26 - Raphael
Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.
Zumindest behauptete das Möbius in Dürrenmatts „Die Physiker". Oder präziser ausgedrückt legte Dürrenmatt seine Gedanken über Gedanken Möbius in den Kopf. Sie waren schon eine merkwürdige Sache, diese Gedanken. Besonders, wenn man wusste, dass man einen Gedanken gehabt hatte.
Vielleicht hatte Dürrenmatt also Unrecht. Schließlich hatte Raphael den Gedanken schon einmal gedacht, bloß hatte sein Gehirn aus unerfindlichen Gründen beschlossen, ihn zu verbannen und lediglich eine blasse Erinnerung zu hinterlassen. Was weitaus quälender war. Wahrscheinlich. Denn so genau konnte man das nicht sagen, wenn man den Inhalt des Gedankens eben nicht mehr kannte. Aber vielleicht hatte Dürrenmatt auch einfach keinen Mirabellenschnaps getrunken, sich keine meterdicke Beule an der Stirn zugezogen und praktisch wildfremde Mädchen geküsst.
„Guten Morgen, Raphael."
Er ließ die Augen geschlossen, merkwürdig, wie real Träume einem vorkommen konnten. Oder war er schon seit längerem wach und hatte es bloß noch nicht bemerkt? „Raphael?" Er blinzelte, erkannte ein blondhaariges Mädchen im Türrahmen und knallte mit voller Wucht gegen sein Bücherregal.
„Na zum Glück hab ich dir sowieso schon eine Kopfschmerztablette mitgebracht." Celine kam näher und stellte ein Wasserglas auf seinem Nachttisch ab. Misstrauisch zog Raphael seine Bettdecke höher und stellte dabei fest, dass er es gestern Abend immerhin noch geschafft hatte, sich seine Schlafanzugshose anzuziehen. Nur für das Oberteil hatte die Motivation dann nicht mehr ausgereicht.
„Wie bist du hier rein gekommen?", fragte Raphael, seine Stimme war noch belegt und klang wie die eines heiseren Kindes. Er räusperte sich und rieb sich über die Augen. „Ich hab geklingelt und dann hat mich deine Mutter reingelassen. Sie sind schon weg in die Kirche." Raphael setzte sich schlaftrunken auf, seine Zunge fühlte sich fremd an in seinem Mund; wie ein kleines pelziges Tier. Der Kopfschmerz war auch schon vor dem Zusammenstoß mit dem Regal unbeschreiblich gewesen.
„Scheiße", murmelte er leise und beugte sich dann zu seinem Nachttisch hinunter. Scheiße, weil Celine so plötzlich aufgetaucht war, scheiße, weil seine Eltern sie gesehen hatten und scheiße, weil es ihm einfach scheiße ging. „Hier." Auf Celines ausgestreckter Hand lag eine kleine weiße Tablette. Raphael nahm sie entgegen und langte nach dem Wasserglas. Er musste sich dazu zwingen, das Aspirin herunter zu würgen, Tabletten hatte er noch nie gemocht. Raphael stöhnte leise auf und ließ sich zurück gegen die Wand sinken. Ihm war schlecht, irgendjemand hatte es gewagt, sein Fenster zu öffnen und die Rollladen hoch zu ziehen.
„Erster richtiger Kater?", fragte Celine amüsiert, räumte ein T-Shirt vom Schreibtischstuhl und setzte sich ihm gegenüber. Raphael griff nach der Mineralwasserflasche neben seinem Bett und leerte sie in wenigen Schlucken. „Nach dem heutigen Morgen kann ich behaupten, mir meinen ersten eingebildet zu haben."
Sie nickte wissend und ließ ihren Blick durch sein Zimmer gleiten. Die Schranktüren standen sperrangelweit offen und der Staubwedel, den Raphaels Mutter unter seinem stetigen Protest bei ihm lagerte, baumelte an der schon halb verdursteten Zimmerpflanze.„Ist gemütlich hier", bemerkte Celine und lächelte. Raphael murmelte etwas Zustimmendes und packte die Bettdecke noch ein wenig fester um seine angezogenen Beine.
„Ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber was genau machst du hier?"
Celine sah ihn einen Augenblick lang verdutzt an, dann zuckte sie mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich wusste nicht, ob ihr Kopfschmerztabletten dahabt. Außerdem hat Paul dich gestern ziemlich erwischt so wie es aussieht." „Du hattest ein schlechtes Gewissen?", konkretisierte Raphael und verzog keinen Moment später unwillkürlich das Gesicht.
