28 - Matthi

           

„Hey!" Matthi stand auf der anderen Straßenseite und hob die Hand. Raphael fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, nur um sich im nächsten Augenblick schmerzhaft zusammenzuziehen. „Hey", rief er etwas leiser zurück und schluckte. Es war Donnerstagnachmittag, eigentlich hätte Matthi schon längst mit Juna am See sein müssen. Aber dem war offensichtlich nicht so.

Raphael war sicherheitshalber sogar noch besonders langsam bis zur Bushaltestelle gegangen, genau um eine solche Situation zu vermeiden. Und jetzt stand Matthi dort und er hier mit einem dicken Kloß im Hals. Raphael fischte sein Handy aus der Hosentasche und scrollte durch seine Fotos, um den Anschein zu erwecken, irgendetwas Wichtiges erledigen zu müssen.

Anscheinend sah es nicht wichtig genug aus, denn aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Matthi die Straße überquerte. Gegen Nachmittag war es wieder sehr warm geworden, er trug ein blaues T-Shirt, das bei näherer Betrachtung genau dieselbe Farbe hatte wie der helle Kreis rund um seine Pupille. 

„Ist Juna auch noch abgesprungen, oder warum seid ihr noch nicht weg?" Raphael steckte sein Handy zurück in seine Tasche, bevor Matthi einen Blick auf seine Galerie erhaschen konnte. „Juna hat Stress mit ihrer Mutter. Oder besser gesagt", Matthi kratzte sich an der Nase, „muss sie warten, bis ihre Mutter wieder weg ist zur Arbeit. Wir brauchen nämlich das Auto."

Raphael runzelte die Stirn. „Ist sie schon achtzehn?" Matthi lachte leise. „Ne, aber sie fährt auch nur bis zu mir. Sind fünf Minuten oder so. Das letzte Mal hab ich hier Polizisten gesehen, das war-" Matthi räusperte sich, Raphael biss sich auf die Zungenspitze. Er wusste genau, wann er hier das letzte Mal Polizisten gesehen hatte. Die Sekunden verstrichen quälend langsam, es hätten genauso gut Minuten oder Stunden sein können. An Lissas Todestag. An Lissas Todestag hatte Raphael hier zum letzten Mal Polizisten gesehen.

„Wie dem auch sei, Juna kommt gleich, also hast du sogar noch die Chance, mitzufahren. Ich hab wirklich versucht, es nicht persönlich zu nehmen, dass du deine Oma uns vorziehst, aber-", Matthi sah Raphael bedauernd an und seine Augen blitzen schelmisch, „-aber es ist verdammt schwer." „Meine Oma?", hakte Raphael nach, bis ihm seine Ausrede schließlich wieder einfiel. „Meine Oma, ja klar. Der Geburtstag. Doch, da könnt ihr definitiv nicht mithalten."

Matthi grinste und bedachte ihn dann mit einem prüfenden Blick. „War wohl eine sehr spontane Feier, wenn du sie jetzt schon wieder vergessen hast. Sollte ich es doch persönlich nehmen?" Raphael stellte seinen Rucksack ab und zog die Reißverschlüsse zurecht. „Mmh, mir war es nur gerade entfallen." Er spürte, wie sich seine Wangen rot färbten, die Luft um sie herum schien noch ein paar Grad wärmer zu werden. Der Himmel war wolkenlos.

Matthi klopfte ihm auf die Schulter. „Kein Problem, ich will dich ja nicht zu deinem Glück zwingen. Aber du hättest einfach sagen können, dass du keine Lust hast." „Ich hab Lust, ich wollte nur nicht-", stotterte Raphael und verstummte. „Wollte nur nicht riskieren, dich in Badehose zu sehen, und dann aus dem Mist gar nicht mehr herauszukommen", setzte er den Satz in Gedanken fort und spürte sogleich, wie die Übelkeit wiederkam. Sein Neustem war sie sein ständiger Begleiter, genauso wie die Bauchschmerzen.

„Wie gesagt, noch hast du die Möglichkeit. Juna streitet sich noch mit ihrer Mutter." Raphael vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Mein Bus kommt gleich, außerdem hab ich gar kein Handtuch und-" Matthi verdrehte die Augen. „Also das ist jetzt wirklich kein Problem. Ich kann dir alles leihen. Oder wir fahren noch bei dir vorbei. Du wohnst doch eh da oben."

Verzweifelt suchte Raphael nach irgendeinen Ausweg, obwohl ein anderer Teil seines Gehirns schon damit beschäftigt war, sich den Nachmittag auszumalen. Es war ein stinknormaler Tag am See, zusammen mit Juna und Matthi. Sie würden sich über den unbekannten Fahrer unterhalten, Raphael würde ihnen vom Gespräch mit Thomy erzählen. Es würde schön werden. Warum also suchte er nach einer Ausrede?

