23 - Rica

„Hi", sagte Raphael so leise, dass er zunächst dachte, niemand habe ihn gehört. Aber da hatte sich Celines Bruder auch schon zu ihm umgedreht. „Raphael, oder?", fragte er und selbst seine tiefe Stimme passte zu dem Stereotyp eines Models. „Jus? Ich glaube Marie war eben noch auf der Suche nach dir", sagte Celine an ihren Bruder gewandt.

Marie?" Fragend zog er eine Augenbraue hoch. So hoch, dass sie fast unter seinem Haaransatz verschwand und seine gesamte Stirn in Falten warf. „Ja, Marie", wiederholte Celine etwas nachdrücklicher und dieses Mal schien Justus ihre Aufforderung zu verstehen. Nach einer kurzen Abschiedsgeste war er verschwunden. „Das ist also dein Bruder", bemerkte Raphael äußerst geistreich und Celine nickte. „Ja", bestätigte sie knapp. „Das ist mein ach so toller Bruder."

„Sollte ich also froh sein, keine Geschwister zu haben?", sagte Raphael mit einem vorsichtigen Grinsen und Celine seufzte leise. „So würde ich das nicht unbedingt sagen, aber wenn alle dich nur auf Grund deines Bruders kennen, dann ist das auch nicht gerade das allerschönste." Celine verzog kurz ihr Gesicht, dann winkte sie ab.

„Also Jus Namen kannte ich bis gerade noch nicht", versuchte Raphael sie mit einer kleinen Halbwahrheit aufzumuntern. Den richtigen Namen ihres Bruders wusste er, lediglich seinen Spitznamen hatte er gerade zum ersten Mal gehört. „Aber deinen hab ich natürlich schon gewusst", beteuerte er mit einem schiefen Grinsen, das auch Celine ein Lächeln entlockte.

„Den kanntest du also?", wiederholte sie schmunzelnd. „Auf jeden Fall, ich hatte gerade eine Spülschicht zusammen mit Thomy. Da war das unvermeidlich", antwortete Raphael. „Thomy kennt also auch meinen Namen, gut zu wissen." Celine nippte an ihrem Glas, eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Dann glitt ihr Blick plötzlich an Raphael vorbei.

„Nicht umdrehen, bitte", sagte sie leise. Raphael runzelte fragend die Stirn. „Paul", antwortete sie ihm. „Paul? Das war-", überlegte er, bis ihm der breitgebaute Junge wieder einfiel, mit dem Celine schon letztes Jahr zur Kirmes gekommen war. Paul hatte ihr in diesem Jahr keinen Maibaum gestellt, daran meinte er sich noch zu erinnern. „Seid ihr noch zusammen?", fragte Raphael erstaunt, und noch im selben Moment ging ihm auf, dass die Frage nicht hätte stellen müssen.

„Nein." Celine lachte leise, aber sie wirkte angespannt und linste immer wieder zu ihm herüber. „Er hat es übertrieben", bemerkte sie und der Griff um das Bierglas in ihren Händen wurde fester. „Übertrieben? Was meinst du mit übertrieben?" Celine schien seine Frage nicht gehört zu haben, viel zu beschäftigt damit, den Kopf zu senken. „Siehst du meinen Bruder hier irgendwo?" „Nein, ich glaub nicht", antwortete Raphael schnell und reckte den Hals. Justus war nirgendwo zu sehen. „Oh, oh", sagte Celine und zog Raphael am Unterarm in die entgegengesetzte Richtung.

„Was ist denn mit ihm?" Celine drehte sich noch einmal um und erst, als Paul nicht mehr zu sehen war, entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder. „Er war ein bisschen besitzergreifend, um es vorsichtig auszudrücken." Raphael nickte langsam. „Und was, wenn man es nicht vorsichtig ausdrückt? Was war er dann?" Celine schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht weiter wichtig. Es ist vorbei, auch wenn er das nicht einsehen will."

„Thomy wird sich freuen", bemerkte Raphael mit einem Grinsen, Celine erwiderte es halbherzig. Sie schwiegen einen Augenblick lang, wippten zögerlich im Takt der Musik. „Kommst du gleich auch noch zu Scheurers?" Raphael biss sich auf die Unterlippe. „Nein, ich denke nicht. Eigentlich wollte ich direkt nach meiner Schicht schon wieder nach Hause. Kirmes ist nicht so mein Fall." Celine zog die Schultern hoch. „Du kannst es dir ja auch noch anders überlegen. Wenn du schon mal hier bist." Sie lächelte. „Außerdem werden die alteingesessenen Herren unsere Musik bald schon nicht mehr ertragen wollen, es dauert also nicht mehr lange." „Ja, vielleicht", erwiderte Raphael vage und entdeckte in der Menge hinter ihnen Pauls braunen Haarschopf.