Ihm war speiübel, sein Magen rebellierte, kroch seine Kehle hinauf und hinterließ einen brennenden Geschmack. „Was-", begann Celine, wusste angesichts seines bleichen Gesichts aber prompt Bescheid. „Oh, ist dir schlecht?", brachte sie hervor und sprang auf. „Sieht so aus", presste Raphael hervor und stolperte von seinem Bett in Richtung Badezimmer.
Sein Mageninhalt roch widerlich und generell fühlte er sich einfach widerlich. Da machte es die ganze Situation nicht besser, dass Celine glaubte, ihn verfolgen zu müssen. Raphael drückte die Klospülung, bevor sie ihm auch noch ins Badezimmer hinterherrannte. Zum Glück hatte er daran gedacht, die Tür hinter sich zu schließen. Es war lange her, seit dem er sich das letzte Mal übergeben hatte und wenn Raphael ehrlich war, hatte er es nicht vermisst. Langsam erhob er sich, aus dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken sah ihm sein müdes und zerquetschtes Gesicht entgegen.
Raphael fühlte sich wie ein blaugeschimmeltes Einhorn. Dort, wo der Türrahmen gegen seinen Kopf gedonnert war, hatte sich eine dicke bläuliche Beule gebildet, die sich aus seiner Schläfe geradezu herausbohrte. Außerdem waren seine Augenringe nicht mehr grau, sondern schon violett. Frau Dietrich würde sich freuen, wenn die Beule langsam verheilte, dann ergäben gelb und violett einen interessanten Komplementärkontrast in seinem Gesicht.
Raphael seufzte und beugte sich, den Schwindel gekonnt ignorierend, zum Wasserhahn herunter um sich den Mund auszuspülen. „Bist du dir sicher, dass das keine Gehirnerschütterung war, gestern?", erklang Celines Stimme aus dem Hintergrund und Raphael zuckte zusammen, als er sie im Spiegel entdeckte. Raphael seufzte leise, sich mit Celine zu unterhalten hatte gestern irgendwie besser funktioniert.
„Keine Ahnung. Vielleicht. Jedenfalls danke für die Tablette." Sie zuckte mit den Schultern. "Bringt jetzt nur nicht mehr so viel", bemerkte Celine und deutete in Richtung Toilette. "Mmh", machte Raphael und rümpfte die Nase. Es stank nach Mirabellen und Pizza. Nur in ekelhafter Form. Er griff über die Badewanne hinweg und öffnete das kleine Badezimmerfenster, dass eigentlich nicht geöffnet werden sollte, da sonst Sturms aus dem Nachbarhaus von ihrem Fernsehzimmer aus in ihr Bad schauen konnten. „Zu Hause hab ich noch Tabletten, also falls du möchtest..." Celine ließ den Satz unbeendet, aber Raphael schüttelte schnell den Kopf.
„Nimm es mir nicht böse, aber ich glaub ich leg mich jetzt einfach wieder ins Bett. Mir ist nicht so nach Aufstehen und Rumlaufen." Celine nickte verständnisvoll. „Natürlich, kann ich nachvollziehen. Wie gesagt, ich wollte nur kurz vorbeisehen, ob bei deinem Kopf alles klar ist." Raphael klopfte sich vorsichtig gegen die Schädeldecke. „Alles wunderbar", bestätigte er und plötzlich tat Celine ihm sogar ein wenig leid. Immerhin hatte sie sich um ihn gesorgt und war zu Fuß zu ihm gelaufen. Nicht wissend, ob ihr überhaupt jemand öffnen würde. Und jetzt warf er sie praktisch sang und klanglos einfach so wieder raus.
„Hör mal, Celine, tut mir wirklich leid, dass du jetzt bis hierher gegangen bist und ehm-" Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich könnte dir noch einen Tee machen oder so. Kaffee haben wir auch, aber unsere Kaffeemaschine ist komplizierter als meine Mathehausaufgaben, also wird das ein bisschen schwierig."
Sie zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, keine Ursache." Celine ging langsam in Richtung Treppe, Raphael folgte ihr, klaubte sich jedoch schnell noch ein T-Shirt aus dem Wäschekorb im Badezimmer und zog es sich über.