„Dein Bus kommt." Matthi deutete ans Ende der Straße und grinste. „Also, entscheiden Sie sich jetzt, Herr Lengsmann", sagte er feierlich und um seine Augen herum zeigten sich feine Lachfältchen. Da wurde Raphael klar, dass er sich schon längst entschieden hatte.

„Dann komm ich eben mit", verkündete er und spürte, wie sein dummes Herz vor Aufregung begann schneller zu schlagen. „Gut, dann ist doch alles perfekt", stieß Matthi überschwänglich aus und zog Raphael am Arm über die Straße. Der Bus bremste, das Auto hinter dem Bus hupte, Matthi grinste breit und Raphael war glücklich.

„Himmel, Matthi! Willst du uns umbringen?" Matthis Hand löste sich von Raphaels Unterarm, er zuckte mit den Schultern. „Was kommt, das kommt. Aber keine Sorge, den Bus hätte sowieso niemand mehr überholen dürfen. Und der Bremsweg hat doch noch locker ausgereicht." Raphael atmete schnaubend aus, Matthi stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Freut mich, dass ich das testen konnte", murmelte Raphael und ließ sich von Matthi auf die Schulter klopfen.

„Entspann dich. Du hast ein langes Wochenende vor dir!" Raphael seufzte ein weiteres Mal, dann folgte er Matthi ins Haus. „Hereinspaziert hereinspaziert", verkündete er und stieß die Haustür auf, während Raphaels Bus in Richtung Zuhause hinter der Straßenecke verschwand.

Er blieb einen Moment lang auf der Türschwelle stehen, Matthis Schultern hoben und senkten sich. Noch nicht mal sein Atem war zu hören, nur das entfernte Rauschen der Autos. „Es ist komisch, wenn alle weg sind, normalerweise ist es hier nie so leise", bemerkte Matthi verwundert und ließ die Tür mit einem lauten Knall hinter Raphael ins Schloss fallen.

„Wo sind die Zwillinge und deine Eltern denn?", fragte Raphael und begann damit, sich die Schuhe auszuziehen. Matthi winkte ab. „Lass an", sagte er, machte eine wegwerfende Handbewegung und spazierte mit seinen pinken Flip Flops über den weißen Teppich zu seinen Füßen. „Meine Mutter ist mit Fredi und Matteo beim Fußball, mein Vater arbeitet noch." Er warf einen Blick auf sein Handy. „In etwa fünf Stunden wird er hier sein."

Raphael blickte ihn entsetzt an. „In fünf Stunden?" Matthi zuckte mit den Schultern. „Es herrscht ein chronischer Richtermangel. Die meisten sind uralt und gehen schon bald in Rente. In ein paar Jahren wird es noch schlimmer sein. Es gibt viel zu tun." Er biss sich auf die Unterlippe und sah über Raphaels Kopf hinweg. „Außerdem könnte man behaupten, er flüchte sich in die Arbeit."

Sie schwiegen einen Augenblick lang, Matthis Miene blieb unergründlich, bis er wieder sein überzeugendes Lächeln aufsetzte. „Und jetzt los nach oben, wir brauchen noch eine Badebuxe für dich." Raphael schüttelte den Kopf und murmelte leise „Badebuxe", vor sich hin, während er Matthi die Treppen nach oben folgte.

„Ich hab eine große Auswahl ein Badehosen, du wirst also eine finden, hoffe ich. Irgendwelche Lieblingsfarben, was das Handtuch anbelangt?" Raphael schüttelte den Kopf. „Einfach irgendeins. Passt schon." Matthi drückte ihm ein blaues in die Hand, tauschte es dann aber gegen ein anderes blaues ein. „Auf das erste hat Lissa mal drauf gekotzt. In unserem ersten und einzigen Kroatienurlaub." Raphael verzog das Gesicht.

„Fahrt ihr dieses Jahr weg?", fragte Raphael Matthis Hinterkopf. Er nickte und seine goldenen Locken wippten fröhlich auf und ab. „Nach Holland", antwortete er. „Oder wie der Erdkunde Leistungskurs in mir sagen würde: In die Niederlande." Raphael hätte beinahe sein Handtuch fallen gelassen. „Du hast Erdkunde LK? Das ist das furchtbarste Fach auf dem gesamten Stundenplan!" Als Matthi sich umdrehte, wirkte er beinahe etwas beleidigt.