„Celine, da ist er", warnte er sie leise und bemerkte noch im selben Augenblick, dass auch Paul sie entdeckt hatte. Hektisch drehte sie sich um, in ihrem Blick flackerte Panik auf. Unbehaglich wechselte Raphael vom einen Bein aufs andere. Was hatte er gemacht, dass sie nicht mehr mit ihm reden wollte? Und warum war er dann trotzdem hier?

„Raphael? Kannst du-" Er beugte sich zu ihr herunter, ihre Stimme war immer leise geworden. „Würdest du mir einen Gefallen tun?" Raphael nickte. „Klar, natürlich. Was-", begann er, aber da hatte sie ihn auch schon unterbrochen.

Celines Lippen berührten seinen Mund mit so einer Selbstverständlichkeit, dass Raphael perplex zurückstolperte. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, trotzdem war sie so klein und hatte vorher so ängstlich gewirkt, dass es Raphael Angst hatte, er könne er sie mit einer Bewegung zerbrechen.

Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Paul erstarrt stehen blieb. Paradoxerweise sah er genauso aus, wie Raphael sich fühlte. Schwer atmend löste sich Celine wieder von ihm. „Entschuldige", sagte sie leise, er war immer noch so überrascht, dass die Worte in seinem Kopf zu einem riesigen Klumpen zusammenschmolzen und ihn sprachlos machten. „Alles in Ordnung", brachte Raphael schließlich hervor und fragte sich gleichzeitig, ob es wirklich so war.

Falls man Küssen als einen Lippenkontakt zweier Menschen definierte, und dabei jegliche Art von Verwandten ausschloss, hatte er seinen ersten Kuss schon hinter sich. Dann war sein erster Kuss Lissa gewesen. Wenn man das jedoch ausklammerte, war sein zweiter erster Kuss auch nicht wirklich gefühlvoller gewesen.

Celine sah ihn abwartend an, ihre Hände lagen immer noch auf seinen Schultern. „Gibt schlimmere Gefallen", murmelte Raphael, dann beugte er sich wieder zu ihr herunter. Er spürte Celines Lächeln unter seinen Lippen und wie sich ihr schmaler Körper gegen seinen presste. Raphaels dritter erster Kuss schmeckte nach Lippenpflegestift, nach süßem Parfum und nach einem schlechten Gewissen.

„Raphael." Er hatte seine Augen geschlossen, wartete auf ein verräterisches Kribbeln, auf Adrenalin und Erregung. „Raphael!" Das war nicht Celines Stimme, wie denn auch, wenn sich ihre Lippen gerade unter seinen befanden. „Raphael! Erde an Raphael! Hallo!" Es war Ricas Stimme. Verlegen machte er einen Schritt zurück, Celines Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten. Raphael fragte sich, ob er ähnlich glücklich aussah. Rica tat es definitiv nicht.

„Tut mir wirklich leid, euch zu stören, aber hättest du gerade einen Moment?" Raphaels Blick ging wieder zurück zu Celine, sie sah sich ebenfalls um. Nach Paul wahrscheinlich. „Ehrlich gesagt, ist es gerade etwas schlecht", sagte Raphael vorsichtig und Ricas Augen blitzen gefährlich.

„Es ist wirklich dringend", wendete sie sich jetzt an Celine. Im Hintergrund hörte man, wie Thomy einen Großteil der Junggesellen in Richtung des Kellers der Scheuers dirigierte. Die Musik wurde ausgestellt und einen Augenblick lang war nur das beständige Reden der Leute zu hören. Dann setzte wieder die ursprüngliche Kirmesmusik ein.

Celines Blick flackerte immer noch nervös hin und her, bis plötzlich die Gestalt ihres Bruders zwischen den Bierbänken aufblitzte. „Raphael?", fragte Rica drängend, er sah abwartend zu Celine. „Ist schon in Ordnung, Jus ist da. Keine Sorge, Raphael", sagte sie schließlich und er nickte zögerlich. Celine strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. „Danke, nochmal", wisperte sie und verschwand mit einem letzten Lächeln in der Menge.

„Na herzlichen Glückwunsch. Das ging ja schnell", bemerkte Rica sarkastisch. Raphael zog die Schultern hoch, immer noch erstaunt über sich selbst. Obwohl es ihm immer noch so vorkam, als sei er in diesem ganzen Dilemma bloß ein Beteiligter und kein Verursacher. „Hat sich irgendwie so ergeben", sagte Raphael, Rica würdigte seinem Kommentar bloß ein verärgertes Schnauben. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Was ist denn los? Was musstest du mir so dringend sagen?"