Celine war inzwischen wieder im Flur angelangt. „Allerdings würde es mich wirklich freuen, wenn wir mal etwas zusammen machen könnten." Raphael meinte zu sehen, wie sich ihre Wangen röteten, dann fiel ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Gestern waren ihre Haare vollkommen glatt gewesen, heute zeigten sich leichte Wellen. Celine räusperte sich leise und stellte sich auf Zehenspitzen, um ihre Jeansjacke von einem der oberen Garderobenhaken zu zerren.
Erst da bemerkte Raphael, dass er ihr noch keine Antwort gegeben hatte. „Ja, doch", beeilte er sich zu sagen. „Mich würde das auch freuen." Celine gab es auf, nach der Jacke zu langen, die Raphaels Mutter wahrscheinlich dort oben hin verfrachtet hatte. Stattdessen verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln.
Raphael erwiderte es kurz, dann griff er selbst nach ihrer Jacke und reichte sie ihr. „Schön", sagte Celine zum Abschied, von oben war das gedämpfte Klingeln eines Handys zu hören. Nach einer Weile hörte es auf. Siedend heiß fiel Raphael ein, dass er Matthi gar nicht mehr auf seine letzten Nachrichten geantwortet hatte. Unruhig biss er sich auf die Unterlippe und begleitete Celine noch bis zur Haustür.
"Soll ich dir meine Nummer aufschreiben?" Celine lächelte ihn an, Raphael griff nach seinem Handy, nur um dann festzustellen, dass er immer noch seinen Schlafanzug trug und das Klingeln von oben gekommen war. "Ja, klar. Gerne. Ich hol kurz einen Zettel." Er wandte sich zum Gehen, als Celine ihm ihr eigenes Handy entgegen hielt. "Du kannst auch einfach deine Nummer bei mir einspeichern, funktioniert genauso gut." Raphael nahm ihr Handy entgegen, überlegte kurz, wie er sich nennen sollte, bis er es schlussendlich einfach bei Raphael Lengsmann beließ. Celine schmunzelte, als sie es sah, sagte aber nichts.
Ein unangenehmer Moment der Stille trat ein, bis sie sich auf Zehenspitzen stellte und ihn flüchtig umarmte. „Bis dann", sagte Celine leise und als sie sich wieder von ihm löste streiften ihre Lippen seine Wange. Raphael konnte ihr sanftes Lächeln spüren, der Duft ihres Shampoos waberte in einer dichten Wolke um sie herum, durchmischt mit dem letzten Hauch des Parfums, das sie gestern Nacht getragen hatte. Raphael bemerkte das alles und plötzlich war der Gedanke wieder da.
Der Gedanke und die verschollene Erinnerung. An einen weiteren Kuss, einen besseren. Der ein prickelndes Gefühl auf seinen Lippen und gerötete Wangen hinterlassen hatte. Wärme, bis in die Zehenspitzen und ein flüchtiges Gefühl von Glück.
Raphaels Herz pochte schnell gegen seine Brust, dann war die Wärme schlagartig verschwunden, verdrängt von einem ohnmächtigen Gefühl der Angst. Normal. Er hatte Celine geküsst, aber das war nicht das Problem. Das Problem war der unwiderrufliche Gedanke; dass Raphael während er sie küsste, nicht an sie gedacht hatte.
Celine stand ihm gegenüber, sah Raphael abwartend an. Er zog die Haustür auf, krallte sich an der Klinke fest. „Bis dann", erwiderte er, seine Stimme klang brüchig. Raphael hob die linke Hand zu einem vagen Gruß, spürte wie die Übelkeit zurückkehrte und sein Magen sich krampfhaft zusammenzog. Celine lächelte, hinterließ den schwachen Duft ihrer selbst als sie sich umdrehte und ging. Raphael schloss die Tür hinter ihr und legte den Kopf in den Nacken. Gestern Abend hatte er sie genau an dieser Stelle geküsst. Die Augen geschlossen, um eine andere Person zu sehen.
Damit sich das silberne Glänzen ihrer Haare in einen goldenen Schimmer verwandelte, das Grün ihrer Augen in ein strahlendes blau und ihre Zerbrechlichkeit in Stärke und Geborgenheit.
Was einmal gedacht wurde, kann nicht wieder zurückgenommen werden. Dürrenmatt. Er hatte doch Recht gehabt, mit seinen Physikern. Und er, Raphael, wünschte sich, er hätte Matthi geküsst oder diesen Gedanken niemals gedacht.
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