscheinlich nicht lustig fand. Und plötzlich erinnerte Raphael sich an die blutigen Faust, das zu einer wütenden Fratze verzerrte Gesicht. Damals, am Tag des Unfalls, hätte Raphael Matthi es wirklich zugetraut, den Fahrer aus dem Auto zu zerren und tot zu prügeln. Jetzt, einige Wochen später waren von diesen Gedanken in seinem Gedächtnis nicht mehr viel übrig geblieben. Lediglich die zersplitterte Fensterglasscheibe und die feinen blutigen Rinnsale auf Matthis Handrücken hatten sich unwiderruflich eingebrannt. Und seine pinken Flip Flops, die jetzt neben ihm am Handtuchende lagen. Merkwürdig eigentlich, dass er den Rest vergessen hatte.
„Tut mir leid", sagte Matthi leise und seine Lippen kräuselten sich. „Aber ich habe mich vor ein paar Wochen mit einem von Tobis Schule angelegt. Dieser Schwachkopf hat einen auf total betroffen gemacht. Dabei kannte er sie kaum. Wollte nur Details haben, um damit die Gerüchteküche zu füttern." Er schnaubte verächtlich. „Und wenn ich diesem Mistkerl nochmal begegne, dann kann er sich ein Grabstein am anderen Ende des Friedhofes aussuchen."
Raphael schwieg eine Zeit lang, bis Matthi sich wieder beruhigt hatte und die Ader an seinem Hals aufgehört hatte, hektisch zu pulsieren. „Gehst du noch oft hin?", fragte er. „Zum Friedhof meine ich." Er hob die Schultern und wirkte plötzlich verloren und einsam auf seinem Handtuch. „Manchmal", antwortete er ausweichend und wackelte mit den Zehen. Raphael nickte und fragte nicht weiter. Schuldbewusst musste er sich eingestehen, dass er schon gar nicht mehr wusste, wie Lissas Grabstein überhaupt aussah.
„Was hältst du denn jetzt davon, nochmal kurz schwimmen zu gehen?", wechselte Matthi gekonnt das Thema. „Um dann zu verschwinden, bevor Tobi und etwaige Freunde kommen, die nicht unter der Erde landen sollen?", ergänzte Raphael und nickte. „Ja, lass uns nochmal schwimmen gehen." Matthi grinste siegessicher und fuhr sich mit einer Hand durch das bereits getrocknete Haar.
Raphael hielt ihn zurück. „Allerdings nur, wenn wir keine Ewigkeiten damit verschwenden, uns ans kalte Wasser zu gewöhnen." Matthi hob die Augenbrauen. „War das gerade etwa ein unauffälliger Hinweis darauf, dass du mich für einen Schisser hältst?" Raphael zuckte mit den Schultern. „Du würdest mir das Gegenteil beweisen, wenn du mit von einem der Felsvorsprünge springst." Matthi schien mit sich zu kämpfen, aber Raphael ließ ihm nicht die Zeit für eine imaginäre Pro und Kontra Liste. Immerhin musste er sich entscheiden, bevor Raphael selbst kalte Füße bekam.
Mit einem Seufzen gab Matthi sich geschlagen. „Na schön", sagte er und eine steile Sorgenfalte erschien zwischen seinen Brauen. „Familiengräber wirken umso schöner." Raphael verdrehte die Augen und nahm einen seinen Flip Flops um ihn damit zu schlagen. „Darüber macht mein keine Witze." Matthi schnaubte. „Frauen dürfen sexistische Witze machen, Schwarze welche über ihre Hautfarbe und ich welche über mich selbst. Das ist schon in Ordnung, also hab dich nicht so." Raphael gab ihm einen weiteren Klaps mit dem Flip Flop. „Der ist noch von Justus. Diesen Gruß sollte ich dir ausrichten. Meine Rache für die Handy-Aktion folgt übrigens auch noch."
„Rache macht viel weniger Spaß, wenn man sie vorher ankündigt", bemerkte Matthi trocken. „Achja?", entgegnete Raphael. „Ich glaube das Gegenteil. Denn wenn man sie ankündigt und seine Aktion trotzdem durchzieht, gibt es kein besseres Gefühl als den verzweifelten Gesichtsausdruck seiner Opfer."
Sie grinsten sich an, aber als Raphael Matthi schließlich vom Felsvorsprung hinab in den See schubste, da zierte sein Gesicht genau diese fabelhafte Miene. „Rache ist die beste Rache!", brüllte Matthi, als er nach Luft schnappend wieder auftauchte. „Ich hoffe du traust dich überhaupt, Ellie! Sonst musst du nach Hause laufen!"
Raphael grinste noch breiter und aufgestachelt durch seine Rufe nahm er sogar noch ein paar Schritte Anlauf, bevor er mit einem großen Klatschen auf der betonharten Wasseroberfläche landete und ihm das Wasser ungehindert in die Nase stieg. Prustend und schnaufend tauchte Raphael auf, aber ihm blieb keine Zeit um zu überprüfen, ob sein Körper nach diesem Sprung nicht an irgendeiner Stelle zerplatz war. Von oben hatte es weniger tief ausgesehen. „Astreine Arschbombe", lobte ihn Matthi und schwamm auf ihn zu. „Blöd nur, dass du ab jetzt nicht mehr viel Zeit über der Wasseroberfläche verbringen wirst."
Raphael wollte erwidern, dass er sich seinen Rat mit der Androhung einer Rache offenbar zu Herzen genommen hatte, aber da lagen seine großen Hände auch schon auf seinen Schultern und drückten ihn mit aller Kraft unter Wasser.
Unzählige Male spuckte Raphael Wasser, unzählige Male drückte er oder wurde er runter gedrückt. Raphael und Matthi erklommen einen weiteren, kleineren Felsen und lernten mehr oder minder schmerzhaft, dass das Wasser an dieser Stelle nicht so tief war wie an der anderen. Matthi riss sich an einem scharfkantigen Vorsprung die Badehose kaputt und Raphael machte sich darüber lustig, dass dies bei der Fülle an Badehosen in seinem Kleiderschrank überhaupt kein Problem war.
Sie bemerkten erst ziemlich spät, dass sich das umgebende Ufer leerte und sie bemerkten erst ziemlich spät, dass sich außer ihnen niemand mehr im Wasser befand. Selbst die Entenfamilie hatte sich ins schützende Schilf zurückgezogen, als erste dicke Regentropfen auf der Wasseroberfläche zerplatzten.
„Scheiße, Matthi, es-", setzte Raphael an, kam aber erst wieder zu Wort, nachdem Matthi ihn gnädiger Weise auftauchen ließ. Er hustete und so langsam tat sein Hals vom ständigen Heraufwürgen des verschluckten Wassers weh. „Es regnet", stellte Raphael in lapidarer Kürze fest, aber als sie sich langsam umdrehten und aus der schützenden Höhle des dichten Blätterdachs herausschwammen, entblößte ihnen der pechschwarze Himmel das Ausmaß ihrer Misere in epischer Breite.
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