„Dein Bus ist schon abgefahren. Ich würde vorsichtig sein, bei dem was du sagst", erwiderte er mit demselben Zwinkern, das Raphael schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. „Sonst kommst du heute nicht mehr nach Hause."

„Witzig", gab Raphael zurück und sammelte einen Fussel vom weichen Stoff des Handtuches. „Aber keine Sorge, Frau Niederbach würde mich bestimmt nochmal im Bett ihres Mannes schlafen lassen." Matthi sah sich zu ihm um und einen Augenblick lang blieb sein Gesicht unverändert. Erst als er merkte, dass Raphael es ernst meinte, prustete er los.

„Du hast im Bett von Frau Niederbachs Mann geschlafen? Nicht dein Ernst." Matthis Lachen hörte sich so an wie eine sterbende Robbe. Nicht, dass Raphael schon einmal eine sterbende Robbe begegnet wäre. „Ich hoffe für dich, dass das kein Doppelbett war." Er lachte noch lauter und jetzt konnte auch Raphael nicht anders, als mitzulachen. „Natürlich war es kein Doppelbett!" Raphael verpasste Matthi einen Stoß mit seinem Ellenbogen, er wich ihm aus und knallte gegen die geöffnete Schranktür.

Raphael entwich ein lauter Lacher und ohne das blaue Handtuch hätte er sich bestimmt erschrocken über seine plötzliche Lautstärke die Hand auf den Mund gepresst. „Das hast du jetzt davon", bemerkte Raphael zufrieden und bekam dafür Lissas Kotzhandtuch über den Kopf gezogen.

Matthi schloss die Schranktür und ging weiter in sein Zimmer. „Weißt du eigentlich, dass ich richtig sauer auf dich war, als Frau Niederbach sich die Hüfte gebrochen hat?", fragte er und zog wahllos etliche Schubladen auf. Raphael stutze und blieb stehen. „Sauer auf mich? Warum?" Matthi hielt inne, in der linken Hand hatte er eine rot gelb gestreifte Badehose. Raphael schüttelte schnell den Kopf, Matthi suchte weiter.

„Ich wohne jahrelang neben dieser grantigen alten Frau, helfe ihr dabei Einkäufe rein zu tragen und das einzige, was ich jemals dafür bekommen habe, ist Schokolade. Und dann darfst du bei ihr Rasen mähen und kassierst die Kohle." Raphael zuckte mit den Schultern. „Schokolade ist doch auch toll." Matthi verdrehte die Augen und zeigte ihm dann eine blaue Badehose. Raphael räusperte sich und zog dann die Stirn in Falten. „Ich glaub da ist ein Fleck." Matthi sah sich die Hose selbst an, dann warf er sie in einen überquellenden Korb neben der Tür. „Senf", bemerkte er nur und seufzte leise.

Dann verschwand Matthi wieder in seinem Kleiderschrank und streckte Raphael eine leuchtend rote Badehose entgegen. „Die ist sogar noch gefaltet, das bedeutet, sie war in der Wäsche und wurde noch kein einziges Mal angezogen", verkündete er triumphierend. Raphael kratzte sich am Hinterkopf. „Das bedeutet, hätte ich die rot-gelbe angezogen, wäre das nicht gesichert gewesen?" Matthi warf ihm einen vieldeutigen Blick zu und stopfte die Berge an Klamotten wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Nur die Badehose warf er Raphael zu.

„Leg Handtuch und Badehose einfach mit in meine Tasche, dann kannst du den Schulkram ganz im Auto lassen." Raphael nickte und packte seine Sachen in die geöffnete Sporttasche auf Matthis Schreibtisch. Er war sich immer noch nicht sicher, ob das Ganze nicht doch eine Schnapsidee war.

„Aber nochmal zur Schokolade", Matthi schloss den Reißverschluss der Tasche und zog sich den Riemen über die Schulter, „die war seit 2006 abgelaufen und hat so widerlich geschmeckt, dass noch nicht mal Fredi sie essen wollte."

Raphael verzog das Gesicht. „Hört sich ja lecker an." Matthi nickte bestätigend. „Allerdings. Die hat schon so einen samtig weißen Pelz bekommen." „Du meinst Schimmel", stellte Raphael nüchtern fest und folgte Matthi die Treppe herunter. Das Klatschen der Flip Flops war unnatürlich laut. „Da war Schimmel drum herum und du hast das deinen kleinen Bruder zu essen gegeben?", brachte Raphael es auf den Punkt und sah Matthi ungläubig an.