„Ich muss dir mal dringend sagen, dass du damit aufhören musst!", fauchte sie so aufgebracht, dass Raphael zurückwich. „Aufhören? Warum? Das ist Schwachsinn, Rica", antwortete er ihr kopfschüttelnd, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Schwachsinnig wäre es, sich in ein Mädchen zu verlieben, dass nur an einem interessiert ist, weil man vor ein paar Wochen ein tragischer Held war." Ungläubig schüttelte Raphael den Kopf. „Tragischer Held? Also bitte. Das ist vollkommen aus der Luft gegriffen! Und davon mal ganz abgesehen, bin ich nicht dabei, mich in sie zu verlieben. Das ist absurd!" Rica fasste sich an den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir begreiflich machen soll, aber-"

Raphael presste die Lippen aufeinander, dann platzte es aus ihm heraus. „Mir was begreiflich machen, Rica? Dass so jemand wie Celine unter normalen Umständen niemals mit mir geredet hätte? Na vielen Dank auch."

Rica seufzte leise. „So war das nicht gemeint und das weißt du auch." „Du hättest das nie so drastisch formuliert, aber an sich war es genau das, was du sagen wolltest." Rica schwieg, unter ihrem linken Auge hatte sich ein wenig schwarze Mascara gesammelt. Raphael schwieg ebenfalls, er wollte nicht schon wieder derjenige sein, der den ersten Schritt machte.

„Warum hast du sie geküsst, Raphael?"

Er runzelte die Stirn. „Wie, warum habe ich sie geküsst?" Rica verdrehte die Augen. „Du musst die Frage nicht wiederholen, du hast sie schon verstanden." Raphaels Lippen kräuselten sich, er spürte, wie Wut in ihm aufkochte. „Was ist heute eigentlich mit dir los? Du bist total seltsam drauf, weißt du das eigentlich?"

„Ich bin seltsam drauf? Ich? Sag mir bitte nicht, dass das gerade dein Ernst ist", spottete Rica und sah ihn missbilligend an. „Wer benimmt sich denn heute so kindisch und unvernünftig und knutscht mit wildfremden Mädchen herum? Ich bin es ganz sicher nicht."

Vollkommen fassungslos verschlug es Raphael die Sprache. Rica war kaum wiederzuerkennen. Normalerweise war sie von einer Wolke aus Leichtigkeit umgeben, normalerweise fühlte sich Raphael wohl, wenn er sie um sich hatte. Aber jetzt, wie sie mit zusammengekniffenem Gesicht vor ihm stand, da wirkte sie ganz anders.

„Unvernünftig, von mir aus. Aber warum kindisch? Das ist unsinnig, Rica!" Sie atmete schnaubend aus und eine rosafarbene Haarsträhne, die sich schon langsam wieder blond färbte, fiel ihr in die Stirn. Mit einer unwirschen Bewegung strich sie sie sich zurück hinters Ohr. „Es ist einfach so offensichtlich, dass es mich krank macht. Kannst du dich nicht einfach mal normal benehmen?" Raphaels Bauch krampfte sich zusammen, er ballte seine Hände zu Fäusten.

„Das bedeutet, du darfst deinen Lukas haben, aber ich nicht? Das bedeutet du darfst verdammt nochmal küssen wen du willst aber ich nicht? Mach dich nicht lächerlich!" Bedauernd schüttelte Rica ihren Kopf, schenkte ihm einen mitleidigen Blick. Raphael schluckte, zog die Innensete seiner Wange zwischen die Zähne. Schmeckte Blut.

Es war genau diese Art von Blick, die ihm seine Eltern zuwarfen, wenn sie glaubten, er würde es nicht sehen. Wenn in der Grundschule seine Bilder ausgestellt worden waren, direkt neben den Lego-Kampfhubschraubern der anderen Jungen. Der Blick seines Vaters, als er ihm verkündete, Kunst anstatt Erdkunde im Leistungskurs zu wählen. Raphael schluckte wieder, dann blinzelte er. Er hasste diesen Blick.

„Hör auf damit", befahl er ihr leise. Rica stutzte, dann senkte sie ihren Kopf. „Entschuldige", murmelte sie leise, dann sah sie auf. „Ich wollte dir bloß sagen, dass... Dass wenn du Celine wegen mir geküsst hast, dass das dann unvernünftig und kindisch wäre. Verstehst du?"