Er blieb am Ende der Treppe stehen. „Das war kein Schimmel", rechtfertigte Matthi sich halbherzig. „Ach wirklich nicht?" Raphael kam noch auf den Stufen zum Stehen, jetzt war es so, wie es meistens mit anderen Menschen war. Raphael sah auf sie herab, bemerkte, ob ihr Scheitel sauber gezogen war oder nicht. Ob sie ein Schuppenproblem hatten. Matthi jedenfalls hatte kein Schuppenproblem.

„Das war höchstens eine Vorstufe zum Schimmel. Und wenn du Geschwister hättest, würdest du ihnen wahrscheinlich noch viel Schlimmeres zum Essen geben als abgelaufene Schokolade." Raphael rümpfte die Nase. „Oder vielleicht doch nicht, ich vergaß mit wem ich hier spreche", verbesserte Matthi sich und grinste. „Ich wette, du hast früher noch nicht mal Feuerkäfer zerquetscht."

Raphael zuckte mit den Schultern. „Ertappt. Aber dafür hab ich Regenwürmer mit einem Spaten zerteilt." Matthi stutze. „Sag bloß du hast die auch über dem Lagerfeuer gegrillt und gegessen!" Raphaels Mund klappte auf. Eine quälend lange Sekunde verging, dann verdrehte Matthi die Augen. „Sollte es mir Angst machen, dass du mir geglaubt hast? Ich habe noch nie Regenwürmer gegessen. Auch keine gegrillten." Erleichtert stieß Raphael die Luft aus, die er angehalten hatte.

„Ich hab die jedenfalls nicht weiterverarbeitet, sondern nur geteilt. Ich dachte da würden so zwei draus." Matthi schüttelte amüsiert den Kopf. „Kein Wunder, dass Frau Niederbach dir die Obhut über ihren Rasen erteilt hat. Bist ja ein echter Experte, was Regenwürmer angeht." Raphael nickte. „Da stimme ich zu." Matthi fuhr sich mit der Hand durch die Haare, seine Locken legten sich noch unordentlicher übereinander.

Raphael kratzte sich am Hinterkopf. „Trotzdem meine ich mich daran zu erinnern, dass Frau Niederbach sich damals die Hüfte wegen dir gebrochen hat. War das nicht dein Baseballschläger über den sie gestolpert ist?"

Matthi verharrte in seinen Bewegungen, plötzlich war sein Gesicht viel zu nah dran an Raphaels eigenem. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, Matthi blinzelte. „Vielleicht hätte ich schon damals zu dem Entschluss kommen müssen, die Sache mit den Ballsportarten ein für alle Mal aufzugeben."

Raphael schluckte, dann drückte er sich seitlich an Matthi die Treppe herunter. Dann waren sie wieder gleich groß. „Du hast den Fußball dort liegen lassen", sagte Raphael und warf einen zögerlichen Blick in Richtung der Bushaltestelle. „Ja", bestätigte Matthi leise. Seine Stimme klang rauer, wenn er flüsterte. „Und warum?" Einen Moment lang blieb es still, Matthi packte den Riemen der Sporttasche fester. „Ich-" Er atmete aus, presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Es ist schwer in Worte zu fassen aber... Wenn der Ball dort liegt, dann-"Matthi klammerte sich an der Sporttasche fest. So krampfhaft, dass sich seine Fingerknöchel weiß färbten. „Er erinnert mich an Lissa und das Auto und ihren Tod. Wenn ich den Ball jeden Tag sehe, dann weiß ich, dass ich-" Er senkte seinen Kopf, bohrte seine Zehen in das weiche Gummi der Flip Flops.

„Dann weißt du, dass du nicht Schuld bist", beendete Raphael den Satz für ihn. Matthi sah auf. „Nein." Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Das ist falsch." Seine Finger verursachten ein schabendes Geräusch auf dem gewebten Stoff der Sporttasche. Die weißen Lettern eines Schriftzuges begannen schon abzublättern. Raphael konnte nicht erkennen, was dort einmal gestanden hatte. Matthi schwieg immer noch, dann trat ein anderer Ausdruck auf sein Gesicht. „Es ist meine Strafe, sonst vergesse ich, dass ich Schuld bin."

„Das ist verquer." Raphael runzelte die Stirn, hätte Matthi gerne eine Hand auf die Schulter gelegt, sein Kinn angehoben und gesagt, dass er falsch lag. „Das ist nett von dir, Raphael. Wirklich. Und ich weiß das zu schätzen." Matthi trat einen Schritt zurück, trotzdem konnte Raphael noch jeden seiner Atemzüge hören. „Aber ich brauche niemanden, der mir sagt, dass ich keine Schuld trage. Das mache ich von ganz alleine. Deshalb der Ball, deshalb der Schulwechsel, deshalb alles."

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