„Verstehen? Nein, um ehrlich zu sein, verstehe ich es nich-" Ricas mitleidiger Blick ruhte wieder auf seinen Schultern. Es fühlte sich so an, als würde sie ihn damit zu Boden drücken und für immer im Erdreich versenken. Und plötzlich war die Wut wieder da. Die geballten Fäuste und die zusammengepressten Kiefer. So fest, dass es wehtat.

„Weißt du, was deine größte Schwäche ist?", fragte Raphael leise, konnte seine Stimme aber nur schwer unter Kontrolle halten. „Du denkst immer, du wärst der Mittelpunkt dieser Welt. Aber ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass das nicht so ist? Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen?" Raphaels Stimme wurde unwillkürlich immer lauter, aber es war ihm egal wer was hörte und wer nicht.

Ricas Mund öffnete sich leicht, dann schweig sie wieder. Er dagegen hatte lange noch nicht vor zu schweigen. „Raphael, ich hab die neue Strecke in nur soundso vielen Sekunden geschafft. Raphael, ich habe neue Trainingszeiten. Raphael, ich hab jetzt übrigens einen Freund. Raphael, weißt du wie toll Lukas ist? Raphael, Lukas kommt am Samstag. Rica hier, Rica da. Wie toll und beschäftigt du doch bist, herzlichen Glückwunsch!" Rica streckte die Hand aus, wollte sie ihm beruhigend auf die Schulter legen, aber er schüttelte sie ab. „Raphael, ich hoffe das mit Lukas ist kein Problem für dich. Raphael, sag mal stehst du auf mich? Raphael, stehst du wirklich nicht auf mich? Raphael, aber du musst auf mich stehen!"

Rica sah ihn entsetzt an, aber Raphael hatte den Punkt überschritten, an dem ihn das noch gekümmert hätte. „Nein, Rica. Nein, nein und nochmals nein. Warum muss Celine etwas mit dir zu tun haben? Warum musst du denken, allein die Anwesenheit deiner Person würde alles andere um dich herum erklären?" Nach Luft ringend atmete er ein. „Ich. Stehe. Nicht. Auf. Dich. Warum auch? Kannst du mir das mal erklären? Und vielleicht auch damit aufhören, mir das ständig vorzuhalten?"

„Raphael, ich-", begann Rica, aber er würgte sie ab. „Nein, es reicht!", stieß er aus. „Nicht jedes männliches Wesen in deinem Umkreis steht auf dich, sieh' das bitte ein!" Raphaels Stimme war inzwischen so laut geworden, dass sich die ersten zu ihnen umdrehten. Rica rückte unwillkürlich näher zum Ausgang.

„Wo ist dein Lukas überhaupt? Kommt der noch oder spinnst du dir die Geschichte aus Einsamkeit zusammen", höhnte Raphael und das enttäuschte Aufblitzen ihrer Augen entfachte die Wut in seinem Innern nur noch stärker. Es war, als befände sich etwas in ihm in einem riesigen Ungleichgewicht. Als würde etwas in ihm über den Rand einer Klippe ragen, kurz davor am Boden zu zersplittern.

„Lukas kommt noch", presste Rica hervor, ihre Stimme klang buttrig weich. Einen Augenblick lang verspürte Raphael Mitleid, durchmischt von Befriedigung und einer kranken Art von Stolz. „Er kommt nur nicht mehr hierher, er hat noch mit seinem Bruder... Er musste noch-" Sie blinzelte, Raphael fiel ihr ins Wort. „Gib dir keine Mühe, ich bin jetzt sowieso weg." Rica schluckte, sie trat aus dem Festzelt heraus ins Freie. „Weg nach Hause?", fragte sie leise und von dem Haus der Scheurers drang die laute Musik von eben zu ihnen herüber.

„Nein", erwiderte Raphael kalt. „Ich verabschiede mich noch von Celine."

Rica nickte knapp, dann presste sie ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Du bist ein Idiot, Raphael Lengsmann. Ich hoffe du weißt das."

Sie musterte ihn abweisend und auf einmal vermisste Raphael geradezu ihren tadelnden Blick. Jetzt war er ausdruckslos und leer, bloß in ihren Augenwinkeln hatte sich ein wenig Tränenflüssigkeit gesammelt. Die bunten Reflexe der Lichterketten spiegelten sich darin, Rica blinzelte. „Lass mich in Ruhe", flüsterte sie, dann drehte sich Rica um und ging.

Raphael ließ sich an einer Festzeltstange herunter sinken, sah dabei zu, wie ihre schlanke Silhouette im trüben Licht der Laternen immer blasser und blasser wurde und letztendlich am Ende der Straße verschwand.

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